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Völkerrechtsverstoß in Nordsyrien
„Das Weltgewissen muss sich erheben“

Die Militäroffensive in Nordsyrien ist nach Ansicht des Völkerrechtlers Claus Kreß ein Verstoß gegen das Gewaltverbot. Das Selbstverteidigungsrecht der Türkei sei nicht ausreichend begründet, sagte er im Dlf. Den Bündnispartnern warf er zudem Versäumnisse vor.

Claus Kreß im Gespräch mit Michael Köhler |
Völkerrechtler Claus Kreß als "amicus curiae" vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag
Professor Claus Kreß war im September 2018 als „amicus curiae“ vor dem Internationalen Strafgerichtshof (International Criminal Court)
Russland und die Türkei haben beim Treffen von Sotschi "neue Realitäten" geschaffen. So drückte es Außenminister Maas in Ankara aus. Für den Kölner Völkerrechtsprofessor Claus Kreß ist die Militäroperation in Nordsyrien ein Fall von Völkerrechtsverletzung.
"Es handelt sich um einen Bruch des Völkerrechts. Ich kenne keinen ernstzunehmenden Völkerrechtler, der das auf der Grundlage der von der Türkei selbst vorgetragenen Tatsachen bisher anders gesehen hätte."
Trotz Feuerpause sind zahllose Menschen auf der Flucht. Es wird von ca. 180.000 Vertriebenen und Flüchtlingen gesprochen. Beobachter nehmen das Wort "ethnischen Säuberung" in den Mund.
Missbrauch des Selbstverteidigungsrechts
Kreß ist auch Direktor des Instituts für Friedenssicherungsrecht und Internationales Völkerrecht. Er sagte: "Die Türkei hat in ihrem offiziellen Rechtfertigungsbrief an die Vereinten Nationen das Selbstverteidigungsrecht geltend gemacht. Dieses Selbstverteidigungsrecht gibt es. Das wird in der Charta der Vereinten Nationen anerkannt. Es setzt das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs voraus. Dieser bewaffnete Angriff ist im Normalfall der eines anderen Staates. Nach einer umstrittenen, aber vertretbaren Auffassung kann es allerdings auch ein Selbstverteidigungsrecht geben, in Fällen massiver grenzüberschreitender nicht-staatlicher, bewaffneter Angriffe. Nur, in ihrem Brief hat die Türkei nicht ansatzweise deutlich gemacht, dass ein solcher massiver nicht-staatlicher, bewaffneter Angriff von den kurdischen Milizen, um die es ja geht, stattgefunden hätte."
Auf die Frage, ob es sich um eine Berufung auf vorbeugende Selbstverteidigung handelt, antwortete der Jurist: "Das vorbeugende Selbstverteidigungsrecht ist im Völkerrecht per se umstritten". Und weiter: "Kurzum, das Selbstverteidigungsrecht ist von der Türkei geltend gemacht worden, aber in einer krass missbräuchlichen Form."
Der Internationale Strafgerichtshof sollte ermitteln
"Es ist gegen das Gewaltverbot verstoßen worden, eine fundamentale Norm der Völkerrechtsordnung. Der Internationale Gerichtshof bezeichnet diese Norm als einen Eckpfeiler der Völkerrechtsordnung. Und es ist massiv gegen das Gewaltverbot verstoßen worden. Dieser Verstoß gegen das Gewaltverbot erreicht in seiner Schwere, seinem Ausmaß nach, die Intensität einer Aggression. Und das ist dann noch einmal eine Stufe gravierender."
Ist das nicht eine "Aggression", ein eindeutiger Fall für den Internationalen Strafgerichtshof?
"Es besteht ein ganz gravierender Verdacht, dass der Staatspräsident persönlich durch seine Anordnung dieses Gewalteinsatzes und durch die Durchführung desselben, den Tatbestand des Verbrechens der Aggression verwirklicht hat".
Es liege nun in den Händen des Sicherheitsrates, den Internationalen Strafgerichtshof in Stand zu setzen, Ermittlungen wegen des Verdachts des Verbrechens der Aggression gegen Erdogan einzuleiten, erklärte Kreß.
Westliche Versäumnisse
Er kritisierte zudem, dass der Westen, die westlichen Staaten, der Türkei zu wenig die Vereinbarkeit von Militäroperation und Völkerrecht abgefordert hätten.
Der Einsatz wurde tagelang angekündigt. "Dies wäre nach meiner festen Überzeugung der Moment gewesen insbesondere für die NATO-Partner, für die Bündnis-Partner der Türkei, laut und deutlich zu sagen, wenn Sie einen Gewalteinsatz im hellen Licht der Weltöffentlichkeit planen und ankündigen, dann erklären sie uns bitte hieb- und stichfest, inwiefern dieser Gewalteinsatz mit dem Völkerrecht in Einklang stehen könnte." Das hätte den türkischen Präsidenten nicht zwingend von seinem Handeln abgebracht, aber die Hemmschwelle erhöht und die "Prinzipien deutlich gemacht, für die dieses Bündnis steht."
Rechtfertigungszwang erhöhen
Das Völkerrecht und die Völkerrechtsentwicklung sind geschichtlich-kulturelle Erzeugnisse auf dem Boden der Gewalterfahrung des 20. Jahrhunderts. Kreß betonte, wie wichtig die öffentliche Meinung in dieser Sache ist: "Die Völkerrechtsdurchsetzung hat immer schon, gerade weil es im Völkerrecht den klassischen Gerichtsvollzieher des nationalen Rechts nicht gibt, von der öffentlichen Meinung gelebt. Es ist das Weltgewissen, wie man sagt, das in vielen Bereichen der Entwicklung des Menschenrechtsschutzes dazu beigetragen hat und die Entwicklung vorangetrieben hat."
Deshalb forderte er: "Das ist so ein Moment, wo sich das Weltgewissen erheben muss."
Mit Blick auf die Verbündeten und Deutschland sagte er: "Die Bundesregierung war zu lange, nach meiner Überzeugung, in völkerrechtlicher Hinsicht leise."
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.