Der Alte Johannisfriedhof ist schattig, ruhig und menschenleer. Moosbewachsene Grabsteine und riesige Baumkronen zeugen von seinem hohen Alter. Weil seit 1883 hier keine Verstorbenen beerdigt werden, gilt er als denkmalgeschützte, museale Parkanlage.
Wie der Alte Johannisfriedhof vor 200 Jahren aussah, ist heute kaum vorstellbar: Hier wurden nicht nur Tausende von Toten zu Grabe getragen, sondern der Friedhof diente darüber hinaus auch als Lazarett für Kriegsverletzte und letztlich als reiche Fundgrube für Plünderer...
"Ich möchte damals nicht gelebt haben, also man kann es sich nicht nachvollziehen und beschreiben. Man weiß nur, es war furchtbar... Tja, das waren die hohen Herren, die Krieg gespielt haben..."
Ursula Drechsel pflegt mit ihrem Mann ein besonderes Hobby: Sie besucht gerne Friedhöfe und studiert die Grabsteininschriften. Das rüstige Rentnerpaar bleibt auf dem Leipziger Friedhof vor Grassis Obelisken stehen und schaut andächtig das Grab von Wagners Schwester und Mutter an. Es weiß auch, wo die Grabstätte von Goethes Jugendliebe Käthchen Schönkopf liegt.
Hans Drechsel ist sogar mit einer Person verwandt, die hier unter der Erde liegt:
"Ich bin ziemlich stolz, weil die Geschichte auch mit geprägt wurde durch diesen Mann..."
Johann Daniel Ahlemann heißt er und war hier während der Völkerschlacht Totengräber. Er hat fünf Generationen vor Hans Drechsel gelebt und ist somit dessen Ur-ur-ur-Großvater. Er lebte von 1765 bis 1832. Wie kamen die Drechsels dahinter, dass sie mit diesem frühen Vorfahren tatsächlich verwandt sind?
"Wir haben zu den Geburtstagen immer darüber gesprochen, aber nur an der Oberfläche, tiefgründig nicht. Und da hat sich dann meine Frau, als sie in Rente war, dran gemacht, in den Archiven nachzustöbern und zu erforschen: Wer war den eigentlich der Totengräber in der Familie. Und da ist sie auch auf die Aufzeichnungen gestoßen, die im Alten Rathaus im Archiv vorhanden sind und hat diese transkribiert, also übersetzt. Und hat da Lehrgänge mitgemacht auf der Volkshochschule, um die Originalsprache Deutsch, die alte Sprache, zu erfassen."
Der Leipziger Totengräber in der Völkerschlacht und seine Erlebnisse
Aus dem Interesse an der privaten Familiengeschichte entwickelte sich bei dem älteren Ehepaar ein Großprojekt, das sie auch im Ruhestand auf Trab hält:
"Wir haben einen Bücherschrank voller Leipziger Literatur. Und in dem Buch ‚Leipzigs langes Leben’, erschienen 1982, wurde über den Ahlemann geschrieben. Und unter "Leipzigs Leid" standen dann diese Texte. Da hab ich mich in die Spur gesetzt und gesagt: "Wo haben sie das her?" Familiengeschichtlich wissen wir’s. Aber dieses Tagebuch – es wurde immer von einem Tagebuch gesprochen – geben sollte, konnten wir nicht mehr eruieren. Und da sagt er: ‚Na dann gehen Sie ins Rathaus und holen Sie sich das Ding.’ Ich bin hin, habe mich angemeldet und sagte, Sie haben diese und diese Schrift. Die heißt: ‚Der Leipziger Totengräber in der Völkerschlacht, seine Erlebnisse bei der Erstürmung in Leipzig am 19. Oktober 1813 und die Gräuel auf dem Gottesacker überhaupt. Nach einer hinterlassenen, authentischen Handschrift.’"
Eine authentische Handschrift aus dem Jahr 1813 – sollte man bei solchen alten Zeugnissen skeptisch wegen Fälschung sein? Der Kulturhistoriker Helmut Birner aus Leipzig hält den Verdacht für unnötig:
"Das waren doch nur ganz kleine Episoden gewesen und keine Hitler-Tagebücher, die man zum Beispiel fälscht, sondern diese original erhaltenen Dinge sind schon Raritäten erstens für die Familien und zweitens für die Stadtgeschichte. Denn es sind authentische Überbleibsel aus dieser Zeit vor 200 Jahren. Das ist schon sehr sehr interessant."
Und wie hat man als Laie die Gewissheit, dass man der Originalität glauben kann?
"Wenn das ein altes Buch ist, eine alte Schrift und wenn es sich anfassen lässt und Sie merken, das ist kein Neudruck oder eine Nachbildung aus den letzten Jahren, dann ist es schon authentisch."
Diese historischen Dokumente ziehen Ursula Drechsel, die nicht etwa Historikerin, sondern gelernte Ingenieurökonomin ist, in ihren Bann. Sie forscht unerschöpflich in den alten Büchern. Dabei findet sie ein Indiz nach dem anderen.
"Damals war er dann Totengräber, vorher Perückenmacher, aber wie gesagt, da muss ich noch...Ich muss das noch mal im Archiv angucken, ich hoffe, dass sie dieses Buch haben... Das würde ich mir noch mal durchblättern, denn da findet man sicher auch noch Einiges... Ja, das sind so Sachen, da steh ich hier und sage, schick mir das ganz schnell, das brauch ich dringend, hat er gemacht... und jetzt steh ich da wie Piksieben... na gut (lacht)."
Die Aktenordner stapeln sich in Drechsels Sammlung bereits meterhoch. Obwohl die Völkerschlacht für ein grässliches Kriegskapitel in der Weltgeschichte steht, entdecken die Nachkommen des Totengräbers in seinen sogenannten „Leichenbüchern“ zahlreiche Hinweise auf Nebenschauplätze und auf damalige Begebenheiten. Denn Johann Daniel Ahlemann pflegte die Gewohnheit, am Ende eines Jahres in das Leichenbuch einen Vers einzutragen, der einen Rückblick auf das vergangene Jahr beinhaltete.
"Er hatte über den Geburtstag von Gellert zum Beispiel geschrieben, der 100. Geburtstag war das, wie der Gottesacker geschmückt worden ist. Dann war der König Friedrich August, da hat er etwas über sein 50. Thronjubiläum und zu seinem 50-jährigen Ehejubiläum etwas eingetragen. Die Johanniskirche, da war 1821 ein Blitz eingeschlagen, da war der Turm ausgebrannt, da hat er also die ganze Geschichte aufgeschrieben, hat ein Riesengedicht verfasst. Das sind also alles so dolle Sachen, die er gemacht hat..."
Ursula und Hans Drechsel sind überzeugt, dass ihr Vorfahre ein vielgeachteter Mensch war. Sein Beruf war nicht etwa vergleichbar mit dem eines Henkers, Nachtwächters oder eines Abdeckers:
"Es wird gesagt, der Totengräber war kein angesehener Beruf unter der Bevölkerung. Der Ahlemann muss aber ein besonderer Mann gewesen sein, weil er ja noch Armenpfleger in seinen letzten Jahren war. Und das bedeutet doch, dass er nicht ein verruchter Mensch war..."
Und: Neben der Arbeit als Totengräber sei Johann Daniel Ahlemann ein zuverlässiger Statistiker und sogar ein begnadeter Poet gewesen, finden Ursula und Hans Drechsel. Besonders gefällt ihnen der Eintrag im Leichenbuch von 1822:
"Dieses Jahr war von Anfang bis Ende meistens kummervoll, im neuen: Vater! Reich die Hände, mir, wie als Christ ich wandeln soll..."
"Hier zum Beispiel: ‚Schon wieder ist ein Jahr verflossen und noch ist Gottes Güte neu, und lässt uns dieser ferne Garten, dass er stets unser Vater sei.’"
Napoleon verlor die entscheidende Schlacht in Leipzig
Mit einem Federhalter führte der Leipziger Totengräber Johann Daniel Ahlemann die Leichenbücher – seine verbundene Handschrift ist regelmäßig und fein säuberlich. Dass die Bücher ihm wichtig waren, zeigt auch sein todesmutiger Rettungseinsatz während der Völkerschlacht: Er gelang ihm, die Leichenbücher aus seinem lichterloh brennenden Haus zu bergen. Gewissenhaft setzte er sogar während des Krieges seine Notizen fort:
"Was eben auch das Erstaunliche ist, dass er ab 1810, seit er Totengräber war, immer einen Spruch eingetragen hat, jedes Jahr. Da habe ich jedes Leichenbuch durchgeforstet, und in jedem steht am Ende eine Notiz. Ende 1810 im ersten Buch: (Vers). Ende 1812: (Vers). Und dann ging ja 1813 der Krieg los."
Die Kriegstruppen erreichten im Oktober 1813 die Stadt Leipzig: Napoleon verlor die entscheidende Schlacht und riss Zigtausende von Menschen in den Tod.
Das Panometer von Yadegar Asisi präsentiert anschaulich das Kriegsgeschehen und die Ereignisse in Leipzig um 1813. Eine Leinwand von fast 3.500 Quadratmetern zeigt die Stadt nach Ende der Völkerschlacht als 360°-Panorama. Die Geräuschekulisse und Begleitmusik stammt aus der Feder des Belgiers Eric Babak.
Die Leipziger Bevölkerung musste Nahrung, Schlafplätze, Viehfutter, medizinische Versorgung und etwa 120'000 Gräber während des Krieges aufbringen. Für den Totengräber eine besonders große Herausforderung:
"Es war sehr schlimm, wo hier 1813 zu Zeiten der Völkerschlacht, Ahlemann die Toten bestatten musste. Damals langte die Kapazität nicht und sie wurden in die Gruften hineingeschmissen."
Die zuverlässig geführte Statistik des Totengräbers dokumentiert, dass ein Jahr vor Kriegsanfang 1.339 Tote bestattet wurden. 1813, im Jahr der Völkerschlacht, waren es genau 6.382. Danach stabilisierte sich die Zahl wieder allmählich, wobei noch viele Menschen Krankheiten und Seuchen zum Opfer fielen.
"Die Gräber sind ja überall. Und das Schlimme ist, dass rund um Leipzig auf den Schlachtfeldern die Leute – na ich sag mal: verscharrt worden sind. Sie hatten keine Zeit, auf Friedhöfen rumzugehen und die unterzukriegen."
Was heißt das für das heutige Leben in und um die Stadt Leipzig?
"Viele wissen’s gar nicht, dass der Alte Johannisfriedhof... Vor allem junge Leute nicht, woher sollen sie’s wissen, wenn’s nicht dransteht, kann man ihnen gar nicht verübeln, wenn’s nicht dransteht. Dann gibt es diesen schönen Rodelberg im Friedenspark, ich sage: ‚Rodelt ihr dort?’ – ‚Ja klar, das ist ein herrlicher Rodelberg!’ Ich sage: ‚Da will ich dir deine Illusion nehmen: Das sind alles Grabsteine, auf denen ihr rodelt.’ Die ist richtig erschrocken und sagte‚ dann kann ich sie gar nicht mehr dort rodeln lassen.’ Ich sagte: ‚Ja, von mir aus kannst du sie hier rodeln lassen.’"
Der Totengräber von Leipzig beerdigt am 1. August 1832
Nach Ansicht von Ursula und Hans Drechsel fehlt eine öffentliche Würdigung für die vielen Todesopfer, die anonym irgendwo ihre letzte Ruhe gefunden haben.
Dazu gehört auch Drechsels Ur-ur-ur-Großvater Johann Daniel Ahlemann, der Totengräber von Leipzig. Aber immerhin hat sein Nachfolger eine Notiz im Leichenbuch vermerkt:
"Johann Daniel Ahlemann, Totengräber, 1832: liegt begraben, dicht an der Mauer mit dem Haupte an Nr. 58 in einem Doppelgrabe, beerdigt am 1. August 1832... Ging also auch schnell: Am 29. Juli gestorben und am 1. August schon bestattet."