Christine Heuer: Ein historischer Tag. Selbst Angela Merkel hat das Wort heute Früh gebraucht, kurz nachdem die FDP die Jamaika-Sondierungen hat platzen lassen. Die Freien Demokraten wollen lieber nicht als falsch regieren, sagt Christian Lindner, ihr Vorsitzender, und düpierte damit CDU, CSU und Grüne, die eine Einigung ihrerseits zum Greifen nah gefunden haben. – Volker Wissing ist Wirtschaftsminister in Rheinland-Pfalz und war für die FDP bei den Sondierungen in Berlin mit dabei. Guten Morgen, Herr Wissing.
Volker Wissing: Guten Morgen! – Ich grüße Sie.
Heuer: Warum hat die FDP das Projekt Jamaika platzen lassen, Herr Wissing?
Wissing: Das Projekt ist gescheitert. Die Verhandlungen liefen von Anfang an chaotisch. Sie waren nicht strukturiert, sie waren nicht organisiert. Die Bundeskanzlerin hat keinen Konflikt zur Lösung gebracht, sondern es wurde alles vertagt, immer weiter vertagt. Die Dinge waren offen. Es wurden kleine Teilkompromisse immer wieder neu aufgemacht. Es wurden insbesondere seitens der Grünen immer neue Forderungen nachgeschoben, bis dann am vergangenen Donnerstag die eigentlich vorgesehene Einigung gescheitert war. Wir haben dann zwei Tage noch mal weiterverhandelt, eigentlich drei Tage, Freitag, Samstag und Sonntag, und dann wurde es von Stunde zu Stunde schlimmer, chaotischer, und wir fragten die ganze Zeit die Kanzlerin, wie soll das enden, wann werden die großen Konflikte eigentlich geklärt, und ganz offensichtlich fehlte dort jedes Konzept.
Keine ordentliche Organisation der Gespräche erkennbar
Heuer: Also ist Angela Merkel schuld.
Wissing: Die FDP war gesprächsbereit von Anfang an. Wir haben uns auf diese Gespräche eingelassen. Aber es war weder eine ordentliche Organisation der Gespräche erkennbar, noch war in irgendeiner Weise erkennbar, wie man sich eine Zusammenarbeit vorstellt. Es sollte alles so bleiben im Wesentlichen, wie es war. Die Union war bereit, große Zugeständnisse an die Grünen zu machen. Herr Trittin beispielsweise wollte zwölf Milliarden zusätzliche Ausgaben für faire Wärme. Die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger hat die Kanzlerin auf ein Minimum heruntermoderiert. Man hat uns Brosamen angeboten und nannte das ein faires Angebot. Das ist schon grenzwertig und wir fühlten uns am Ende von den Gesprächspartnern nicht mehr ernst genommen.
Heuer: Das heißt, Angela Merkel hat die FDP ausgerechnet zum fünften Rad am Wagen gemacht.
Wissing: Das haben Sie korrekt ausgedrückt. Aber wir hatten von Anfang an deutlich gemacht, dass wir uns nur Gespräche auf Augenhöhe vorstellen können und dass wir bereit sind, in eine Regierung einzutreten, die ein gemeinsames Ziel verfolgt. Wir wollten uns aber nicht daran beteiligen – und das war von vornherein klar -, die Steuereinnahmen für neue Ausgaben zu vergeuden. Wir wollten uns nicht daran beteiligen, den Bundeshaushalt aufzublähen, sondern wir standen für den Abbau des Solidaritätszuschlages und den wollte man auf den Sankt Nimmerleinstag verschieben, mit einer Mini-Entlastung einsteigen. Da sind Zahlen von vier Milliarden genannt worden, während man den Grünen zwölf Milliarden Mehrausgaben für faire Wärme und anderen Unsinn zubilligen wollte. Das ist schon schwierig.
Am Ende stand Merkel mit leeren Händen da
Heuer: Herr Wissing, das haben Sie schon erwähnt. Wann ist denn die Entscheidung der FDP gefallen?
Wissing: Die Gespräche verliefen die gesamte letzte Woche von Tag zu Tag schlechter, bis dann am Donnerstag im Grunde genommen sich alles verhakte. Die Kanzlerin hat diese Themen Zuwanderung, die Fragen der Europapolitik, all das hat sie von Tag zu Tag nach hinten geschoben in der Hoffnung, die Dinge werden sich von selbst auflösen. Am Ende hatte sie aber keinen Kompromissvorschlag und stand mit leeren Händen da.
Heuer: Aber die Frage war, Herr Wissing, wann die FDP ihre Entscheidung getroffen hat, Jamaika zu verlassen, die Sondierungen zu verlassen. Wann war das?
Wissing: Wir hatten immer gesagt, dass wir eigentlich am Donnerstag uns entscheiden wollten. Dann haben wir verlängert und haben gesagt, am Sonntag um 18 Uhr. Und nachdem am Sonntagabend in den späten Abendstunden immer noch kein Horizont erkennbar war, war völlig klar, dass die Gespräche nach vier Wochen gescheitert waren.
"Dem Donnerstag noch einmal eine Chance gegeben"
Heuer: Dann hat Jürgen Trittin, der unter anderem (auch andere tun das) der FDP vorwirft, das sei kalkuliert gewesen, recht, denn Sie wussten es schon seit einigen Tagen.
Wissing: Nein! Wir haben das nicht seit einigen Tagen gewusst, sondern alle wussten, dass wir uns ein Ende gesetzt haben, und alle wussten, dass wir innerhalb dieser Zeit zu einem Ergebnis kommen mussten. Wir haben am Donnerstag dem Ganzen noch mal eine Chance gegeben. Wir waren aber dann gestern, nachdem die Gespräche sich eher verschlechtert hatten als verbessert hatten, in einer Situation, wo völlig klar war, dass dieses Bündnis keine Perspektive hat.
Heuer: Wie stellen Sie sich jetzt die Zukunft vor, Herr Wissing? Was soll als nächstes passieren? Neuwahlen? Eine Minderheitsregierung? Haben Sie sich darüber Gedanken gemacht?
Wissing: Das muss man jetzt sich in Ruhe anschauen. Unsere Aufgabe war, in den letzten vier Wochen zu eruieren, ob es möglich ist, sich auf ein gemeinsames Regierungsprogramm mit CDU/CSU und Grünen zu verständigen. Das war offensichtlich nicht möglich. Ich betone noch mal: Nach vier Wochen über 200 Punkte im Dissens, im Streit, keinen Millimeter Bewegung bei den Grünen, aber wirklich kein Millimeter.
"Sie hat die Lage völlig falsch eingeschätzt"
Heuer: Das haben die Beobachter anders wahrgenommen, aber da steht jetzt Aussage gegen Aussage. Denn wir als Beobachter und auch unsere Hörer waren natürlich nicht dabei, bei den Sondierungen. – Herr Wissing, ich würde gerne mit Ihnen jetzt auch noch mal kurz nach vorne schauen. Wenn es Neuwahlen gibt und die AfD geht noch stärker aus diesen Neuwahlen hervor als schon aus den Bundestagswahlen, fühlen Sie sich dann dafür stark mitverantwortlich?
Wissing: Die Bundeskanzlerin hatte einen Regierungsbildungsauftrag. Sie hat chaotische Sondierungsverhandlungen organisiert. Sie hat die Lage völlig falsch eingeschätzt und kein tragfähiges Angebot für eine gemeinsame Regierungsarbeit vorlegen können. Damit ist die Union mit dem Regierungsbildungsauftrag offensichtlich überfordert gewesen. Jetzt muss man nach vorne blicken, wie es weitergeht. Im Zweifel müssen die Wählerinnen und Wähler …
Heuer: Genau das wollte ich gerade tun. Wenn die AfD noch stärker wird, nimmt die FDP das dann auf ihre Kappe?
Wissing: Es wäre unverantwortlich gewesen, sich einer Regierung anzuschließen, die die Politik der Großen Koalition fortsetzt, denn unter der Politik der Großen Koalition ist die AfD ja so stark geworden. Deswegen umgekehrt: Die klare Haltung der FDP ist ein Beitrag dazu, dass der Extremismus in Deutschland nicht weiter gestärkt wird. Wir können nicht akzeptieren, dass eine Kanzlerin sagt, ich habe alles richtig gemacht, es bleibt alles so, und dabei völlig ignoriert, dass ihre Politik der letzten Jahre zur Erstarkung des rechten Randes geführt hat.
"FDP hat ein neues Selbstbewusstsein entwickelt"
Heuer: Jetzt haben Sie sehr ausführlich in diesem Interview Angela Merkel immer wieder kritisiert. Mit dieser Kanzlerin kann die FDP offenbar nicht regieren. Für eine Minderheitsregierung stünden Sie auch nicht zur Verfügung?
Wissing: Wir haben uns auf die Gespräche eingelassen, und zwar sehr offen. Es wird uns auch niemand vorwerfen können, dass wir nicht kompromissfähig gewesen seien. Ich habe meinen persönlichen Beitrag dazu geleistet, dass im Bereich der Landwirtschaft beispielsweise, aber auch in der Finanzpolitik Kompromisslinien aufgezeigt worden sind. Man hat aber völlig falsch eingeschätzt, dass die FDP auch nach der schwierigen Zeit, die sie in der außerparlamentarischen Opposition hatte, ein neues Selbstbewusstsein entwickelt hat und nicht bereit ist, um jeden Preis in eine Regierung einzutreten.
Offensichtlich dachte man, die FDP sei so eine Art Sowieso-Faktor, die man schon dabei hat, egal wie die Inhalte aussehen, und das ist mit der FDP nicht mehr zu machen. Wir haben einen Vorsitzenden, der klar strukturiert ist und der auch immer wieder vom ersten Tag an klare Grenzen aufgezeigt hat. Das zu ignorieren, war fatal. Dass die Grünen gedacht haben, sie können mit ihren Forderungen überziehen, weil die FDP sowieso regieren will, war eine fundamentale Fehleinschätzung. Hier haben alle Gesprächspartner offensichtlich unterschätzt, mit welchem klaren Ziel die Freien Demokraten sich neu aufgestellt haben.
"Wir stehen Regierung auch in Zukunft zur Verfügung"
Heuer: Und das heißt, Herr Wissing, Sie sagen uns heute Morgen, die FDP, der Platz der FDP ist und bleibt erst einmal für die nächsten Jahre in der Opposition?
Wissing: Die FDP hat eine schwierige Phase hinter sich. Die FDP hat gesagt, wir werden unsere Inhalte keinen Ämtern opfern, und das haben wir auch durchgehalten. Deswegen stehen wir für Regierungen auch in Zukunft zur Verfügung, aber nicht um jeden Preis, und wir werden auf keinen Fall uns einer Regierung anschließen, die nicht mehr zu bieten hat als ein weiter so, und diese Haltung wird der FDP auch in Zukunft Leitlinie sein.
Heuer: Volker Wissing aus dem Sondierungsteam der FDP, die heute Nacht aus den Jamaika-Sondierungen ausgestiegen ist. Herr Wissing, haben Sie vielen Dank für das Gespräch. Einen angenehmen Tag für Sie.
Wissing: Das wünsche ich auch Ihnen. Danke schön.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.