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Vokalmusik von György Kurtág
Klingendes Geburtstagsgeschenk

In Ungarn gilt György Kurtág als einer der bedeutendsten Komponisten des Landes nach 1945; zu seinem 90. Geburtstag im vergangenen Jahr beendete der Dirigent Reinbert de Leeuw mit Solisten, dem Netherlands Radio Choir und dem Asko/Schönberg Ensemble seine Einspielung aller Werke für Ensemble und Vokalbesetzung.

Am Mikrofon: Klaus Gehrke |
    Der ungarische Komponist György Kurtág hält am 19.6.2009 in Budapest an der Central European University einen Meisterkurs ab.
    Stand lange im Schatten seines Freundes Ligeti: György Kurtág (picture-alliance / dpa / Peter Kollanyi)
    "Heat": So lautet der Titel des ersten der vier "ein bisschen erotischen" Lieder aus dem Zyklus "Botschaften der verstorbenen R. W. Troussowa" für Sopran und Kammerensemble op. 17 von György Kurtág; mit diesem Werk, das im Januar 1981 in Paris uraufgeführt wurde, erfuhr der Komponist zum ersten Mal außerhalb Ungarns größere Beachtung. Allerdings sollte es noch ein paar Jahre dauern, bis der "Geheim-Tipp" Kurtág endgültig internationale Anerkennung in der Neue-Musik-Szene fand.
    1926 in Rumänien geboren, ließ er sich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Budapest nieder und studierte an der dortigen Musikhochschule Klavier und Komposition. Während sein drei Jahre älterer Kollege Ligeti 1956 nach dem niedergeschlagenen Ungarn-Aufstand in den Westen emigrierte, blieb Kurtág in seiner Heimat; allerdings nutzte auch er Möglichkeiten für Auslandsaufenthalte und studierte unter anderem ein Jahr in Paris bei Darius Milhaud und Olivier Messiaen. Zugleich setzte Kurtág sich intensiv mit den Werken Anton Weberns auseinander. Deren aphoristische Kürze schlägt sich auch in dem Zyklus "Botschaften der verstorbenen R. W. Troussowa" nieder, von dessen 21 Liedern die meisten nicht länger als eine Minute sind.
    Begeisterung für Russisch
    Die Texte zu dem "Botschaften"-Zyklus stammen von der in Ungarn lebenden russischen Dichterin Rimma Dalos. Ihre Gedichte voll wuchtiger Leidenschaft, angestauter Verzweiflung und Resignation setzte Kurtág mit einer eindringlichen Klangsprache um. Die Beschäftigung mit dem Werk begeisterte ihn zunehmend für die russische Sprache. In der Folgezeit entstanden mehrere Kompositionen auf Texte russischer Schriftsteller. Dazu gehören die "Sechs Lieder der Schwermut und Trauer" für zwei gemischte Chöre mit Instrumenten op. 18, die Kurtág 1994 vollendete. Hier spielt der Komponist teilweise mit vermeintlich typischen Elementen der russischen Volksmusik, etwa wenn er zur Begleitung des ersten Liedes ein Akkordeon einsetzt; doch das klangliche Resultat ist durch und durch Kurtág.
    Meister aphoristischer Kürze
    Die drei CDs umfassende Gesamteinspielung von Kurtágs Werken für Kammerensemble, Solisten und Chor beginnt mit den vier Capriccios op. 9 aus dem Jahr 1975 und endet mit instrumentalen "Kleinen Botschaften" op. 47, die er 2011 schrieb. Die insgesamt 11 aufgenommenen Kompositionen zeigen ihren Schöpfer als Meister überwiegend kurzer Formen mit überaus komplexer dichter Satzstruktur und mal sinnlichen, mal schroffen Klangfarben. Von den jeweiligen Strömungen der Avantgarde eher wenig beeindruckt verfolgte Kurtág beharrlich seinen eigenen Weg der immer weiter verfeinerten differenzierten Tonsprache, der jedoch auch von Zweifeln und Selbstkritik begleitet wird. Die unterschiedlichen Stationen dieses Weges lassen sich mitunter gut nachvollziehen. So erinnert beispielsweise das letzte der vier Capriccios op. 9, mit denen die erste CD beginnt, an Lieder von Alban Berg.
    Unter selbstkritischer Beobachtung
    György Kurtág, der ab 1967 über 25 Jahre lang Komposition an der Budapester Franz-Liszt-Hochschule unterrichtete, feilte gleichzeitig unentwegt und kritisch an seiner eigenen Klangsprache; das verdeutlichen die zum Teil sehr langen Entstehungszeiten der Werke. Eine Beschäftigung mit der traditionellen Musik seiner Heimat, so wie Béla Bartók oder Zoltán Kodály sie betrieben, lehnte Kurtág stets ab. Lediglich in der 2009 komponierten "Colinda-Ballada" für Solo-Tenor, zwei Chöre, Instrumentalensemble und großes Schlagwerk op. 46 griff er auf rumänische Volksweisen zurück.
    Spezialist für Neue Musik
    Der niederländische Dirigent Reinbert de Leeuw gehört zu den bedeutendsten Interpreten zeitgenössischer Musik; er gründete 1974 das Schönberg Ensemble, das sich 2009 mit dem Asko Ensemble zusammenschloss. Zusammen mit dem vorzüglichen Solistenensemble und Radiochor präsentiert de Leeuw Kurtágs Musik in all ihrer Kraft, Zerbrechlichkeit, Schattierung und Farbigkeit – eine gelungene Würdigung an einen bedeutenden Komponisten, der lange im Schatten anderer stand.
    György Kurtág: Complete Works for Ensemble and Choir
    Natalia Zagorinskaya, Gerrie de Vries, Yves Saelens, Harry van der Kamp, Netherlands Radio Choir, Asko/Schönberg Ensemble
    Leitung: Reinbert de Leeuw
    ECM New Series 2505-07 4812883