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Volker Beck will "vorübergehende Aufnahme" von Flüchtlingen

Italien dramatisiere die Flüchtlingslage, kritisiert Volker Beck. Um der nordafrikanischen Jugend eine dauerhafte Chance zu geben, könne Europa Flüchtlinge befristet aufnehmen und - möglicherweise ausgebildet - wieder in die Heimat schicken.

    Peter Kapern: Seit 1985 ist er Realität, der Traum vom Reisen in Europa ohne Pass, ohne Schlagbäume, ohne Grenzkontrollen. Damals trat das Abkommen von Schengen in Kraft, heute umfasst der danach benannte Schengen-Raum 25 Länder mit 400 Millionen Einwohnern. Um dieses Abkommen, das zum Kernbereich der EU zählt, ist es derzeit nicht gut bestellt. Der Grund dafür ist das tiefe Zerwürfnis der Europäer über den Umgang mit den Flüchtlingen, die in den letzten Wochen und Monaten aus Nordafrika vor allem nach Italien gekommen sind. Die italienische Regierung kündigte an, den Flüchtlingen sogenannte befristete Aufenthaltsgenehmigungen in die Hand zu drücken und sie in andere Länder der EU ausreisen zu lassen. Die anderen Länder reagieren darauf mit der Drohung, die Grenzkontrollen wieder einzuführen, so wie es Frankreich an der Grenze zu Italien bereits getan hat. Schengen droht der Kollaps, sagte die österreichische Innenministerin Maria Fekter gestern. – Bei uns ist jetzt Volker Beck am Telefon, der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion. Guten Morgen, Herr Beck.

    Volker Beck: Guten Morgen.

    Kapern: Herr Beck, wenn Italien tatsächlich solche Aufenthaltsgenehmigungen an Flüchtlinge ausgibt, um ihnen die Ausreise zu ermöglichen, wie ist das dann rechtlich zu bewerten? Ist das nach dem geltenden Recht möglich?

    Beck: Also an sich bräuchten sie zur Reise andere Pässe, aber grundsätzlich gelten diese Aufenthaltsgenehmigungen für Italien, und wenn man ein Visum für Schengen hat, dann gilt das natürlich auch im Schengen-Raum. Italien versucht jetzt, die Lage zu dramatisieren. Herr Berlusconi versucht, innenpolitisch von seinen eigenen juristischen Problemen vor den Gerichten abzulenken. Aber ich denke, wir sollten, wenn wir diese Frage diskutieren, die Gesamtlage der Flüchtlinge in Nordafrika und in Europa im Blick haben und uns in Europa solidarischer verhalten. Man muss sehen: Die eigentlichen Flüchtlingsprobleme liegen nicht in Italien, sondern die eigentlichen Flüchtlingsprobleme hat gegenwärtig Ägypten und Tunesien. Tunesien hat in den letzten Wochen 228.000 Flüchtlinge aufgenommen und Ägypten 182.000. Jeden Tag übertreten die Grenze nach Ägypten fast 2000 Flüchtlinge und nach Tunesien sind es ungefähr 3000 pro Tag. Dort ist das eigentliche Drama und wir sollten als Europäer erstens deutlich machen, dass wir den nordafrikanischen Staaten bei ihren Flüchtlingsproblemen helfen, und wir sollten die Flüchtlingsprobleme, die zusätzliche Aufnahme oder die zusätzliche Einreise von Flüchtlingen nach Malta und Italien, gemeinsam solidarisch tragen, und dann könnte wahrscheinlich Italien auch zu einem anderen Verfahren zurückkommen.

    Kapern: Der zweite Teil Ihrer Forderung, Herr Beck, würde aber darauf hinauslaufen, dass man sich der Erpressung Silvio Berlusconis beugen würde?

    Beck: Ja, das Problem von Dublin II und den Mechanismen, die wir im Schengen-Raum und innerhalb Europas haben, ist natürlich, dass eigentlich die Probleme allein von den Ländern, die Anrainer von Staaten sind, wo es größere Flüchtlingsbewegungen gibt, dass wir das nicht solidarisch verteilen, und das kritisieren wir von Anfang an, dass dieser Mechanismus zu einer einseitigen Anforderung an die Nachbarstaaten führt, und wir müssen innerhalb von Europa die Probleme, die wir haben, auch gemeinsam lösen.

    Kapern: Aber wenn man nach diesem Verfahren vorgehen würde, Herr Beck, dann würde das bedeuten, dass Italien Flüchtlinge, Asylbewerber aus Deutschland aufnehmen müsste, weil Deutschland proportional gesehen viel mehr Flüchtlinge aufgenommen hat, als das in Italien bisher der Fall war. Das heißt, die Solidarität würde genau anders herumlaufen, als Silvio Berlusconi dies gerade verlangt?

    Beck: Wir sollten zumindest insgesamt in der Europäischen Union dazu kommen, dass wir uns solidarischer verhalten bei dem Thema Flüchtlinge und grundsätzlich einen Mechanismus vereinbaren, dass wir Herausforderungen, die wirklich Sondersituationen haben, dann auch gemeinsam durch Verteilung tragen, oder Deutschland könnte – und das finde ich den eigentlichen Punkt – deutlich machen, dass wir bereit sind, von Ländern, die große Flüchtlingsprobleme haben, bestimmte Kontingente im Rahmen des UNHCR-Mechanismus aufzunehmen. Wenn Deutschland jährlich aus Ländern, wo es große Flüchtlingsprobleme gibt, bereit wäre, wie das übrigens unsere skandinavischen Freunde machen, im Rahmen einer bestimmten Quote Flüchtlinge aufzunehmen, dann könnten wir in dieser Diskussion aktuell auch Italien anders gegenübertreten.

    Kapern: Ähnliches hat Bundesinnenminister Friedrich ja gestern Malta angeboten, 100 Flüchtlinge aus Malta werden nach Deutschland kommen. Aber noch mal der Blick auf Italien. In Italien sind in den letzten Wochen und Monaten 23.000 Flüchtlinge angekommen, in einem Land mit 60 Millionen Einwohnern und dem siebtgrößten Bruttoinlandsprodukt der Welt. Das klingt doch nicht nach einer Überforderung, oder?

    Beck: Nein. Also ich denke, man sollte hier nicht auf die Propaganda hereinfallen, die Berlusconi da gegenwärtig macht. Man muss deutlich sagen, dass Italien zwar gegenwärtig besonders beansprucht ist, situativ. Das wird allerdings vermutlich auch andauern, weil bislang hat sich die Europäische Union in einem zynischen Pakt mit den Potentaten Nordafrikas die Flüchtlinge schlichtweg vom Hals gehalten, auch wirklich unter Negierung der Grundsätze, die die Genfer Flüchtlingskonvention und der Flüchtlingsschutz in den europäischen Staaten eigentlich beinhaltet. Nun fällt diese Kooperation weg. Ich will nur daran erinnern: Die Bundesregierung stand bis zu den Aufständen in Libyen kurz davor, mit Libyen ein deutsch-libysches Flüchtlings-Rückübernahme-Abkommen zu unterzeichnen, und wer weiß, wie Libyen mit den Flüchtlingen davor umgegangen ist in seinem eigenen Land, die haben die Leute zum Teil in der Wüste ausgesetzt, ohne Wasser und ohne Nahrung und ohne Möglichkeit, weiter voranzukommen, das war wirklich widerwärtig und trotzdem hat sich Europa mit Gaddafi letztendlich zusammengesetzt, um Flüchtlinge sich vom Hals zu halten. Ich glaube, die Aufgabe des Tages ist, dass wir den Auftrag, den Frontex (Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen) im Mittelmeer hat, völlig vom Kopf auf die Füße stellen. Es muss die Priorität des Rettens von Menschen, die sich auf diesen Weg machen, als erste Priorität definiert werden.

    Kapern: Was heißt das, mehr Schiffe für Frontex?

    Beck: Das heißt vor allen Dingen die Aufgabe von Frontex, die Leute im Meer zu retten und nicht versuchen, sie abzudrängen und zurückzubringen. Dann gäbe es auch die Möglichkeit – und ich glaube, das ist das Signal, was wir nach Nordafrika senden -, dass wir Leute vorübergehend aufnehmen, gar nicht ins Asylverfahren schicken, sondern sagen, wir bieten euch eine vorübergehende Aufnahme an, ihr müsst später wieder zurückgehen, wir geben euch aber vielleicht die Chance, in einer bestimmten Frist hier in Europa auch eine Ausbildung zu machen, und dann müsst ihr aber wieder zurück, wenn euere Länder sich stabilisiert haben, um euere Länder auch mit aufzubauen. Ich glaube, die Jugend in Nordafrika braucht das Signal, dass sie nicht von Europa unerwünscht sind, sondern dass wir an ihrer Seite sind, und wir müssen eben in Ländern auch wie Tunesien dafür sorgen, dass die Situation sich entdramatisiert. Ich habe keinen Überblick darüber, welche tunesischen Flüchtlinge das eigentlich gegenwärtig sind, die nach Italien kommen, will aber darauf aufmerksam machen, dass die Flüchtlinge, die in Tunesien gegenwärtig ankommen, zum großen Teil Tunesier sind, die vorher in Libyen gelebt haben.

    Kapern: Volker Beck! Herr Beck, ich muss meinerseits darauf aufmerksam machen, dass die Kollegen der Nachrichtenredaktion und unser Programmhinweis warten. Ich bedanke mich für das Gespräch bis hierher, sage guten Tag noch und auf Wiederhören.

    Beck: Bitte schön!