Kommentar
Zertrümmerung des Völkerrechts

CDU-Chef Friedrich Merz will Israels Premierminister Benjamin Netanjahu trotz internationalen Haftbefehls einen Besuch in Deutschland ermöglichen. Damit würde sich ausgerechnet Deutschland an der Beschädigung des Völkerrechts beteiligen.

Ein Kommentar von Stephan Detjen |
Eine palästinensiche Familie geht zwischen Zelten vor zerstörten Häusern in Gaza-Stadt umher.
Lebensgrundlage zerstört: Eine palästinensiche Familie geht durch ein Zeltlager in Gaza-Stadt. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS / Abdel Kareem Hana)
Als der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts damit begann, sich mit dem Thema Völkermord zu beschäftigen, hatte er zunächst vor allem den Genozid an den Armeniern vor Augen. Lemkin verstand, dass es sich dabei nicht um ein einmaliges Verbrechen handelte. Völkermorde können sich wiederholen, sie haben eine Vorgeschichte, bahnen sich in einer Radikalisierung von Worten und Taten an. Wenn die Welt den Blick dafür nicht verschließt, können Genozide verhindert werden. Das ist die Lehre aus der Geschichte, die durch den Einsatz Lemkins 1948 in die Völkermord-Konvention der Vereinten Nationen einging.

Holocaustforscher sprechen von einem Genozid in Gaza

Heute sind es gerade auch jüdische Holocaust-Forscher wie Amos Goldberg, Omer Bartov, Raz Segal und Michael Rothberg, die mit Blick auf den Krieg in Gaza und das Vorgehen der israelischen Armee gegen die Palästinenser von einem Genozid sprechen. Sie tun das nicht leichtfertig. Aber sie sahen eines nach dem anderen der Kriterien für die frühe Erkennung von Genoziden als erfüllt an. Ob die juristische Bewertung des israelischen Vorgehens als Völkermord gilt, müssen am Ende Gerichte entscheiden. Klar aber ist: Eineinhalb Jahre nach dem Angriff der Hamas auf den Süden Israels lassen sich die Zerstörung von Lebensgrundlagen der Palästinenser, Vertreibungs- und Vernichtungsfantasien aus den israelischen Regierungsparteien, staatlich gedeckte Siedlergewalt in der Westbank, die Ansätze zu ethnischen Säuberungen weder allein mit den Traumata einer verwundeten Nation erklären noch als verhältnismäßige Selbstverteidigung legitimieren.
Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch belegen den Genozid-Vorwurf in ausführlichen Dokumentationen, der Internationale Gerichtshof erkennt plausible Gründe für den Vorwurf. Die Reaktionen hierzulande aber sind entweder verlegenes Schweigen oder wütende Antisemitismusvorwürfe. Es geht dabei längst auch darum, das Völkerrecht insgesamt zu delegitimieren sowie Personen und Institutionen zu diskreditieren, die für seine Geltung eintreten. Denn der Nahostkonflikt ist ebenso wie der Krieg in der Ukraine ein paradigmatischer Konflikt, in dem darüber entschieden wird, ob Regeln des Völkerrechts überhaupt noch Geltung haben oder sich in einer neuen Weltordnung nur die nackten Interessen der Stärkeren durchsetzen.

Rechtsbruch mit Ansage aus Berlin

Die Attacken auf das Völkerrecht haben in der zurückliegenden Woche eine neue Dimension erreicht – bei den Vereinten Nationen, aus dem Weißen Haus, in Jerusalem und auch in Berlin.
Dort beeilte sich Friedrich Merz noch in der Nacht seines Wahlsieges, dem israelischen Ministerpräsidenten zu versichern, er werde „Mittel und Wege“ finden, eine Vollstreckung des gegen Benjamin Netanjahu geltenden Haftbefehls des Internationalen Strafgerichtshofs auf deutschem Boden zu verhindern. Schon im Januar hatte Merz erklärt, der Haftbefehl sei rechtlich zwar korrekt, er werde ihn aber nicht akzeptieren. Völkerrechtler sprechen von einem „fatalen Signal“ und „Rechtsbruch mit Ansage“.
Merz entwertet mit seinen völkerrechtsfeindlichen Ankündigungen nicht zuletzt die Argumentation, mit der der Angriff Russlands auf die Ukraine seit drei Jahren als Verletzung des Völkerrechts verurteilt wird. Denn: Recht kann nicht selektiv gelten.
Auch bei den Vereinten Nationen aber schrumpft die Mehrheit der Staaten, die sich zur universellen Geltung des Völkerrechts bekennen. Im Weltsicherheitsrat stimmten die USA Anfang der vergangenen Woche erstmals gemeinsam mit Russland und China für eine Resolution, in der der Krieg in der Ukraine nicht mehr als völkerrechtswidrig verurteilt wurde. In der Generalversammlung hatten sich zuvor weniger Staaten als bei früheren Abstimmungen einer Verurteilung Russlands angeschlossen. Gegenstimmen kamen unter anderem von Russland, Belarus, Nordkorea, den USA und Israel. In Jerusalem verabschiedete die Knesset derweil ein Gesetz, mit dem Personen die Einreise verweigert wird, die sich öffentlich für eine Strafverfolgung von israelischen Amtsträgern wegen Völkerrechtverstößen aussprechen.

Auf welcher Seite steht Deutschland?

Donald Trump hat den Internationalen Strafgerichtshof zu einer Bedrohung der Nationalen Sicherheit der USA erklärt und Sanktionen sowie persönliche Konsequenzen für seine Unterstützer angeordnet.
Auf welcher Seite wird Deutschland unter neuer politischer Führung stehen? Die Achtung des Völkerrechts und seiner Institutionen ist die Voraussetzung dafür, weiterhin glaubwürdig für eine regelbasierte Ordnung der Welt einzutreten. Es wäre eine unheilvolle Wendung der Geschichte, wenn sich ausgerechnet Deutschland künftig an der Zertrümmerung des Völkerrechts beteiligte.