Archiv

Volker Kutscher
Kommissar Rath ermittelt wieder

Bereits zum fünften Mal schickt der in Köln lebende Schriftsteller Volker Kutscher seinen Kommissar Gereon Rath auf Verbrecherjagd. In "Märzgefallene" verbindet er Ereignisse aus dem Ersten Weltkrieg mit Mordfällen aus der Zeit der Machtergreifung Hitlers.

Von Anahita Babakhani |
    Eine Leselupe
    In einer zwölfteiligen Serie soll Kommissar Rath 2015 in der ARD und auf Sky ermitteln. (picture-alliance / dpa / Heiko Wolfraum)
    Es ist Montag, der 27. Februar 1933. Der Berliner Kommissar Gereon Rath ist in seine Heimatstadt Köln gereist, um endlich einmal wieder am Rosenmontagszug teilzunehmen, der wegen der Weltwirtschaftskrise jahrelang ins Wasser gefallen war. Doch statt einem Bad in der ausgelassenen Menge muss er auf einem Balkon des Rathauses ausharren, gemeinsam mit seinem Vater, Kriminaldirektor Engelbert Rath, und dem Oberbürgermeister Konrad Adenauer. Die Störung des Umzugs durch einige Braunhemden, ihre Rufe "Adenauer an die Mauer", sind ein kleiner Vorgeschmack auf das, was sich nur wenig später in Berlin abspielt.
    In der Nacht vom 27. auf den 28. Februar steht der Reichstag in Flammen, was den Nazis als willkommener Anlass dient, offiziell Jagd auf Kommunisten und Juden zu machen. In den Tagen und Wochen danach müssen auch Mitglieder der Mordkommission wie Gereon Rath zur Politischen Polizei wechseln, um die von den Nazis Stigmatisierten aufzuspüren und der SA auszuliefern.
    Ein Mordfall wie der eines ehemaligen, zum Obdachlosen gewordenen Weltkriegssoldaten, interessiert da überhaupt nicht, selbst wenn er auf ungewöhnliche Weise umgebracht worden ist, mit dem Stich eines Grabendolchs durch die Nase ins Gehirn. Dennoch oder gerade deshalb beißt sich Gereon Rath an dem Mordfall fest.
    Ein Buch - zwei Romane
    "Märzgefallene", so lautet der anspielungsreiche Titel von Volker Kutschers neuem Roman. Märzgefallene heißen deutsche Soldaten des Ersten Weltkriegs, die im März 1917 bei der systematischen Zerstörung französischer Dörfer und Verkehrswege umkamen. Die Aktion, die unter dem Decknamen "Alberich" nach dem Zwergenkönig aus dem Nibelungenlied lief, sollte den nachrückenden Alliierten die militärische Nutzung der Gegend erschweren. Doch sie sorgte vor allem dafür, in den Deutschen noch mehr als zuvor Barbaren zu sehen. Eine Reihe von Überlebenden dieses Unternehmens werden nun just zu der Zeit umgebracht, in der der frisch zum Reichskanzler ernannte Adolf Hitler den Reichtagsbrand nutzt, um politische Gegner auszuschalten, insbesondere Anhänger der Kommunistischen Partei.
    Gleichzeitig schwenken Anfang 1933 viele Deutsche auf die Politik der neuen Machthaber um, und auch diese sind mit dem Titel gemeint:
    "Der Titel meines Buches 'Märzgefallene' stand als Arbeitstitel relativ früh fest, weil es klar war, es geht um die Epoche 33 und der Begriff Märzgefallene ist ein Begriff, der die Nazis damals selbst gebraucht haben, für all die Leute, die braven Brüder letzen Endes, die nach den Wahlen nicht schnell genug in die NDSAP eintreten konnten. Und dieser Begriff war schon geklaut von den 1848 gefallenen Märzgefallenen, das waren die frühen deutschen Demokraten, die auf den Barrikaden ihr Leben gelassen haben."
    Doch damit nicht genug: Ein gewisser Achim Freiherr von Roddeck ist in "Märzgefallene" dabei, seine Kriegserinnerungen unter eben diesem Titel zu veröffentlichen. Der am Unternehmen Alberich mit Stolz Beteiligte will, so verkündet er Gereon Rath, mit seinem Werk die "Ehre der deutschen Soldaten" reinwaschen. Zugleich aber stellt er diejenigen Offiziere an den Pranger, die, wie er sagt, den "Niedergang unseres Vaterlandes" im Ersten Weltkrieg verschuldet haben, nämlich die jüdischen.
    Von Roddeck nutzt sowohl seine antisemitischen Hetzreden als auch die Taten des Serienkillers, um sich zum Helden aufzuspielen, zum standhaften Ex-Soldaten, der sich weder damals noch heute angesichts von jüdischer Gewalt davon abhalten lässt, die Wahrheit zu verkünden. Der Erfolg bleibt nicht aus: Seine Märzgefallenen finden rasenden Absatz, und nicht nur das: Nazi-Größen wie zum Beispiel Goebbels schmücken sich mit dem Romancier in der Öffentlichkeit. Von Roddeck, soviel sei verraten, entpuppt sich als gefährlichster Gegenspieler Raths, gefährlicher als die Berliner Unterweltkönige, die vor den Nazis weichen müssen, und gefährlicher als der Serienkiller selbst.
    Ein Kommissar mit schillernder Persönlichkeit
    Von seinem ersten Roman an vereint Volker Kutscher auf gekonnte Weise historisches Detailwissen mit einem Plot, der nie an Spannung verliert, auch wenn stets zugleich ausführliche Einblicke in die deutsche Gesellschaft der Zwischenkriegszeit gewährt werden. Die Modernität und die Widersprüche der Metropole Berlin, die zunehmende Nazifizierung der deutschen Gesellschaft sowie staatlicher Institutionen wie der Polizei werden ebenso anschaulich geschildert wie die Lebensläufe einzelner Figuren, die auf legale und auf nicht-legale Weise ihren Alltag zu bewältigen versuchen und um 1933, in der Mehrzahl, zu Nationalsozialisten werden.
    "[E]s war für mich immer ein Rätsel, wie das passieren konnte in einem Land wie Deutschland, das durchaus zivilisiert war, Goethe und Schiller und so weiter, wie es passieren konnte, dass in diesem Land, das durchaus endlich mal eine Demokratie hatte, diese barbarische Diktatur die Macht übernehmen konnte. Und diese Frage ist meine erachtens durch die Geschichtswissenschaft nicht geklärt und lässt sich meines Erachtens auch nicht einfach so beantworten. Ich versuche mit meinen Romanen, dieser Frage ein wenig nachzugehen."
    Besondere Sympathie schenkt der Autor immer wieder Außenseiterfiguren: In "Goldstein", Gereon Raths drittem Fall, schildert er mit Wohlwollen die Diebeszüge zweier Jugendlichen durch die Konsumtempel der Stadt, im darauf folgenden Roman "Die Akte Vaterland" Kutschers lässt er einen Einsiedler in den masurischen Wäldern einen Mord verüben, den der Polizist Rath mit aller Sorgfalt vertuscht, und auch in "Märzgefallene" lässt er eine Jugendliche zur mehrfachen Mörderin werden, unterstellt sie aber dennoch dem besonderen Schutz von Rath und seiner Verlobten Charlotte Ritter.
    Überhaupt: Die Grenze zwischen der Welt des Verbrechens und der der Polizeigewalt ist keineswegs unüberwindlich: Polizisten, auch Gereon Rath, werden zu Mördern, Unterweltbosse zu Helfern in der Not. Darin liegt eine große Stärke von Kutschers Romanen. Sein Held ist eine schillernde Persönlichkeit:
    "Vor allen Dingen ist er ein normaler Mensch, der mit diesen Dingen konfrontiert wird und das ist für mich wichtig, weil er neben seinen Fähigkeiten, die er als Ermittler haben muss, um Mordfälle zu klären und Kriminalfälle zu lösen, ist er eben auch ein Kind seiner Zeit, eine Figur, die ich ganz bewusst in diese Zeit schicke.
    Um ihn zu begleiten, auf Augenhöhe um mit ihm zusammen zu erleben, wie er diese gesellschaftlich politischen Veränderungen, die sich in den 30er-Jahren ja massiv in Deutschland ergeben haben. Stichpunkt 30er-Jahre: Die Nazis, die die Macht erobern. Um ihn da zu begleiten, um zu sehen, wie er da reagiert."
    Teilweise zumindest steht Rath in der Tradition des US-amerikanischen hardboiled Detektivs. Gereon Rath trinkt gern und viel, und er schlägt zu, wenn ihm etwas nicht passt. Er vertuscht Morde, er belügt Vorgesetzte ebenso wie seine Verlobte. Mit seiner Vorstellung von Gerechtigkeit lässt sich vereinbaren, eine Luxuswohnung von dem US-amerikanischen Gangster Goldstein finanziert zu bekommen. Vor allem aber ist er eins – ein gegenüber der Politik gleichgültiger Zeitgenosse, oder, wie seine Verlobte sagt, ein "politischer Vollidiot". Durch seine Brille nehmen wir Leser vor allem die Ereignisse wahr, und Raths Beschwichtigungen sich selbst und anderen gegenüber – "Wir sollten uns nicht davon verrückt machen lassen, wer gerade regiert. Unsere Arbeit ist dieselbe: Verbrecher zu jagen" – kollidiert in unseren Köpfen mit dem Wissen, dass es immer schlimmer und mörderischer geworden ist. Rath zur Seite steht ein angenehm zurückhaltender Erzähler, der sich mit Kommentaren zurückhält und nur selten den moralischen Zeigefinger hebt.
    Das überlässt er stattdessen Charlotte Ritter, genannt Charly, vielleicht das eine oder andere Mal zu oft. Ihr Hass auf die Nazis geht bereits zu Beginn von Hitlers Diktatur so weit, dass sie noch im März 1933 den Dienst bei der weiblichen Kriminalpolizei quittiert. "Weil der Staat, für den sie arbeitete, sich nach und nach in ein missgestaltetes Ungeheuer verwandelt hatte."
    Kein Verbrecher ist so verbrecherisch wie das Nazi-Regime
    "Märzgefallene" hat vieles gemeinsam mit seinen Vorgängern, aber er ist doch anders. Der Krimi ist sprachlich noch stärker, stilistisch einfallsreich und die Spannung stets hochhaltend, weil detailreich erzählt wird, aber der Roman sich nie in Details verliert. Inhaltlich zeichnet sich ab, was in den ersten Romanen nur am Rande, im letzten, "Die Akte Vaterland", ein wenig stärkere Bedeutung gewann: Dass kein Verbrecher, weder ein Dieb noch ein Mörder, so verbrecherisch ist wie das Nazi-Regime.
    Das führt dazu, dass Rath und Ritter gemeinsam mit Verbrechern gegen Nazis paktieren. Das führt aber auch dazu, dass kein gelöster Fall auch nur im entferntesten dazu führt, so etwas wie Ordnung oder Gerechtigkeit wiederherzustellen. Selbst Gereon Rath beginnt im Verlauf von "Märzgefallene" zu spüren, "was Charly meinte, wenn sie sagte, die Nazis hätten ihr Vaterland gestohlen".
    Wie es mit dem 'politischen Vollidioten' und – auch das sei noch verraten – seiner Frau – Gereon und Charly heiraten am Romanende – in der Zeit der Konsolidierung der Nazi-Diktatur weitergehen wird, werden wir Leserinnen und Leser voraussichtlich im Herbst 2016 erfahren. Vielleicht zur gleichen Zeit, vielleicht etwas früher, werden ARD und SKY gemeinsam eine TV-Serie ausstrahlen, in deren Mittelpunkt Gereon Rath stehen wird. Volker Kutscher ist gespannt.
    "Ich hoffe sehr, dass es eine Serie wird, die Tom Tykwer da konzipiert, die den Standard der amerikanischen Serien erreicht, weil ich tatsächlich ein großer Fan dieser Serien bin und ich glaube auch, dass wir im deutschen Fernsehen dringend solche Serien gebrauchen könnten. Ich glaube, dass deutsche Fernsehproduktionen durchaus auch in der Lage sind, solche Fernsehserien zu produzieren, auf diesem Niveau und ich hoffe sehr, dass es Tykwer gelingen wird."