Gleich eine Auffälligkeit zu Beginn: Präsident Putin hat zwar keinen Zweifel daran gelassen, dass er für die Verfassungsänderungen eine Mehrheit erreichen möchte. Aber intensive Werbung dafür hat er in den vergangenen Wochen nicht gemacht. Das übernehmen die staatlichen Medien und Agenturen, die seit Wochen im Netz, im Fernsehen und auf Plakatwänden landesweit für ein Ja werben. Gegenargumente finden in sozialen Netzwerken nur kleine Räume.
Jedoch hat Putin Zeichen gesetzt, die von den angesprochenen Zielgruppen sicherlich wahrgenommen wurden. Zum Beispiel hat er vor wenigen Tagen die neu errichtete Hauptkirche der Streitkräfte besichtigt und gestern die Parade zum Tag des Sieges abgenommen. Das dient religiösen und patriotischen Milieus als Argument für die umgeschriebene Verfassung – sie finden dort nun Formulierungen vor, die ihre Werte widerspiegeln.
Und der Präsident hat vor dem Hintergrund der Pandemie höhere Sozialausgaben versprochen. Man habe das Virus zwar nun unter Kontrolle, behauptete er. "Aber die Arbeitslosigkeit ist angestiegen. Die Schwierigkeiten haben noch nicht nachgelassen. Deshalb halte ich es für notwendig, noch einmal, im Juli, zusätzlich 10.000 Rubel für jedes Kind von null bis 16 Jahre auszuzahlen."
10.000 Rubel entsprechen knapp 130 Euro. Für viele Familien ist das viel Geld. Und wenige Sätze später erhöhte er für Top-Verdiener die Einkommenssteuer moderat. Auch das kann sich in Stimmen für ihn auszahlen.
Soziologen messen sinkende Werte für Putin
Womit der Präsident so gut wie nicht wirbt: mit der Annullierung seiner Amtszeiten, die es ihm erlaubt, 2024 erneut als Kandidat anzutreten. Soziologen messen seit Wochen auch für Putin sinkende Werte bei der Frage, welchem Politiker die Bürgerinnen und Bürger vertrauen.
Ohnehin ist das Interesse überwiegend gering. Es gilt die Faustregel: Je jünger und je urbaner, desto eher interessieren sich Menschen gar nicht für die Kampagne oder sind gewillt, mit Nein zu stimmen. Allerdings hat sich die außerparlamentarische Opposition nicht auf eine Position geeinigt: Manche Akteure fordern dazu auf, die Abstimmung zu boykottieren, anderen empfehlen den Gang ins Wahllokal, um dann sein Kreuz bei Nein zu setzen.
Medienrecherchen zufolge hat der Kreml den Gouverneuren in den Regionen Zielvorgaben gemacht, wie es bei anderen Abstimmungen sonst auch geschieht. Diesmal soll die Wahlbeteiligung bei 55 Prozent liegen, die Mehrheit für "Ja" bei mindestens 60 Prozent. Schon jetzt mehren sich die Berichte darüber, wie nachgeholfen wird: In manchen Regionen werden Preisausschreiben für Wähler veranstaltet.
Und Menschen, die für den Staat oder staatliche Unternehmen arbeiten – und das sind in Russland viele Millionen – seien mal mehr, mal weniger streng aufgefordert worden abzustimmen. Manche sollten gleich ein Foto von sich und dem Wahlschein machen.
Elektronische Abtimmung in Moskau und Nischnij Nowgorod
In Moskau und Nischnij Nowgorod kann elektronisch abgestimmt werden; und dass entsprechende Konten leicht auf fremde Namen eingerichtet werden können, haben Journalisten bereits dokumentiert.
Die Politologin Jekaterina Schulman gibt deshalb im Sender Echo Moskaus zu bedenken: "Die Regeln dieser Abstimmung sind so geschrieben, dass sie Fälschungen sehr stark erleichtern: Die Ausdehnung der Abstimmung, dass die Stimmzettel nachts irgendwo aufbewahrt werden, und es ist nicht klar, wer sie dort wie beaufsichtigt".
Die Ausdehnung der Abstimmung von einem auf nun sieben Tage ist offiziell der Corona-Pandemie geschuldet. Es sollen sich – je nach Größe – maximal zwölf Menschen pro Stunde in einem Wahllokal aufhalten. Die Räume und Apparaturen sollen jede Stunde einmal desinfiziert werden. Doch auch dann wird es Wahlbeobachtern wohl unmöglich sein, die Wahlurne im Auge zu behalten. Abgestimmt wird bis einschließlich Mittwoch, den ersten Juli.