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Völkerwanderung
Die Gene der Barbaren

Wenig ist wirklich bekannt über die Gruppen von Menschen die zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert durch Europa, Asien und Afrika zogen. Wer waren sie? Und was trieb sie an? Was wir über sie wissen und erzählen, beruht auf einer recht dünnen Quellenlage. DNA-Analysen könnten einige ihrer Geheimnisse verraten.

Von Vera Pache |
Eine Wissenschaftlerin entnimmt Knochenproben aus einem Schädel um die aDNA zu untersuchen.
Aus archäologischen Knochenfunden läßt sich DNA isolieren, die einiges über das Leben der Menschen früher verrät. (IMAGO / science photo library)
In den alten Knochen unserer Vorfahren steckt ein Schatz, der noch nicht gehoben ist: Die Gene der Barbaren. Historiker sind skeptisch, inwiefern diese Daten der Geschichtswissenschaft dienen können. Allerdings gibt es ein großes Projekt, bei dem Archäogenetiker, Historikerinnen und Archäologen zusammenarbeiten. Knochen aus Gräbern in Ungarn und Norditalien werden dabei untersucht. Die Analyse alter DNA soll Rückschlüsse erlauben über den Verwandtschaftsgrad der Toten oder ihren Fleischkonsum. Wer hatte Zugang zu Proteinen und wer nicht? Solche Informationen sind durchaus auch für Historiker interessant.
Der Althistoriker Mischa Meier meint: "Die meisten werden zu Fuß unterwegs gewesen sein. Man hat Wägen dabei gehabt. Das wissen wir vor allem von den Goten. Da gibt's ein paar Hinweise darauf, auf die gotischen Wagenburgen etwa, die dann zur Verteidigung gebaut worden sind. Also das ist sehr diffus."
Und haben Sie sich auf Straßen bewegt? Zum Teil auf römischen Straßen, keltischen Straßen?
Meier: "Also man hat das römische Straßensystem benutzt. Das ist klar. Das wird bei den Langobarden ganz ähnlich gewesen sein. Und ein Teil der Krieger wird sicher auch beritten gewesen sein. Und nebenher wird man natürlich Vieh dann auch mit getrieben haben. Das brauchte man auch schon zur Ernährung."
Wer wie Althistoriker Mischa Meier in die Geschichte der Völkerwanderungen eintaucht, hat erschwerte Bedingungen. Die Quellenlage ist dünn. Trotzdem kann sich jede und jeder etwas darunter vorstellen.
"Das kennt man auch aus Historienfilmen oder aus Romanen und zum Teil auch aus Comics und Computerspiel. Das sind eben diese wandernden Tracks, die irgendwann mal aus dem hohen Norden aufgebrochen sind und dann Jahrhunderte später an den römischen Grenzen erscheinen und dann im Römischen Reich für Chaos und für die Auflösung des Reiches sorgen."
Aber wie war es wirklich?
Ein kolorierter Stich zeigt die künstlerische Darstellung der Plünderung Roms im Jahr 410.
Comic, Film und Historienmalerei: die Plünderung Roms durch die Barbaren liefert seit Jahrtausenden Stoff für Kunst und Literatur (imago images / Leemage)
Wer wanderte in der Völkerwanderung?
An der Universität Tübingen – in einem Gebäude aus den 50er Jahren mit Flachdach und dünnen Wänden – lehrt und forscht Mischa Meier. Er ist Professor für Alte Geschichte und spezialisiert auf die Spätantike, auf den Übergang von der Antike ins Mittelalter.
Meier hat ein Buch über die Geschichte der Völkerwanderungszeit geschrieben. Die ersten Probleme tauchen schon beim Begriff auf: Völkerwanderung.
"Das basiert eben auf sehr problematischen Vorannahmen. Eben zum einen auf einem Volksbegriff, der aus dem 19. Jahrhundert stammt oder aus der Zeit nach der Französischen Revolution und eben sehr stark romantische Züge trägt. Und Völker als handelnde Einheiten konzipiert, praktisch als Kollektiv-Subjekte mit kollektiven Eigenschaften und einer homogenen kollektiven Geschichte."
Mischa Meier - „Geschichte der Völkerwanderung"
Wer zog wann von wo nach wo, wer marodierte, siegte, räumte das Feld? Der Tübinger Historiker Mischa Meier untersucht die Geschichte der Völkerwanderung. Er verortet sie zeitlich und räumlich neu.
Vieles wissen wir einfach nicht genau über diese Zeit zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert. Der Begriff "Volk" führt da in die Irre. Und dann auch noch "Wanderung".
"Der Terminus Wanderung, der suggeriert, dass es vor und nach der Völkerwanderung keine Migrations-Phänomene gegeben hat, was aber einfach nicht zutrifft."
Den Begriff Völkerwanderung gibt es so nur im Deutschen. Franzosen oder Italiener kennen die Epoche als "Invasion der Barbaren" – das zeigt: alles eine Frage der Perspektive. Und es schließt sich die Frage an: Wer genau waren denn diese Barbaren? Oder sollten wir lieber sagen: die Germanen?
"Ich spreche jedenfalls bewusst nicht von Germanen, weil ich eben glaube, dass es sowas wie eine gemeine germanische Identität – zumindest in der Spätantike nicht gegeben hat. Jedenfalls können wir das nicht nachweisen. Dafür spreche ich dann pauschal häufig von Barbaren, weil das ein Terminus ist, den man besser erklären kann und dessen Wortverwendung man besser erklären kann, weil das ein Terminus ist, der ursprünglich mal relativ wertneutral gewesen ist und weil er einfach offener ist."

Barbaren oder "die Anderen"

Barbaros ist griechisch. Ursprünglich meinten die Griechen damit diejenigen, die keine Griechen sind, beziehungsweise nicht griechisch sprechen.
"Also im Grunde einfach nur ein Begriff für "die Anderen". Und zunächst mal ist das ein wertneutraler Begriff gewesen Barbaroi einfach "diejenigen, die nicht wir sind"."
Im Laufe der Zeit wird der Begriff negativ aufgeladen - und ins Lateinische übernommen.
"Und ist dann bei den Römern zunächst einmal einfach in der Kaiserzeit jedenfalls der Begriff für all diejenigen, die nicht dem Römischen Reich angehören und die außerhalb leben. Das Problem an dem Ganzen ist, dass schon in der griechischen Antike man angefangen hat, Stereotypen sehr stark zu bilden, wie ein Barbar aussieht, wie er sich verhält, wo er anzusiedeln ist und so weiter. Diese Stereotypen sind sehr früh schon in die Historiographie eingegangen."
Das heißt, wenn der Historiker heute antike Texte liest, in denen von den Barbaren die Rede ist, dann muss er davon ausgehen, dass sich hier ein Autor an den bekannten Stereotypen der Barbaren abarbeitet: Schilderungen von wilden Menschen, mit zotteligen Haaren, Bärten und Narben im Gesicht. Gefürchtet wegen ihrer Kriegskunst.
Germanen im Wald bei einer rituellen Opferung.
Althistoriker Meier im Dlf - „Die Germanen sind ein Mythos“
Der Tübinger Althistoriker Mischa Meier hat für einen neuen Volksbegriff geworben. Die Wissenschaft gehe schon länger nicht mehr davon aus, dass Völker unveränderliche Einheiten seien, sagte Meier im Dlf.
Den Begriff "Germanen" findet Mischa Meier aber noch schwieriger. Weil er ganz unterschiedlich ausgelegt werden kann. Er könnte sich auf ein Gebiet beziehen oder auf alle, die eine germanische Sprache sprechen. Oft werde aber auch von einer "Germanischen Identität" gesprochen.
"Das ist eigentlich so das, was sich meistens implizit durchsetzt und das ist gleichzeitig das Problematischste, weil man zum einen gar nicht weiß, ob es eine gemein-germanische Identität in der Antike gegeben hat. Die paar Zeugnisse, die wir haben, sprechen eher dagegen. Und das andere ist, dass die Art und Weise, wie die Römer die Germanen kategorisiert haben, eine sehr schematische gewesen ist. Das fängt im Grunde mit Caesar an, der einfach gesagt hat: Alles, was Rechtsrheinisch ist, ist germanisch und alles, was Linksrheinisch ist, ist gälisch, also keltisch. Das sind Bemühungen gewesen, in der Antike, das weite Barbaricum jenseits der römischen Grenzen irgendwie zu sortieren, zu kategorisieren, die Leute, die da wohnen. Aber es ist natürlich sehr pauschal und muss nicht unbedingt etwas damit zu tun haben, wie die Verhältnisse tatsächlich ausgesehen haben."
Schematische Darstellung der Völkerwanderung in Europa
Schematische Darstellung der Völkerwanderung in Europa (Novarte / CC BY-SA 4.0 via Wikimedia Commons )

Die Quellenlage ist dünn

Wie die Menschen - die von den Römern als Barbaren oder als Germanen bezeichnet wurden - sich selbst genannt haben, das wissen wir nicht. Sie haben uns nichts Schriftliches hinterlassen.
Wer sich mit der Völkerwanderungszeit beschäftigt, wird nicht nur von Barbaren oder Germanen hören. Im Laufe der Zeit wird die Beschreibung der Anderen etwas differenzierter: Hunnen, Goten, Gepiden, Franken, Sachsen, Awaren oder Langobarden. Die Langobarden zum Beispiel erobern im Jahr 568 Norditalien.
"Wir wissen, dass die sehr kriegerisch strukturiert gewesen sind. Wir wissen auch, dass sie sehr viele Kriege geführt haben gegen ihre Nachbarn, gegen die Gepiden zum Beispiel. Wir wissen, dass sie dann in Konflikt mit den Awaren geraten sind, dass sie sich mit den Awaren geeinigt haben…"
Das alles geschieht in Pannonien - einem Gebiet, das heute zu Ungarn gehört. Die kriegerischen Langobarden bleiben eine Weile und ziehen dann weiter ins heutige Norditalien.
Althistoriker Meier sagt: "Aber was wir so gut wie gar nicht wissen aus dieser Zeit ist, wie die organisiert gewesen sind, wie die Strukturen ausgesehen haben. Wir wissen, dass es einen König gegeben hat, ein Königtum, aber viel mehr ist nicht da."
Wissen wir denn, mit wie vielen Menschen die aus Pannonien in Richtung Norditalien gezogen sind?
"Auch da können wir kaum was sagen. Es müssen mehrere Tausend gewesen sein. Das ist schon klar. Aber wie hoch die Zahl gewesen ist, wissen wir nicht. Das ist generell ein Problem mit den Wanderzügen in der Spätantike, dass wir entweder überhaupt keine Zahlenangaben haben oder wenn, dann sind die maßlos übertrieben oder sind an biblischen Modellen orientiert"
Die Probleme, die in Bezug auf die sogenannte Völkerwanderung immer wieder auftreten, sind bis heute nicht gelöst: Texte, in denen die Langobarden auftauchen stammen von den Römern. Neben Schriftquellen gibt es nur wenige archäologische Funde.
Wer waren also diese Menschen? Warum sind sie weggezogen? Wie waren sie organisiert?
Neue Hinweise in alter DNA
Große Fragen, die sich möglicherweise nie beantworten lassen. Vielleicht aber auch doch. Zumindest in Teilen.
Denn es gibt eine noch recht junge Disziplin in den Naturwissenschaften: Genetic History oder auch Archäogenetik.
"Gerade sowas wie die Völkerwanderungszeit ist halt sehr spannend, weil wir sehr wenig schriftliche Quellen haben. Und da ist es natürlich wichtig, dass man jede Quelle, die man anzapfen kann, auch verwendet. Und gerade wenn es um Herkunft geht, um Migration und Mobilität. Wer hat sich von wo nach wo bewegt? Welche Gruppe war mobil?"
Johannes Krause ist Direktor am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig und spezialisiert darauf, alte DNA - kurz: aDNA - zu entziffern. Um zum Beispiel mehr über Menschen herauszufinden, die vor langer Zeit gelebt haben. "Und da ist es wirklich für mich so ein bisschen wie so eine Art neue Bibliothek, die man gefunden hat, weil wir verstehen, wie man sie liest, die DNA."
Einer der ersten Historiker, der erkannt hat, dass diese aDNA-Analyse für seine Forschung interessant sein könnte, ist der US-Amerikaner Patrick Geary: "Ich bin emeritierter Professor am Institut for Advanced Study in Princeton, das ist ein eigenständiges Privat Forschungsinstitut in dieser kleinen Stadt in New Jersey. Dort war Albert Einstein unser erster Professor."
Patrick Geary beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem frühen Mittelalter. Mit der Zeit der Völkerwanderung und vor allem auch mit den Legenden dieser sogenannten Völker, die oft für den Gründungsmythos europäischer Nationen herbeizitiert werden.
"Und seit ich begonnen habe, mein Buch "Frühe Völker" zu schreiben, wollte ich Quellen finden, die ein tieferes Verständnis von sozialer Organisation, Migration, Mustern und so weiter erlaubten, als es mit schriftlichen und archäologischen Daten möglich ist. Aber damals steckte genetische Erforschung der Vergangenheit noch in den Kinderschuhen."
Das war Anfang der 2000er.
Wissenschaftlerin schaut sich DNA-Ergebnisse auf einem Streifen an (Symbolbild)
DNA-Analysen - ein Werkzeug der Biologie, das auch zur Erforschung der Vergangenheit nützlich sein kann (imago / Science Photo Library / )

Schulterschluß von Genetik und Geschichte

Als die Archäogenetik einige Jahre später an Fahrt gewinnt und Erfolge für die Frühgeschichte verbucht, ist er einer der ersten, der sich mit einer kleinen fachübergreifenden Gruppe trifft. Sie stellen sich die Frage:
"Wie kann man zusammenarbeiten? Ob es möglich ist, die verschiedenen Methoden der Genetik der verschiedenen Methoden historischer Forschung – kann man theoretisch was zusammen machen?"
Das interdisziplinäre Team entwickelt schließlich ein Pilotprojekt. Ziel soll es sein, mehr über das zu erfahren, was Geschichtsbücher als "Langobardische Migration" beschreiben. Also den Zug der Langobarden ins heutige West-Ungarn und später dann weiter nach Italien.
"Wir wählten diese, weil es die am besten dokumentierte barbarische Migration und Eroberung war."

Die Langobarden, ein archäologischer Glücksfall

"Das Problem ist, auch dann, wenn wir Wanderungen nachweisen können, dann können wir relativ wenig darüber sagen, ob das homogene Gruppen gewesen sind, die da unterwegs gewesen sind, oder ob da auf dem Weg nicht noch andere dazugestoßen sind oder die sich gespalten haben.
Das ist wieder der Althistoriker Mischa Meier.
"Also kurz gesagt ob diejenigen, die an einem Ort A losmarschiert sind und an einem Ort B angekommen sind, dann auch wirklich eine identische homogene Gruppe konstituiert haben."
Für die Geschichtswissenschaft gilt die Wanderung der Langobarden zwischen Ungarn und Italien als eine Besonderheit.
"Gerade im schriftlichen Material ist völlig klar. Man kann genau sagen, wann die losmarschiert sind und wann die angekommen sind in Italien. Und das wird eben durch die archäologischen Befunde bestätigt."
Bei den archäologischen Funden handelt es sich um Gräber und um die Art, wie die Toten bestattet wurden - mit Perlen oder Waffen zum Beispiel. Die Gräber werden den Langobarden zugeordnet. Diese Bestattungspraktik verschwindet dann wieder in Ungarn und lässt sich etwas später in Norditalien nachweisen.
"Und deswegen hat man immer gesagt: Die Langobarden sind eigentlich ein Glücksfall, weil sich das archäologische und das literarische Material gegenseitig bestätigt."
Die Gruppe um Patrick Geary wählt nun dieses Beispiel, weil es erstens Knochenfunde gibt - also genetisches Material. Und zweitens erzählen sowohl schriftliche als auch archäologische Quellen: Hier hat es eine Wanderbewegung gegeben.
Szólád ist einer der Orte, an denen Gräber aus der Langobardenzeit gefunden wurden. Es liegt im heutigen Ungarn, in der Nähe des Balaton, also des Plattensees. Etwa 1000 km entfernt, in Collegno bei Turin wurden Gräber mit ähnlichen Grabbeigaben entdeckt. Richtige Friedhöfe sind da heute nicht mehr zu erkennen, erklärt Patrick Geary.
"Man findet solche Friedhöfe normalerweise rein zufällig. Man baut an einer Autobahn oder erneuert eine Straße usw. und dann fängt man an, Gräber zu finden. Dann hält man das Projekt an und erforscht."
Die Ausgrabungen sind nicht Teil des Projekts, sondern haben schon viel früher stattgefunden. Aber die Forschenden um Patrick Geary entnehmen nun Proben von den Knochen und Zähnen. Von 39 Toten aus Gräbern in Szólád und von 24 Toten aus den Gräbern in Collegno.
Ein menschlicher Schädel, der auf einem ehemaligen Klostergelände in Lorsch gefunden wurde.
Auch nach tausenden von Jahren können DNA-Fragemente aus Knochen isoliert werden (dpa)

Altes Erbgut isoliert aus archäologischen Funden

"Manchmal bekommen wir eine Kiste voller Knochen, manchmal sind das ganze Schädel, manchmal sind es auch nur kleine Fragmente aus denen wir die DNA heraus gewinnen und ein Loch hineinbohren und Knochen-Puder gewinnen."
Auch der Archäogenetiker Johannes Krause ist an dem Projekt beteiligt. Er soll die alte DNA analysieren. "In dem Fall von dem Projekt, was Sie erwähnen, mit Patrick Geary war es tatsächlich so, dass wir sogar die DNA schon aufbereitet bekommen haben für den nächsten Schritt, für die Anreicherung der DNA, die Entschlüsselung."
Archäogenetiker aus Florenz haben vorher die DNA entnommen und aufbereitet. Johannes Krause erklärt: Ein bestimmter Knochen im Innenohr eignet sich besonders gut für die aDNA-Analyse. Das Felsenbein.
"Es klingt schon nach einem sehr kompakten Knochen, ist tatsächlich auch der dichteste Knochen im menschlichen Körper. Und in diesem Knochen hat sich die DNA besonders gut erhalten. Also wenn wir den analysieren, bekommen wir aus den letzten 2000, 3000 Jahren aus Mitteleuropa aus jedem Skelett eigentlich auch genügend DNA raus, um den gesamten Bauplan, also das gesamte Genom zu entschlüsseln."
Schale mit Bodenmedaillon mit Darstel- lung eines Kampfes zweier Krieger. 
Gene und Geschichte - Es gibt keine nationale DNA
Droht eine heimliche Rückkehr der Rassenlehre? Das befürchten manche Historiker angesichts des Siegeszuges der "Genetic History". DNA sei nicht mit Identität gleichzusetzen, warnen sie. Schon gar nicht mit nationaler.
Krause oder Kolleginnen bohren ein Loch ins Felsenbein und entnehmen Knochenpuder. Der Puder wird aufgelöst und die DNA isoliert. Meist ist sie beschädigt, hat Lücken oder ist zerbrochen.
"Es hat sich chemisch verändert und das wird dann molekular-biologisch so aufbereitet, dass zum Teil beispielsweise Brüche in der DNA repariert werden, dass die DNA, dass die Enden quasi repariert werden, so dass sie gleichmäßig sind."
Allerdings ist die alte DNA auch verunreinigt. "Dann ist ein Großteil von der DNA gar nicht von der Person selbst, sondern aus dem Boden, nämlich von Bodenbakterien. Und das heißt, häufig müssen wir dann noch die DNA heraus fischen, die wirklich menschlich ist. Und dafür gibt es sowas, das nennt sich zielgerichtete Anreicherung. Das heißt, man nutzt die Fähigkeit aus, dass DNA, wenn sie ähnlich ist, aneinander bindet wie so zwei Magneten. Und wir angeln dann quasi mit Hilfe von Köder-DNA die DNA heraus aus dieser Suppe von DNA, die quasi menschlich ist und die für uns interessant ist."
Genetisches Knochen-Orakel
Zunächst hat Johannes Krause also nur spärliche DNA-Reste, die geflickt wurden. Maschinen können das DNA-Material vervielfältigen und später dann analysieren. Informationen, die Johannes Krause sucht, sind zum Beispiel das Geschlecht der Toten, Hinweise auf das ungefähre Alter, die Augenfarbe, Haarfarbe oder die Pigmentierung der Haut.
Die Genome von verschiedenen Individuen lassen sich auch vergleichen: Sind die Personen miteinander verwandt? Und wenn sie nicht miteinander verwandt sind, haben sie vielleicht trotzdem Merkmale, die für eine gemeinsame Herkunft sprechen?
Bei der Analyse der Skelette aus Szólád und Collegno wenden die Forschenden noch eine andere Technik an. Die Strontium-Isotopen-Analyse.
"Je nachdem, wo man lebt auf der Welt, welches Wasser man trinkt, welche Nahrung zu sich nimmt, nimmt man aus dem quasi Grundgestein der Region ein bestimmtes Verhältnis dieser Isotopen auf."
Die Strontium-Isotope speichert der Körper in Knochen und Zähnen. Auch hier lässt sich über Vergleich dann wieder feststellen: Kommen Personen einer Gruppe aus derselben Region oder haben sie unterschiedliche Herkunftsorte. All diese Untersuchungen werden an den Skeletten aus Szólád und Collegno vorgenommen.
Germanen Langobardischer Schmuck. Europe,
Grabbeigaben geben einen Hinweis auf die soziale Stellung des Verstorbenen (IMAGO / United Archives)

Ein Grabfeld, zwei kulturelle Gruppen

Die Resultate sind überraschend, sagt der Historiker Patrick Geary: "Ich muss ehrlich sagen, dass am Anfang glaubte ich nicht, dass wir solche klare Trennung zwischen genetischen Gruppen, die eine Korrelation mit kulturellen Gegenständen dann finden wird. Und ich war wirklich ein bisschen erstaunt, muss ich sagen."
"Also wenn wir uns jetzt zum Beispiel Szólád anschauen, das ist das Gräberfeld in der Nähe vom Balaton, wo es eine ganze Reihe von Individuen gab, die dort analysiert wurden, dann haben wir innerhalb dieser Gruppe von Individuen zwei genetische Cluster identifizieren können."
Die Menschen, die hier an einem Ort bestattet sind, haben nicht die gleiche Herkunft. Die Wissenschaftler ordnen sie einem nördlichen und einem südlichen Typ zu.
"Warum nördlich und südlich? Weil sie - im Vergleich zu heutigen Menschen, die heute in Europa leben - der nördliche Cluster Menschen aus Skandinavien quasi näher stand oder aus dem nördlichen Europa. Und der südliche Cluster eher Menschen ähnlich war, die heute auf dem Balkan oder in Südosteuropa zu finden sind."
Heißt: Die Menschen des nördlichen Typs stammen ursprünglich nicht aus der Gegend, in der sie bestattet wurden.
"Vor wie vielen Jahren die jetzt eingewandert sind, kann man nicht genau sagen. Wir haben aber zumindest gesehen wenn man das mit den Strontiumisotopen vergleicht, dass die jungen Individuuen, die Kinder, die lokale Signaturen hatten, wohingegen einige der älteren Individuuen durchaus nicht-lokale Signaturen hatten."
Die aDNA-Analyse bestätigt also, was auch schriftliche und archäologische Quellen erzählen: Es hat hier eine Wanderung gegeben. Eine Gruppe aus dem Norden ist - über einen längeren Zeitraum - nach Süden gezogen. Erst nach West-Ungarn und später dann nach Norditalien.

Der Friedhof als Spiegel der Gesellschaft

"Was aber viel interessanter ist, sind die Befunde, die sie dort auf lokaler Ebene machen." Auch der Althistoriker Mischa Meier kennt die Untersuchung von Patrick Geary und Johannes Krause.
Friedhöfe sind so etwas wie ein - wenn auch unvollständiges - Abbild einer Gesellschaft. Grabbeigaben oder auch die Anordnung der Gräber geben Anhaltspunkte darüber, wie die Gesellschaft organisiert war, als die Menschen noch lebten.
"Das ist insofern interessant, weil das die Bereiche sind, über die wir sehr wenig anderes Material haben. Die großen historiographischen Werke der Antike, die schildern natürlich nicht das Leben in Collegno oder so etwas und auch andere Quellen nicht."
Die Gräber mit Toten des nördlichen Typs mit den Waffen und Schmuck liegen nebeneinander. Getrennt von den Gräbern des südlichen Typs. "Da hat man sozusagen sicherlich auch - obwohl die wahrscheinlich zusammengelebt haben - irgendwo eine kulturelle Barriere gehabt, also gesagt wir bestatten unsere Toten dort und ihr bestattet eure Toten da drüben."
Die nördliche Gruppe weist außerdem einen höheren Protein-Anteil auf. Vermutlich haben sie mehr Fleisch gegessen als die Menschen der anderen Gruppe. "Das bedeutet normalerweise eine höhere Ebene in der Gesellschaft. Das ist wohl wahrscheinlich dann, dass es eine Art von Lokal-Elite im Vergleich mit anderen gab."
Auch die Verwandtschaftsanalyse fördert bisher Unbekanntes zu Tage: Innerhalb der Gruppe des nördlichen Typs finden die Wissenschaftler zum Beispiel Väter und Söhne - aber keine Töchter
"Es ist nicht ungewöhnlich, dass wir - in der Vorgeschichte und Frühgeschichte sehr häufig - dass wir quasi mobile Frauen haben. Das heißt, dass die Männer häufig bei der Gruppe bleiben oder beim Hof bleiben, in der Siedlung bleiben und dass die Frauen häufig die Siedlung verlassen und dann vielleicht über so genannte Heiratsnetzwerke nennt man das Ganze dann vielleicht woanders einheiraten."

Genetik weiß nichts über kulturelle Identität

Warum sind die Völker zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert gewandert? Auf diese große Frage kann die alte DNA keine Antworten liefern.
Aber die archäogenetische Untersuchung der Gräber in Szólád und Collegno zeigt, dass die aDNA-Analyse durchaus neue, spannende Details beisteuern kann.
Das Projekt zeigt auch noch etwas anderes: wo mögliche Stolperfallen der Archäogenetik liegen. In schriftlichen Quellen ist von der "Wanderung der Langobarden" die Rede. In der Studie von Patrick Geary und seinen Kollegen wird jedoch an keiner Stelle behauptet, sie hätten DNA von Langobarden untersucht. Und zwar aus gutem Grund.
"Ethnische Labels sind im Wesentlichen kulturell, nicht biologisch. Natürlich können wir nicht sagen, dass irgendeine der Personen, die in Szólád oder Collegno begraben werden, sich selbst als Langobarden betrachteten oder von anderen als solche angesehen werden. Wir haben nicht Langobarden erforscht, weil das ist ein kulturelles Etikett. Das hat nichts mit Genetik zu tun. Und wir können auch nicht mit Sicherheit sagen, dass diejenigen mit einem südlichen genetischen Profil nicht in gewissem Sinn Langobarden waren."
"Die zentrale Schlussfolgerung, die die Autoren ziehen, ist ja die, dass das Paradigma einer langobardischen Wanderung durch die Ergebnisse der genetischen Untersuchungen nicht widerlegt wird. Genau das drücken sie extra so vorsichtig aus. Weil bei diesem Projekt mit Patrick Geary ein Historiker dabei ist, der weiß, wie problematisch diese ganzen Zuschreibungen auch sind. Und deswegen diese, ja diese doppelte Verneinung im Grunde, die da in diesem Fazit drin steht, dass man das nicht ausschließen kann."
Modell eines DNA-Moleküls
"Die DNA ist kein harmloses Material" (imago/Westend61)
Geschichte und Genetik, eine Mischung die Verantwortung mit sich bringt
"Die DNA ist kein harmloses Material und wir haben auch eine Verantwortung, sozusagen damit richtig umzugehen."
Jörg Feuchter ist Mittelalter-Historiker an der Akademie der Wissenschaften in Berlin.
"Wir haben gute Beispiele von Leuten, deren Großvater Römer war, deren Vater sich als Hunne bezeichnete und deren Enkel sich dann wieder als Römer gesehen haben. Und offensichtlich zu Recht, also nicht etwa im Sinne einer freien Erfindung, sondern kulturelle Zuordnungen, ethnische Zuordnungen sind nicht durch DNA feststellbar."
Genetik gehört zu den Naturwissenschaften, Geschichte zu den Geisteswissenschaften. Die Forschenden einer Disziplin wissen meist nur wenig über die Herangehensweise der anderen.
Patrick Geary verweist darauf, dass es schon mal Versuche gegeben hat, archäologische, historische und biologische Daten zusammen zu bringen. Und diese Versuche mündeten in der sogenannten Rassenlehre der Nationalsozialisten.
"Wenn Genetiker sich der komplexen Geschichte solcher Versuche nicht bewusst sind, wenn sie den Unterschied zwischen kulturellen Konstruktionen, wie ethnische Identität und Mustern genetischer Vielfalt ignorieren, …"
Dann bestehe die Gefahr, dass sie zur Wiederbelebung solcher rassistischen Ideologien beitragen – vielleicht sogar ohne es zu wollen, sagt Patrick Geary.
"Die DNA ist keineswegs in irgendeiner Form ein Generalschlüssel. Es gibt ganz viele Bereiche der Geschichte, zu denen DNA Studien überhaupt nichts sagen können. Aber es ist für manche Bereiche eben auch sehr spannend."
Zum Beispiel für die Wanderungen im frühen Mittelalter. Jörg Feuchter geht davon aus, dass die Archäogenetik in den kommenden Jahren noch größere Bedeutung bekommen wird.
"Egal ob Historiker mitmachen oder nicht, Genetiker werden diese Forschung weitermachen. Sie haben sie ohne uns angefangen zu betreiben. Sie machen sie jetzt immer noch weitgehend ohne uns. Und sie werden es auch in Zukunft tun. Wir können uns entscheiden, ob wir da sozusagen die Augen davor verschließen wollen oder ob wir sagen wollen: Wir machen mit, wir machen es besser. Wir stellen unsere Bedingungen. Wir geben unser Wissen rein. Wir erklären auch, wo Genetiker völlig falsch liegen und versuchen eben an der Sache zu arbeiten oder sogar führend mitzuarbeiten."

Neues Gesamtbild durch interdisziplinäre Betrachtung

Patrick Geary und Johannes Krause haben inzwischen zusammen mit anderen Historikern, Archäologen und Genetikern ein neues, viel größeres Projekt zur Völkerwanderung auf die Beine gestellt. Gefördert mit zehn Millionen Euro. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Wien, Budapest, Princeton und Jena sind daran beteiligt. HistoGenes heißt das Projekt, in dem insgesamt 6.000 Skelette aus der Völkerwanderungszeit analysiert werden sollen. Die Knochen stammen aus Gräbern aus dem Karpatenbecken.
"Also das heißt das heutige Ungarn, Tschechien, Österreich, Slowenien, Serbien, Kroatien, ein bisschen auch Ostdeutschland. Ein bisschen vielleicht auch Südpolen."
In der Gegend verlief die östliche Grenze des römischen Reichs. Laut den schriftlichen Überlieferungen sind viele unterschiedliche Gruppen hier durchgezogen.
"Und da erhoffen wir uns, dass wir mit Hilfe der genetischen Daten einen Überblick bekommen: Wie war dieses Vielvölkergemisch, das sich zu dieser Zeit dort gebildet hat, aufgebaut? Was waren die sozialen Strukturen? Wir wollen ganze Gräberfelder analysieren, zum Teil Tausende von Individuen von einem einzigen Gräberfeld, um zu sehen, was war das im Prinzip für ein Gemisch? Wo kamen diese Menschen her? Wie sind die miteinander verwandt? Wie waren deren Familien aufgebaut? Welche Beziehung sehen wir zwischen den unterschiedlichen Siedlungen in der Region?"
Fragen, auf die bisherige Quellen keine Antworten geben. Die Forschenden hoffen, durch die Archäogenetik ein neues Gesamtbild der Lebensverhältnisse vor 1500 Jahren zu schaffen. Ein großes Vorhaben, auch für den Tübinger Mischa Meier.
"Ja, das wird auch für mich interessant, weil gerade dieser südosteuropäische Raum und der Übergang in die Steppe, das ist auch eine Region, die mich gerade interessiert. Also da hoffe ich schon. Da werden auch zig Dissertationen entstehen und da werden eine Menge Studien rauskommen. Aber das dauert."