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Volker Reinhardt: "Die Macht der Schönheit"
Macht und Schönheit in der Kulturgeschichte Italiens

Italien ist ein Sehnsuchtsland der Deutschen. Doch was meinen wir, wenn wir emphatisch "Italien" sagen, was ist die berühmte "Italianita" eigentlich? Der Historiker Volker Reinhardt hat nun eine voluminöse, und gut geschriebene Kulturgeschichte Italiens vom Jahr 1000 bis heute vorgelegt.

Von Volkmar Mühleis |
Blick auf den Hafen der Stadt Tusa auf Sizilien.
Blick auf den Hafen der Stadt Tusa auf Sizilien (www.imago-images.de)
Was bestimmt unsere kulturelle Identität? Dieser Frage ist Volker Reinhardt in seinem umfassenden Buch "Die Macht der Schönheit" nachgegangen, am Beispiel der italienischen Identität. Es heißt im Untertitel eine Kulturgeschichte Italiens und ist in erster Linie das, was man unter einem gelehrten Buch verstehen könnte – ohne eine einzige Fußnote, abseits des wissenschaftlichen Jargons, erzählt und deutet der Historiker aus dem Wissen jahrzehntelangen Forschens und Erklärens.
Man hat den Eindruck, mit dem Band in der Hand einer privaten Ringvorlesung folgen zu dürfen, angefangen im 11. Jahrhundert in Sizilien, bis hin zum Ausblick auf die Zukunft Italiens im 21. Jahrhundert, gleichfalls am Beispiel Siziliens. Tausend Jahre Kulturgeschichte, ausgebreitet auf gut 650 Seiten. Eine Italienische Reise ganz eigener Art. Sie führt entlang beispielhafter Ereignisse und Zeugnisse, die veranschaulichen sollen, was die kulturelle Identität Italiens prägt. Dabei gibt sich Reinhardt keinen Spekulationen hin. Mit der Fülle seines Wissens zeigt er souverän auf, wie literarisch ergiebig die strenge Treue zu den historischen Quellen und Belegen sein kann.
Blick auf die Machtstrukturen
Zugleich ist seine Form der Geschichtsschreibung einer bestimmten Herangehensweise geschuldet und gilt es die Präferenzen dieser Form mit zu beachten. Warum etwa, so könnte man anmerken, die Frage nach dem sogenannten Italienischen überhaupt in den Mittelpunkt stellen? Man kann es, abseits der Diskussion konzeptueller Grundbegriffe, zunächst pragmatisch sehen: Italien ist eine historische Tatsache, und das Leben in diesem Land seine kulturelle Identität.
Man muss sich dann entscheiden, was einem dabei am Aufschlussreichsten erscheint, und so richtet Reinhardt den Blick auf die Machtstrukturen, Strukturen, die ihrer Darstellung bedürfen und damit dem Ideal der darstellenden Künste folgen: Schönheit. Als Biograph von Leonardo da Vinci hat der Autor sich auch als Kunstexperte einen Namen gemacht. Nun zeigt er im Großformat etwa das Aufblühen der Künste im Norden Italiens mit dem Erstarken republikanischer Handelsstädte, wie Pisa oder Venedig. Dabei widmet er sich unter anderem dem markanten Grabmal des erfolgreichsten Territorialherrn Norditaliens im 14. Jahrhundert, Cangrande della Scala, das sich in Verona befindet und einen gewitzt lächelnden Reiter darstellt. Was hat es mit diesem einzigartigen Bildnis auf sich? Reinhardt schreibt:
"Wie sein prachtvoll geschmücktes Schlachtross wendet er den Kopf zur Seite. Seine hoch aufragende Helmzier mit dem drohend aufgerissenen Maul eines Bluthundes (…) hat er nach hinten geworfen. Mit seiner Rechten hält er ein Schwert in die Höhe, zum Gruß und zum Zeichen des Sieges. Hochgefühl drückt auch sein Gesicht aus. Seine Mundwinkel ziehen sich zu einem triumphalen Lächeln nach oben – oder ist es eine spöttische Grimasse? Ritter reiten normalerweise in die Schlacht, auf Abenteuer ins Ungewisse, suchen und finden den Gral, erobern das Heilige Land, doch lächeln sieht man sie nirgendwo, außer in Verona. Dort triumphiert der Smiley-Ritter, so scheint es, über niemand Geringeren als den Tod selbst. Denn sein Reiterstandbild steht direkt über seinem Mausoleum, in dem sein mumifizierter Körper ruht, und über einer weiteren Statue, die ihn in Zivil auf dem Totenbett zeigt. So wirkt es, als ob er zu Pferde wieder auferstanden wäre, um der Sterblichkeit lächelnd seine ganze Verachtung zu zeigen."
Wiege der nationalen Identität
Wie diese gibt es vielfache, anregende Charakterisierungen in dem Band, die einem die Freude an der suchenden, detaillierten, vergleichenden Betrachtung vermitteln, die Darstellungen selbst in ihrer Vielschichtigkeit zu entdecken. Dieses Herangehen deckt sich auch mit Reinhardts methodischem Ansatz, aus der Anschauung des Materials einen Blick auf das womöglich Italienische zu gewinnen, eingedenk der historischen Entstehung dieser Vorstellung selbst, dass nämlich kulturelle Identität ein gewordenes und sich wandelndes Konzept ist.
Volker Reinhardt vor religiösen Zeichnungen an einer Wand.
Volker Reinhardt ist ein deutscher Historiker. Er ist Experte für die italienische Renaissance (privat)
Ein starkes Argument für eine Kulturgeschichte Italiens ist dabei, dass dieses Konzept einer anfangs städtisch-republikanischen, später nationalen Identität gerade in Italien entwickelt wurde, vom Mittelalter ausgehend. Städte erlebten in Italien von der Antike bis ins Mittelalter eine Kontinuität wie sie der Rest von Europa nicht kannte, wo vielmehr der Bruch antiker Stadtkulturen zunächst vorherrschte. Das ermöglichte nicht nur den Aufstieg republikanischer Handelszentren wie Genua oder Venedig, sondern auch die Ausbildung erster Universitäten an Orten abseits der höfischen Macht, wie Bologna oder Padua. Dort konfrontierte man den Papst in Rom zum Beispiel erstmals mit dem Recht der römischen Antike, deren Erbe er einer nachweislich gefälschten Schenkung des römischen Kaisers Konstantin nach vertrat.
Momente, die Europa bis heute prägen
In Italien verdichten und durchkreuzen sich vom Mittelalter zur Neuzeit insofern Momente, die Europa bis heute prägen: das Ideal republikanischer Verfassung, frühkapitalistisches Handeln im Verbund mit Kolonialisierung, republikanische Rechtssicherheit im Streit mit katholischem Machts- wie Heilsanspruch und damit einhergehend auch der Streit wissenschaftlicher Redlichkeit gegen dogmatische Lehren. Die kulturhistorische Spurensuche, die Reinhardt betreibt, lässt sich am Beispiel Italiens also mit konzeptuellen Voraussetzungen neuzeitlicher kultureller Identität verbinden. Das macht die Lektüre seines umfangreichen Buches über den eindrucksvollen Anschauungsunterricht hinaus besonders spannend.
Seltsam mutet bei dieser vielversprechenden Ausgangslage nur an, wie sehr dem Interpreten immer wieder an der Eindeutigkeit seiner Schlüsse gelegen ist. In der Beschreibung des Reiterstandbildes von Cangrande della Scala etwa hatte er mehrfach auf überaus reizvolle Ambivalenzen hingewiesen: Zwischen dem entblößten, lächelnden Gesicht des Ritters und seiner Maske als grausamer Bluthund, zwischen verschiedenen Lesarten des Lächelns – ob als selbstsicher siegesgewiss oder eher spöttisch anderen gegenüber –, zwischen dem tatsächlichen Leichnam, seiner Darstellung auf dem Totenbett und darüber Cangrande wieder hoch zu Ross, sich seiner selbst freuend, als Ritter vor dem Herrn. Nichtsdestotrotz meint Reinhardt zum Abschluss dieser Betrachtung:
"Damit ist die Funktion des provokant lächelnden Ritters über seinem Sarkophag bestimmt: Sie hält die Erinnerung an das erfolgreichste Mitglied der Familie wach, soll sein Ansehen für seine Nachfolger nutzbar machen und die Stellung der Della Scala generationenübergreifend sichern."
Deutungshoheit und Ambivalenz
Die schillernden Ambivalenzen werden einer Eindeutigkeit geopfert, die kaum mehr aussagt, als was für jede Darstellung auf dem Grabmal eines Herrschers gilt: Sie hält die Erinnerung an ihn wach, soll sein Ansehen für seine Nachfolger nutzbar machen und die Stellung derjenigen generationenübergreifend sichern. Über das fragliche Lächeln sagt dieser Schluss nichts aus. Warum ihn also bemühen? Man könnte meinen, die Skulptur ist als Auftragskunst Teil einer Zeit, in der Eindeutigkeit vom Kunstwerk verlangt wurde, einem bestimmten Zweck zu dienen, als Propaganda der Macht, um auf Reinhardts Fokus zurückzukommen, Die Macht der Schönheit.
Er selbst führt jedoch an, dass seine Analyse der italienischen Kultur deshalb Machtstrukturen folgt, weil Italien als Vorstellung bis ins 19. Jahrhundert ein Projekt der Eliten war, ausgehend von Dichtern und Denkern im 14. Jahrhundert bis hin zur Gründung des italienischen Nationalstaats 1861. Das ist ein historisches Argument und noch kein kunsttheoretisches. Die wirkungsvollen Ambivalenzen liegen im Fall des Reiterstandbildes in seiner ursprünglichen Konzeption begründet und faszinieren bis heute. Ihnen gebührt die Schlussfolgerung, nicht einer austauschbaren Verallgemeinerung. Dieser Kritikpunkt ist deshalb wichtig, weil er die Deutung der Kunstwerke und ihrer Schönheit betrifft, einen wesentlichen Teil von Reinhardts Anschauungsmaterial und seiner Beispielhaftigkeit für das imaginär wie wahrgenommen Italienische. Nur in einem Kapitel – eine hervorragende Studie zum Kino von Federico Fellini – lässt der Autor von seinem deutenden Rigorismus ausdrücklich ab und vermerkt zu dessen Filmklassiker Dolce Vita:
"Die Nähe zum europäischen Existenzialismus, der Modephilosophie der ersten Nachkriegsjahrzehnte, ist bei der Würdigung des Films gebührend hervorgehoben worden, doch hat auch diese Deutung ihre Grenzen, weil sich Fellinis allen traditionellen Regeln spottende nicht-lineare Erzählweise jeder definitiven Interpretation entzieht."
Die Schönheit der Macht
Die Grenzen münden hier im Entzug jeder Eindeutigkeit, wie man es ästhetisch sehr viel weitreichender vermuten könnte, schon lange vor der Moderne. Das Blatt wendet sich, wenn man Reinhardts Buch von der Darlegung italienischer Machtstrukturen her liest, den Akzent im Titel also auf Macht legt und weniger auf Schönheit. Der zentrale Faktor dieser Strukturen war bis zur Auflösung des römischen Kirchenstaats 1870 das Papsttum, als religiöse wie monarchistische, Titel verleihende Macht. Bis ins 20. Jahrhundert stammten alle Päpste aus italienischen Familien, die ihre Teilhabe am mächtigsten Sitz Italiens zu sichern suchten, mit Günstlingspolitik.
Wer heute die Sixtinische Kapelle im Vatikan besucht, steht zugleich in der Kapelle zu Ehren ihres Namengebers, Papst Sixtus IV. An ihm zeigen sich exemplarisch die Folgen dieser einflussreichen Günstlingspolitik, des Nepotismus, für ganz Italien. So wollte der Franziskaner einen Verwandten zum Fürsten machen, Mailand bot ihm dafür die Stadt Imola zum Kauf an. Nun war aber Florenz ebenfalls am Kauf der Stadt interessiert, wo die Medici das Sagen hatten. Lorenzo de Medici geriet als wiederum Hofbankier des Papstes nun in eine unhaltbare Situation. Seiner Stadt getreu verweigerte er seinem Dienstherrn Sixtus IV. den nötigen Kredit. Der bedankte sich auf seine Art: Am 26. April 1478 organisierte er im Florentiner Dom einen Mordanschlag auf Lorenzo de Medici und seinen Bruder, den Lorenzo jedoch überlebte und daraufhin anderthalb Jahre Krieg gegen den Papst führte. Zum weiteren Verlauf vermerkt Reinhardt:
"In den letzten Jahren seiner Regierung versuchte der ehemalige Franziskanergeneral, das Königreich Neapel für seine Familie zu gewinnen; dafür war er sogar zur Abtretung von Herrschaftsrechten des Kirchenstaats bereit. Wertkonservative Kardinäle an der Kurie betrachteten diese Entwicklung mit tiefer Sorge, doch aufzuhalten vermochten sie die Eskalation nicht./ Von wenigen Atempausen abgesehen blieb der Aufstieg der Nepoten bis zum Ende des 17. Jahrhunderts ein Hauptzweck aller Pontifikate und auch danach, trotz einer rigorosen Einschränkungsbulle Innozenz’ XII. von 1692, ein wichtiges Ziel päpstlicher Politik."
Strahlende Günstlinge
Das bedeutet, wie der Historiker ausdrücklich festhält, dass bis zur Französischen Revolution allein Papstverwandte sich als Aufsteiger in der gesamtitalienischen Elite zu etablieren vermochten. Und dazu bedurften sie nicht nur kirchlicher Weihen, sondern auch kultureller, um sich mit – wie Pierre Bourdieu es soziologisch nannte – symbolischem Kapital darzustellen, als gebildet. Die päpstlichen Newcomer benötigten aristokratisches Prestige, um ihre Position zu festigen. Der Feudalismus war demzufolge kein starres System getrennter Welten. Der Sohn eines geborenen Hutmachers, welcher es selbst bereits zum Hausverwalter gebracht hatte, konnte auf die Art Sekretär eines päpstlichen Günstlings und darüber hinaus Kardinal werden, wie im Fall von Giulio Mazzarini im 17. Jahrhundert.
Dieser Distinktionsdrang kam der Förderung von Kunst und Kultur zugute, aber auch dem gewaltsamen Streit um kulturelle und politische Hoheit. Wie subtil dieser Streit noch in seiner Schlichtung geführt wurde, davon zeugt unter anderem die Sixtinische Kapelle. Um also an das Beispiel von Sixtus IV. und den Kampf mit Lorenzo de Medici anzuknüpfen: Der Papst bedurfte der besten Maler, um seine Kapelle im Zentrum der Macht zu verewigen. Und nicht nur das Geld war damals bei den Medici, auch die florentinischen Meister ihrer Zeit, wie Sandro Botticelli etwa. Nach den anderthalb Jahren Krieg zwischen Papst und Bankier kam es zum verbitterten Frieden, wie er noch heute im Vatikan zu besichtigen ist:
"Die Entsendung der Maler-Equipe nach Rom war Teil des Friedens, der den Krieg zwischen Sixtus IV. und den Medici (...) beendete. Doch versöhnt war Lorenzo de Medici, der durch den vom Papst gesteuerten Anschlag in der Kathedrale von Florenz seinen Bruder verloren hatte, keineswegs. So fügte Sandro Botticelli, der der Familie der Medici jahrzehntelang nahestand, in seine Bilder subversive Botschaften ein: Eine abgestorbene Eiche beschwört das baldige Ende der Papstsippe, die diesen Baum im Wappen führt; und die Szene, in der Moses den Ägypter tötet, weckt die traumatischen Erinnerungen an den 26. April 1478, den Tag der langen Messer am Arno."
Buchcover: Volker Reinhardt: „Die Macht der Schönheit. Kulturgeschichte Italiens“
Buchcover: Volker Reinhardt: „Die Macht der Schönheit. Kulturgeschichte Italiens“ (C.H. Beck Verlag)
Die ewige Stadt – Rom
Zunächst wurde gesagt, Italien sei von der Renaissance an verbunden mit dem Ideal der republikanischen Verfassung, mit frühkapitalistischem Handeln und Kolonialisierung, republikanischer Rechtssicherheit im Streit mit katholischem Machts- wie Heilsanspruch und damit einhergehend auch dem Streit wissenschaftlicher Redlichkeit gegen dogmatische Lehren. Nun stellt sich das Verhältnis anders dar. Der Katholizismus ist weniger ein bloßes Gegengewicht zu Neuzeit und Aufklärung als vielmehr die zentrifugale Kraft, die Italiens Zerwürfnisse mit Rom wie auch seine Bindung an die Stadt dominierte, aus der Antike kommend, das Mittelalter beherrschend, bis ins 18. Jahrhundert maßgebend.
In Volker Reinhardts Darlegungen wird demnach weniger die Macht ästhetischer Schönheit plausibel als die Verpflichtung der Schönheit auf das nepotistische System des römischen Katholizismus. Und damit auf ein aristokratisches Prestige. Die Gründung Italiens als Nationalstaat besiegelte das Ende des Kirchenstaats, aber auch das Ende seiner repräsentativen Kulturleistungen, wie die Villa Borghese als Modell für den Barock oder zuletzt den Trevi-Brunnen. Aufgrund der späten Industrialisierung des Landes, ab 1880, hatte sich noch kein finanzkräftiges Bürgertum entwickelt, das die Rolle des Kulturförderers hätte übernehmen können. Aristokratischer Glanz überlebte so als Wunschvorstellung die feudalen Zeiten und spiegelt sich noch heute in einem der traditionsreichsten italienischen Wirtschaftszweige, der Textil- und Modebranche. Wie tief dieser Zweig uns mit der Vergangenheit und ihren Sehnsüchten verbindet, hält Reinhardt explizit fest:
"Italien hat die Textilproduktion großen Stils erfunden. Im 13. und 14. Jahrhundert trug, wer etwas auf sich hielt, Kleider aus Italien. Die Kirchen und Paläste in Lucca, Siena und Florenz sind, ökonomisch betrachtet, auf Stoffe gebaut. Dem Vorrang des italienischen Designs konnten weder die Pestepidemien ab 1348 noch die europäischen Hegemonialkriege auf italienischem Boden in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts etwas anhaben. Nach kurzfristigen Einbrüchen erholte sich das Gewerbe stets wieder."
Made in Italy
Die italienische Luxusindustrie deckt heutzutage weltweit insgesamt gut 30 Prozent des Marktes ab, an erster Stelle vor der französischen, mit rund 25 Prozent. Namen wie Gucci, Prada, Armani, Versace sind globalisierte Inbegriffe. Das Geschäft mit der Schönheit zehrt von einem Image, das sich seit vormoderner Zeit bereits als sprezzatura versteht, als gelassene Eleganz. Mentalitäten bilden sich historisch. Der Arme, der sich dem katholischen Feudalismus andiente, konnte in ihm Achtung und Schutz erwarten und es mitunter sogar zu etwas bringen – solange er ihn nicht in Frage stellte. So entsteht eine innere Dynamik, die am System nichts ändert und seinen aristokratischen Leitvorstellungen folgt. Der Kapitalismus mag heute an seine Stelle getreten sein. In Italien beerbte er eine Mentalität, die ihn mit zu entwickeln verhalf und den überkommenen Wunschbildern nach weiter mit ausrichtet, popkulturell, populistisch. Mentalitäten sind also mehr als Klischees, so stereotyp sie bisweilen erscheinen.
Im Rückgang auf kulturelle Identität stellt sich damit die Frage: Das Ideal einer gelassenen, popkulturell eher lässigen Eleganz – spiegelt es etwas von dem Leben wider, das Italien weiterhin prägt? Wenn Ausnahmen die Regel bestätigen, dann ist es wohl so: Stilvoll gekleidete Männer findet man auch in deutschen Bars, uninteressiert gekleidete ebenso in italienischen. Umgekehrt aber wird erst ein Schuh daraus: Wer im Sommer morgens in Rom seinen Espresso trinkt, wird den Unterschied zu Berlin schnell zu sehen bekommen. Es gibt Mentalitätsunterschiede, zweifellos. Volker Reinhardts ungemein kenntnisreiche Kulturgeschichte Italiens zeigt diese Unterschiede nicht nur in ihrem Erscheinungsbild auf – er öffnet das Verständnis für sie, indem er historische Bedingungen verdeutlicht, die erst ihr Entstehen erklären. Als Reisegepäck ist sein wuchtiges Buch vielleicht etwas schwer. Dafür lädt es zur Reise im Sessel ein, viele Abende im Winter lang, bis der Vorfrühling einen daran erinnert, wo die Menschen bereits auf der Piazza frühstücken – in bella Italia.
Volker Reinhardt: "Die Macht der Schönheit – Kulturgeschichte Italiens"
C.H. Beck Verlag, München. 651 Seiten, 38 Euro.