In dem Gedicht "Die Wende" von 1989 setzt Volker Braun diese Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte als einen Dreh auf dem "Hacken" ins Bild. Für die Ostdeutschen veränderte diese Drehung vieles - sie zogen in ein anderes Land um, ohne dass sie die Wohnung wechseln mussten. Das Volkseigentum verschwand und es kehrten ökonomische Verhältnisse zurück, die in der DDR überwunden waren. Das Land bekam ein neues Gesicht, aber manch Neues kam in einem alten Gewand daher. Für den 1939 in Dresden geborenen Volker Braun stellte und stellt das Neue im Alten eine Herausforderung dar. Braun, der dem Fertigen nichts abgewinnen kann - eine berühmte Zeile aus seinem Gedicht "Anspruch" lautet: "Kommt uns nicht mit Fertigem", macht sich in den "Werktagen" ans Werk, wenn er die Geschichte bei ihrer Arbeit beobachtet. Begonnen hat er mit den Notizen im Januar 1977. Der 2009 erschienene erste Band endet mit einem Eintrag vom 31. Dezember 1989:
"nun haben wir eine biographie. aus dem widerstand und der geducktheit tretend, haben wir jeder eine geschichte durchlaufen, unter die ein harter strich gezogen wird. unter die alten wahrheiten. unter die alte zukunft."
Im Juli 1990, als Braun das umfangreiche Konvolut des 2. Bands der "Werktage" durchsieht, befallen ihn Zweifel, ob die Notizen öffentlich gemacht werden müssen.
"21. 7. 90: seltsame übung, werk und tag aufzuschreiben, aber nicht nach tun neigung. das gerippe habe ich hier, nicht das fleisch des daseins. die knochen, um sie einmal zu zählen; die küsse erinnere ich die landesgeschicke sind nebensache bei der herzensgeschichte."
Eine Rechenschaft über die eigene Arbeit
In diesem Eintrag aus "Werktage 2" problematisiert der Autor die eigene Arbeit. Ihn erinnern die Aufzeichnungen an ein Gerippe, da er kaum Lebendiges findet. Brauns kritische Bemerkung erweckt den Eindruck, der Leser habe mit den "Werktage"-Büchern eine markige Knochensuppe vor sich, in der das Fleisch fehlt. Zweifelnd fragt der Autor nach dem Nährwert dieser Kost. Volker Braun neigt zum Understatement. Eher beiläufig lässt er den Leser wissen, dass es nichts Intimes in den "Werktagen" erwarten darf. Vielmehr legt Braun Rechenschaft über die eigene Arbeit ab, wird es um Gearbeitetes gehen. Er lüftet mit den "Werktagen" einen Vorhang und erlaubt einen Blick in die Werkstatt des Autors. Ins Bild kommt aber nicht nur der Raum, sondern erkennbar wird auch die Person, die darin wirkt, die am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, es kommentiert, und das die Leser an den ernsten Scherzen teilhaben lässt. Braun versucht, das Politische zu erfassen, indem er nach Themen greift, die zeigen, wie die Geschichte in das Leben des Einzelnen eingreift. Obwohl er dem Drängen des Verlags nachgab, und er der Veröffentlichung zustimmte, gelegentlich befallen ihn Zweifel.
"es wird doch ein sonniger september, mein alter arbeitsmonat, anne zur kur: aber ich vertue ihn mit der durchsicht der ersten jahre des gescannten arbeitsbuchs. Der überdruß nur immer von mir zu lesen, ein roher abrißkalender; und die sehnsucht nach einem neutralen text, um nur im tonfall, im komma anwesend zu sein. der verlag drängt fast unverschämt auf herausgabe, aber daran ist beileibe = im leben nicht gedacht. Ich bescheide fellinger: zehn jahre p. m., das ist im günstigsten fall 2039, im ernsten fall 2019."
Nähe zu Brecht
In Brauns beiden "Werktage"-Bänden wird eine Zeitspanne von mehr als dreißig Jahren lebendig. Sie weisen Ähnlichkeiten zu Brechts "Journal" auf, das Helene Weigel nach Brechts Tod zunächst unter dem Titel "Arbeitsjournal" publizierte. Braun deutet die Nähe an, wenn er die "Werktage" im Untertitel nicht als "Arbeitsjournal", aber als "Arbeitsbuch" bezeichnet. Seinem Arbeitsbuch hat er – darin Brecht folgend - die Erfahrungen mit der Geschichte eingeschrieben. Braun ist neugierig, ohne zur Melancholie zu neigen. Er ist ein nüchterner Beobachter, der festhält, wie die Geschichte nach 1989 die Verhältnisse zurechtrückt, die in eine Schieflage geraten waren.
"3. 1. 90: ich bin ein mann von fünfzig jahren. mitte des lebens (die arbeitsjahre gerechnet). ich dachte vor nicht langer zeit, mit alten chinesischen schriften in den garten zu gehen. einen weg nach innen suchen. gespräche unter bäumen! jetzt verfliegt dieser selige plan, und die geschichte kommt dazwischen. 'ein weg braucht kein wohin, es genügt ein woher.' barlach, DER TOTE TAG. aber gerade das woher ist umkämpft und wird erst die zukunft wissen."
Zu anderen Zeiten warf Brecht in seinem Gedicht "An die Nachgeborenen" die Frage auf: "Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist". An Rückzug ins Idyllische war für Braun nach 1989 nicht zu denken. In seinem Logbuch fragt er auch danach, welchen Kurs das neue Deutschland einschlägt.
"20. 1. 01: wo seine grenzen sind, weiß ich nicht, und was ist deutschland. Ich sehe die völker, wie sie seit jahrtausenden wuchsen und sich vermengten, wie sie wanderten und sich mischten. Der zug der burgunden von gotland an die weicsel, in die lausitz, an den rhein und nach burgund - es waren europäer wie die Goten und hunnen, die freilich eurasier waren. Die staaten sind künstliche, gewaltsame bildungen; ich kann mich nur in europa begreifen, und ich komme mir damit schon arg provinziell und eigenbrödlerisch vor. Kommen wir nicht von weiter her und läuft nicht alles auf ein großes treffen hinaus?"
Notate, Glossen, Berichte und Embleme
Was Volker Braun als Arbeitsergebnisse seinem "Werktage"-Buch anvertraut, ist vom Umfang her selten länger als eine Seite. Die Anlässe für die Einträge sind verschieden, die Zeit spielt sie dem Autor zu, der auch auf Äußerungen seiner Kollegen Günter Grass, Peter Handke und Peter Rühmkorf reagiert oder ein Buch des Schriftstellerkollegen Uwe Timm kommentiert.
"30. 7. 08: in timms dokumentarischem roman HALBSCHATTEN sprechen aus dem berliner invalidenfriedhof die toten, ein gesprächskreis höherer dienstgrade, das schnarren und belfern des militärs: es ließen sich andere zirkle denken, gegensätzliche nester (und grabstätten) des grübelns, mit je eigener erfahrung oder verzweiflung, der dorotheenstädtische, der jüdische friedhof, auch friedrichsfelde gehört dazu. Dies totentänzchen ist interessanter als das lebende geplapper."
Die "Werktage" Brauns sind mehr als ein "roher Abrisskalender". Die abgerissenen Tage, die schnell entsorgt werden, weil bereits der neue mit Verheißungen lockt, ruft Braun in seinen "Werktagen" in Erinnerung. Er erhebt Einspruch gegen den rohen, auf Vergessen setzenden Umgang mit der Geschichte, indem er konstruktiv mit den historischen Ereignissen umgeht. Nichts gelangt in seiner "rohen" Form in das "Werktage"-Buch. Erst nachdem das Material durchgearbeitet und bearbeitet worden ist, wenn es eine Form aufweist, hebt es Braun auf. Seine Arbeitsergebnisse liegen in Form von Notaten, Glossen, Berichten und Embleme vor. Diese Miniaturen, in denen verdichtet Zeithistorie aufgehoben ist, sind lesenswert und von besonderer Bedeutung, weil sie eine bewegte Zeit spiegeln. Volker Braun breitet sie wie einen Teppich aus. Unverwechselbar ist das Muster, das die Handschrift eines Autors zeigt, der seit Jahrzehnten unbeirrt an seinem Text webt.
Volker Braun: "Werktage 2", Arbeitsbuch 1990-2008
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014. 999 Seiten, 39,95 Euro.
Suhrkamp-Verlag, Berlin 2014. 999 Seiten, 39,95 Euro.