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Volker Braun: Das unbesetzte Gebiet im Schwarzen Berg

Im Frühjahr 1945, in den Wirren der Monate nach der deutschen Kapitulation, wurde der Ort Schwarzenberg im Erzgebirge für 42 Tage zum unbesetzten Gebiet. Diese kurze, herrschaftslose Zeit hat schon vor 20 Jahren den Schriftsteller Stefan Heym zu einem Roman inspiriert. Nun hat sich Volker Braun dieses geschichtlichen Moments noch einmal angenommen. Das bergmännische Verfahren, im Dunkel des Berges ein Flöz anzuschneiden und Proben zutage zu fördern, sei auch das der Literatur gemäße, schreibt Braun in seinem Anhang zu 'Das unbesetzte Gebiet’, der Erkundungen und Grabungen im schwarzen Berg in Form kurzer Texte enthält.

Von Heinz Klunker |
    In dem schwarzen Berg, in dem wir uns befinden, Völker, Staaten - in Not und Ungewissheit die einen, die anderen harsch handelnd, Projekte machend die dritten - und alle wissen eine Welt, und die anderen können darin nicht leben -
    "Die Geschichte wiederholt sich nicht, doch wo etwas nicht Geschichte wurde und Geschichte gemacht hat, wiederholt sie sich durchaus" sagte Bloch, was ich, eben darum, wiederhole.


    Volker Braun bewahrt die kurze Geschichte dieses Niemandslandes im literarischen Gedächtnis. Heinz Klunker hat 'Das unbesetzte Gebiet’ lesend für uns erkundet.

    "Wir werden alt, ohne eine Biographie zu haben". Die DDR existierte noch, als Volker Braun 1985 seinem Förderer Stephan Hermelin zum 70. Geburtstag gratulierte, voller Respekt, denn der hatte eine Biographie, in der er sich sicher bewegte wie in einer ehrenvollen, abenteuerlichen Uniform. So Braun weiter:

    Er hatte ein Hinterland an Visionen und Hoffnung, das ihm keiner nahm, auch wenn vor ihm Steppe lag. Wir nannten sie Neuland, lange noch. Wir werden alt, ohne eine Biographie zu haben.

    "Wir haben jetzt eine Biographie", beginnt 1993, sein Land war inzwischen in den Westen gegangen ("Ich selbst habe ihm den Tritt versetzt"), Volker Braun einen Nachsatz an Stephan Hermelin, in dem er ihn merkwürdigerweise einen fremden Bruder Ernst Jüngers nennt. Und diese Diagnose formuliert:

    Wir haben jetzt eine Biographie. Die WENDE der Umbruch, der die Charaktere freilegt, verfremdet beim Sturz aus der Sicherheit, dem lebenslänglichen Bewusstsein, die Obersten zu unterst gekehrt und der Bodensatz steigt auf als Staub der Statistik: der letzte Gang aus dem Kabelwerk mit plötzlich verrenkten Gliedern, Gesichter im Stasi-Licht, die Angestellten in der Mitlaufkrisis, und die Polizisten wechseln das Wams, Altlasten im Probejahr, der Waschzwang der Redaktionen, die abgewickelte Wissenschaft starrt auf GRUNDLAGEN, und die Restkollektive hungern für den Arbeitsplatz.

    Ein gutes Jahrzehnt später, nachdem der Umbruch die Charaktere freigelegt und zugleich verfremdet hat, das Hinterland der Hoffnungen und Visionen sich in Reflexionen auflöst und die Steppe sich im Terror belebt - inzwischen haben die gewendeten Realitäten den Biographien Futter zugeliefert, inzwischen ist Volker Braun kein bloßer DDR-Autor mehr, sondern ein deutscher Schriftsteller, der er vordem auch schon war. Ein ungebrochener Charakter, produktiv auch unter den veränderten Verhältnissen, im Jahr 2000 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet. Sein neues Buch, schmal aber gewichtig, heißt: "Das unbesetzte Gebiet" und sein erster Teil endet mit der Notiz:

    Geschrieben nach der Rückkehr in die Vorzeit. Keine Gestalt und Begebenheit ist erfunden; Abweichungen von real existierenden Personen sind Zufall.

    Das ist die Geschichte: Nach der Kapitulation des Deutschen Reiches im Mai 1945 war der Krieg noch nicht zu Ende und eine sächsische Enklave sollte legendäre Geschichte machen. Die Russen machten am 13. Längengrad, bei Annaberg halt, die Amerikaner hatten sich aus Aue an der Mulde zurückgezogen.

    Der große Heerwurm war vor dem Erzgebirge in Schlaf gefallen in seinem Schuppenpanzer aus Shermans und T34. Den letzten steinigen Brocken verschmähte er. Was sollte jetzt werden? Man hörte zu garniemandem.

    Die Amtshauptmannschaft Schwarzenberg, etwa 20 Dörfer und Städte auf 2000 Quadratkilometern, blieb unbesetzt und die Leute, für die keiner zuständig schien, fanden sich wieder im Niemandsland. "Man war halt wie gelähmt" Doch irgendwie musste das Leben weitergehen. Aus Angst wurde man der Freiheit kaum gewahr. Aber dann bildeten sie ein Art Aktionsausschuss, Kommunisten und Sozialdemokraten der Gegend, manche kamen aus dem KZ, und begannen die alte Ordnung in ihren Trümmern fortzuräumen und den verwirrenden Alltag zu organisieren, Flüchtlinge und Verschleppte waren aufzunehmen, Verwundete zu versorgen, versprengte Nazis und Bürokraten zur Ordnung zu rufen. Die Macht lag auf der Straße und man hatte ihr aufzuhelfen. "Macht ihr mit?" und "Was mach mer?" hießen die Parolen und die obligatorische "Unterheit" mauserte sich zur vorläufigen Obrigkeit. Sie war die Instanz für die ersten Dinge, also fürs Überleben, zu den letzten Dingen fühlten sie sich nicht berufen. Aber es blieben schließlich nur 42 Tage Zeit, da war der unverhoffte Traum schon ausgeträumt. Die Geschichte machte keinen Bogen um das unbesetzte Territorium, die Rote Armee brachte am 26 Juni die neue Ordnung mit der gewollten Unterwerfung der Bevölkerung, damit sie versorgt und verwaltet würde und vom gefürchteten Hunger befreit. "Und nichts blieb ihr von der kurzen Epoche im Gedächtnis, von der Lust der Selbstbestimmung, dem Rausch der Gerechtigkeit..."

    Das unbesetzte Gebiet, das sich nicht herumsprechen konnte, blieb auch unter den Bewohnern nicht im Gerede, zu sonderbar war das Gebilde, vorläufig, rückständig und utopisch, anstößig für jeden Staat. Und nichts blieb ihnen von der Epoche im Gedächtnis, außer dem Hunger, der Unsicherheit, dem Abgeschnittensein von der Welt und ihren Waren.

    Volker Braun ist ein strenger Chronist der Vorgänge, sein Resümee ist illusionslos. Den Leuten, die er beschreibt, ist alles Utopische fremd und fern; wenn es aufscheint, dann allein in der Autonomie der gefügten Sätze, der souveränen Prosa. Das unbesetzte Gebiet der Geschichte wird zu einem ästhetischen Gebilde raffiniert dialektischer Texte. "Die Kunst fordert eine Einfachheit, die das Leben nicht hat", sagt der Dichter. Sie ist sein eigenes Gebiet, "Unbesetzt von den Truppen der Doktrin und des Glaubens" und wo "Nur Hoffnung vielleicht siedelt, die uns betrügt und weiterträgt". Wie eine Goldader im Gestein zieht sich erzgebirgische Lautmalerei durch den Text, eine eigenwillige Spielart des sonst eher hämisch zitierten sächsischen Dialektes. Die Prosaminiaturen beschwören immer wieder funkelnde Bergkristalle herauf.

    Volker Brauns Schwarzenberg-Chronik ist denkbar weit entfernt von Stefan Heyms romanhafter Verklärung der Freien Republik Schwarzenberg, vor zwanzig Jahren zwar in der Bundesrepublik, nicht aber in der DDR, wo das Buch seine politischen Dimensionen hätte entfalten können, erschienen. Im zweiten Teil seines Buches nennt er es "eine schlichte wahrhafte Utopie". Seine, Brauns, Fiktion des Wechsels der Zeiten sei eine unglaublich komplizierte Utopie.

    Und sie ist doch die Hoffnung des Volkes. Die bewegliche Gesellschaft, die fähig wäre, sich zu besinnen und sich aus sich selbst zu reißen, in einem Zyklus von Siebenjahresplänen aus Handel und Wandel, Revolutionen und Konterrevolutionen, Aufsichtsräten und Räterepubliken. Das wäre der Stoff eines grandiosen Zukunftsromans, des wirklichen west-östlichen Diwans. Ich kann ihn nicht schreiben.

    Heinz Klunker besprach: Das unbesetzte Gebiet von Volker Braun. Das Buch hat 130 Seiten, kostet 16.80 Euro und ist im Suhrkamp Verlag erschienen.