Michael Köhler: Passend zur Adventszeit werden wir jetzt ein Gespräch hören und führen über die Entwicklung der Menschenrechte. Nach Raketenstarts des Regimes in Pjöngjang, da drohen ja erneut politische Muskelspiele zwischen den USA und Nordkorea. Auch die deutsche Bundesregierung hat reagiert, diplomatische Einschränkungen angekündigt.
Wir erinnern uns: Letzte Woche hat sich auch der verurteilte General Slobodan Praljak, der der Ermordung muslimischer Bosnier für schuldig befunden wurde, seiner Strafe durch Selbsttötung entzogen. Er tat das vor den Augen des UN-Kriegsverbrechertribunals in Den Haag. Beide Ereignisse haben mit der Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun und eben auch Verstößen dagegen.
Ab morgen werden nämlich die Vertragsstaaten des Internationalen Strafgerichtshofs in New York darüber beraten, ob Angriffskriege strafbar sein sollen. Darum wird seit langem gerungen. Und die Diskussion um Aggressoren vor Gericht, sie gehört eben auch zur Geschichte der Entwicklung der Menschenrechte seit 1948.
Mit dabei in New York wird der renommierte Kölner Völkerrechtler Claus Kreß sein. Ihn habe ich gefragt, warum das ab morgen ein bedeutender Vorgang wird.
Claus Kreß: Es geht tatsächlich um eine Frage, über die die internationale Gemeinschaft jetzt ziemlich genau ein Jahrhundert nachgedacht hat, ob es einem internationalen Strafgericht, einem internationalen Strafgerichtshof möglich sein soll, Staatsführer, die Angriffskriege entfesseln, hierfür strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.
Ausweichen auf andere, konkretere Tatbestände
Die Frage kam auf nach dem Ersten Weltkrieg. Damals waren es die Engländer, die die Idee ins Spiel brachten. Dann die große Geburtsstunde, wenn Sie so wollen, in Nürnberg, der Nürnberger Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher. Da stand dieser Tatbestand, der Tatbestand des Angriffskriegs (früher wurde vom Verbrechen gegen den Frieden gesprochen) ganz im Vordergrund. Es ging den Amerikanern in Nürnberg im Kern darum, einen Präzedenzfall gegen den Angriffskrieg zu setzen.
Und dann ist das ganze Projekt ins Stocken, und zwar in ein ganz langes Stocken, gekommen. Man konnte sich politisch im Kalten Krieg über diese Frage nicht einigen. Und selbst als es dann in den 1990er-Jahren zu der großen Wiederbelebung der Idee des Völkerstrafrechts kam, blieb der Angriffskrieg zunächst, weil er politisch so sensibel war, außen vor. Neue Tatbestände, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, und zwar Bürgerkriegsverbrechen auch, standen jetzt ganz im Vordergrund.
Als der Internationale Strafgerichtshof 1998 gegründet wurde, der erste Internationale Strafgerichtshof, der auch auf die Zukunft gerichtet tätig sein soll, nicht mit Blick auf eine bestimmte Situation wie Jugoslawien, Ruanda, sondern als ständiger Strafgerichtshof tätig sein soll, auch da war es nicht möglich, sich über die Definition des Angriffskriegs oder, wie es heute heißt, das Verbrechen der Aggression zu einigen. Das ist dann etwas später zur Überraschung vieler 2010 in Kampala in Uganda gelungen.
"Es bedarf einer letzten Beschlussfassung"
Man hat aber auch dort noch das Gefühl gehabt, dass ist eine so wichtige Neuerung, dass ein ständiger Strafgerichtshof über diese Definition, diese Definition soll anwenden dürfen, hierüber urteilen soll. Wir brauchen jetzt noch ein Moratorium von sieben Jahren, um die Staatengemeinschaft an diese Neuerung zu gewöhnen. Diese sieben Jahre sind jetzt vorbei. Die Voraussetzungen dafür, dass der Internationale Strafgerichtshof tätig werden kann, sind jetzt gegeben. Aber es bedarf einer letzten Beschlussfassung über diese Frage, und darum geht es jetzt in New York.
Köhler: Sie waren als Mitglied der deutschen Delegation vor 20 Jahren 1998 schon dabei. Sie werden in der kommenden Woche in New York für fast zwei Wochen als wissenschaftlich beratendes Mitglied dabei sein. Sie haben zwei wichtige Dinge nebenbei gesagt. Sie haben gesagt, ob Staatsführer vor Gericht gezogen werden können, das heißt Subjekte, es wird an Subjekte adressiert. Und das Zweite: Fügt sich das ein in eine vielleicht jetzt glücklich endende Kette des Menschenrechtsdiskurses? Oder einfacher gesagt: Gibt es eine Linie vom Nürnberger Kriegsverbrechertribunal zu Den Haag, das jetzt darüber befindet, ob jetzt beim Strafgerichtshof Aggression geächtet werden kann oder nicht?
Kreß: Vielleicht zunächst zu Ihrer Frage nach den Subjekten. Das ist jetzt gar keine Besonderheit des Verbrechens des Angriffskriegs, sondern das ist die Kernidee des Völkerstrafrechts insgesamt, dass es hier eben nicht mehr nur darum geht zu sagen, ein bestimmter Staat hat das Völkerrecht verletzt. Das ist klassisches Völkerrecht, so wie es vom klassischen Internationalen Gerichtshof in Den Haag von jeher entschieden wird, festzustellen, Staaten haben gegen das Völkerrecht verstoßen.
Völkerstrafrecht: Individuen sind verantwortlich
Die Idee – und das war 1945 revolutionär – des Völkerstrafrechts ist, darüber hinauszugehen und zu sagen, die Individuen, die innerhalb des Staates dafür verantwortlich sind, dass es zu dieser Völkerrechtsverletzung gekommen ist, die werden auch individuell zur Verantwortung gezogen. Das ist im Hinblick auf Völkermord, Menschlichkeitsverbrechen, Kriegs- und Bürgerkriegsverbrechen inzwischen Praxis. Für den Angriffskrieg steht dieser Durchbruch noch aus. - Jetzt haben Sie nach den Menschenrechten gefragt.
Köhler: 1948 – allgemeine Erklärung der Menschenrechte auf der Generalversammlung der UN. Gibt es da eine Linie gewissermaßen, die sich jetzt fortsetzt?
Kreß: Was das Völkerstrafrecht und die Menschenrechte anbetrifft, insgesamt sicher. Da gibt es enge Verbindungslinien. Das Verhältnis zwischen Menschenrechten und speziell dem Angriffskrieg, das ist nicht ganz so einfach, gerade und harmonisch. Da gibt es auch Spannungen. Jedenfalls werden diese Spannungen empfunden, und das liegt daran, dass man den Straftatbestand gegen den Angriffskrieg anders als die anderen Völkerstraftaten mehr in der klassischen Perspektive des Schutzes staatlicher Souveränität sieht, während Völkermord, Menschlichkeitsverbrechen, da steht die Menschenrechtsidee ja unmittelbar im Vordergrund für alle einsichtig.
Insofern gibt es durchaus Beobachter, und zwar menschenrechtssensible Beobachter, die sagen, dieser Tatbestand gegen den Angriffskrieg, der 1945 sehr fortschrittlich klang, der kommt uns heute etwas anachronistisch vor, denn da steht doch dieser alte traditionelle Wert der staatlichen Souveränität im Vordergrund. Ich halte das allerdings für zu kurz gegriffen.
Rechtsstatus der humanitären Intervention ungeklärt
Köhler: Man hört schon raus, dass in dem Ganzen auch ein Problem liegt. Ich spitze mal zu: Was ist von den ganzen vielleicht ehrenwerten Anstrengungen zu halten, wenn einige der Weltmächte wie Russland, China oder USA nicht dabei sind? Jetzt kann man natürlich fragen, warum sind die nicht dabei. Sind die so blöd? – Nee, die haben Gründe, zum Beispiel den Grund, dass dann das, was man so humanitäre Intervention nennt, vielleicht selber strafbar sein könnte. Ist das eine von den großen Hürden?
Kreß: Die humanitäre Intervention, die Sie ansprechen, ist ganz gewiss ein zentraler Streitpunkt gewesen. In den Verhandlungen, was etwa die Position der Vereinigten Staaten von Amerika anbetrifft, ist es immer noch eine Sorge – die Sorge nämlich, dass Operationen, Militäroperationen, so wie sie – Sie werden sich erinnern – 1999 dann eben auch unter den Hospizien der NATO geführt worden sind, und zwar Militäroperationen, die im Extremfall, weil der Sicherheitsrat blockiert ist, dann auch ohne eine Sicherheitsratsautorisierung durchgeführt werden, um eklatante schwerste Menschenrechtsverletzungen zu beenden, dass solche Operationen ins Visier des Internationalen Strafgerichtshofs kommen könnten.
Das ist eine Sorge und ich finde, das ist eine Sorge, die man sehr ernst nehmen muss. Aber diese Sorge ist berücksichtigt worden in den Verhandlungen über die Definition. Die Definition stellt deshalb eben nicht pauschal die Verletzung des Gewaltverbots in jeder erdenklichen Form unter Strafe und insbesondere stellt die Definition nur solche Operationen unter Strafe, von denen gesagt werden kann, es gibt einen belastbaren Konsens unter Völkerrechtsexperten, dass die Völkerrechtswidrigkeit kristallklar ist. Das ist eine Feststellung, die man aufgrund der Entwicklung der letzten 20 Jahre im Hinblick auf eine humanitäre Intervention in ganz eng begrenzten Extremfällen nicht mehr treffen kann.
Deutsches Recht stellt Angriffskrieg bereits unter Strafe
Die humanitäre Intervention ist völkerrechtlich problematisch. Daran gibt es kein Vertun. Aber sie ist inzwischen in eine Grauzone geraten, weil es immer wieder Situationen gegeben hat, in denen Staaten aus nachvollziehbaren Gründen in extremster Bedrohungssituation für ganze Bevölkerungsgruppen geglaubt haben, handeln zu müssen, auch wenn der Sicherheitsrat blockiert war. Und die Reaktion der internationalen Staatengemeinschaft auf solche Operationen war dann auch nicht einheitlich verurteilend, sondern sie war differenzierter, in vielen Fällen geradezu duldend.
Köhler: Würde man die Regierung Schröder-Fischer nachträglich vor Gericht ziehen können wegen ihres Verhaltens oder Handelns?
Kreß: Man hat das ja damals schon versucht. Es gab ja eine Strafanzeige, die der Generalbundesanwalt zu beantworten hatte. Da gab es noch keinen völkerrechtlichen Straftatbestand, aber es gibt ja in Deutschland, wie Sie vielleicht wissen, im Strafgesetzbuch seit langem schon einen Straftatbestand gegen den Angriffskrieg, da ja unsere Verfassung – das ist eine Besonderheit – die Beteiligung an Angriffskriegen oder an der Vorbereitung von Angriffskriegen unter Strafe stellt, beziehungsweise die Verfassung den Auftrag gibt, im Strafgesetzbuch eine solche Vorschrift vorzusehen. Insofern gab es diese Diskussion schon.
Der Generalbundesanwalt hat damals aus meiner Sicht sehr zurecht genau die Entscheidung getroffen, die sich jetzt auch in der Definition wiederfindet. Er hat nämlich gesagt, das mag problematisch gewesen sein, das hat er gar nicht bestritten, aber es ist nicht ein Fall derartiger Eindeutigkeit einer Völkerrechtsverletzung, weil es diese Kontroverse um die humanitäre Intervention gibt, dass das Urteil, hier ist strafbar gehandelt worden, gerechtfertigt wäre.
An der Formel "offenkundige Verletzungen" wird es hängen
Und ich bin fest davon überzeugt, in einer solchen Extremsituation – wir wollen nicht hoffen, dass sie eintritt in der Zukunft, aber denkbar ist das natürlich – würde der Internationale Strafgerichtshof nicht anders entscheiden, denn in der Definition heißt es ausdrücklich, nur offenkundige Verletzungen der Satzung der Vereinten Nationen sollen erfasst sein. Und dieses Wort "offenkundig", ein einziges Wort, aber ein Wort, dessen Bedeutung nicht überschätzt werden kann, daran wird es hängen.
Köhler: Wie schätzen Sie die Lage ein? Ich bin nicht ganz im Bilde, es gibt ungefähr 120, ein paar mehr Vertragsstaaten. Ungefähr 30 oder ein paar mehr haben sich, glaube ich, schon dafür ausgesprochen. Wird da ein Kapitel Menschenrechtsgeschichte, ein Kapitel Völkerrechtsgeschichte nächste Woche geschrieben in New York? Was denken Sie?
Kreß: Denkbar ist das und ich hoffe sehr stark, dass es dazu kommt. Aber es ist nicht gewiss. Es gibt zum jetzigen Zeitpunkt immer noch letzte offene Fragen. Es ist auch sicherlich nicht auszuschließen, dass es noch einen Rest von Skepsis bei einigen der beteiligten Staaten geben wird. Ich glaube, es werden ganz, ganz spannende Verhandlungen, und vielleicht wird es so sein wie in Kampala, dass am Ende die Uhr angehalten werden muss, die Konferenzuhr, um in letzter Sekunde zu einem Kompromiss zu kommen. Ich glaube, dass ein solcher Kompromiss möglich ist, wenn wirklich alle konstruktiv in diese Richtung arbeiten. Aber garantiert ist der Erfolg nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.