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Volksabstimmung vor 100 Jahren
Oberschlesiens folgenreiches Votum

Nach dem Ersten Weltkrieg geriet das zweisprachige Oberschlesien mit seiner Schwerindustrie zum Zankapfel zwischen Deutschem Reich und Polen. Am 20. März 1921 sollte eine Volksabstimmung über die Staatszugehörigkeit der Region entscheiden. Das Ergebnis blieb kompliziert.

Von Doris Liebermann |
    Ein Schwarzweiß-Foto zeigt eine große Menschenmenge am Gleis in einer großen Bahnhofshalle ,zum Großteil Fahnen schwenkend vor einem Zug aus zwei Waggons. Links sind zahlreiche Frauen in weißen Röcken, vermutlich einer Tracht zu sehen die dem Zug entgegen winken. Auf der rechten Bildhälfte bfinden sich zahlreiche Männer in Anzug und mit Schirmmützen Ein Sonderzug für Stimmberechtigte bei der Volksabstimmung Schlesien am 20. Maäz 1921 wartet im Schlesischen Bahnhof Berlin
    Abfahrt eines Sonderzugs von Berlin nach Schlesien. Rund 170 .000 Stimmberechtigte reisten aus der ganzen Welt zur Volksabstimmung am 20. März 1921 (picture-alliance / akg-images )
    "Ein unabhängiger polnischer Staat soll geschaffen werden, der alle unstreitbar von polnischer Bevölkerung bewohnten Gebiete umfasst, ein freier und sicherer Zugang zum Meer soll ihm gewährleistet werden."
    Das sagte der amerikanische Präsident Thomas Woodrow Wilson im Januar 1918 vor dem Kongress in Washington zur Neuordnung Europas, zehn Monate vor Ende des Ersten Weltkrieges.

    Polen hatte nicht als Staat existiert

    Polen hatte 123 Jahre lang nicht als Staat existiert, es war von Russland, Preußen und Österreich geteilt worden. Im November 1918 war es so weit: die Polnische Republik wurde ausgerufen. Bald darauf überreichte die polnische Delegation der Pariser Friedenskonferenz eine Schrift, in der alle Gebietsforderungen Polens genau beschrieben und ethnisch, historisch oder wirtschaftlich begründet waren.
    Auch fast ganz Oberschlesien gehörte dazu, nach dem Ruhrgebiet das zweite große Industrierevier im Deutschen Reich. Jahrhundertelang war es ein sprachliches Mischgebiet gewesen. Dazu Wojciech Beblo, Bewohner der Wojewodschaft Katowice:
    "Es kam vor, dass diejenigen, die glaubten, dass nur die Deutschen oder nur die Polen um ihre gerechte Sache kämpften, am selben Tisch saßen, unter der Aufsicht desselben Vaters, und das gleiche Abendbrot aßen, von der gemeinsamen Mutter zubereitet."

    Zwei Millionen Oberschlesier sollten entscheiden

    Nach einer Bestimmung des Versailler Vertrages sollte der mehrheitliche Wille der etwa zwei Millionen Bewohner Oberschlesiens entscheiden, ob sie weiterhin zum Deutschen Reich oder künftig zu Polen gehören wollten. Vor der Abstimmung kam es zu zwei Aufständen, mit denen die polnische Seite schon vorab vollendete Tatsachen schaffen wollte, vergeblich. Dabei starben Deutsche und Polen, und auch danach kam es immer wieder zu Übergriffen und Gewalt beider Seiten.
    1745: Der Frieden von Dresden - Als Schlesien preußisch wurde
    Preußens König Friedrich II hatte gerade erst den Thron bestiegen, als er einen Krieg gegen Österreich um die Vorherrschaft in Schlesien anzettelte. Für ihn ging dieser Zweite Schlesische Krieg nach hohem Blutzoll glücklich aus.

    Das Referendum wurde für den 20. März 1921 angesetzt. Eine interalliierte Kommission überwachte das Geschehen. Stimmberechtigt waren alle volljährigen Personen und jene, die seit längerer Zeit in dem Gebiet lebten, insgesamt etwa 1,2 Millionen Menschen. Auch auswärts lebende Schlesier durften mit abstimmen, selbst wenn sie nach Amerika ausgewandert waren. Sie mussten allerdings persönlich zur Wahlurne gehen. An die 170.000 Menschen aus der ganzen Welt reisten an, und hunderte Sonderzüge aus allen Teilen des Deutschen Reiches trafen ein. Für Werbezwecke wurde auch Geld gesammelt, wie sich eine Zeitzeugin erinnerte:
    "Ich war damals im dritten Schuljahr, und da kam mein Vater als Rektor in die Klasse und hat gesagt: Kinder, schaut mal die Landkarte, im Osten ist Oberschlesien, da ist jetzt eine Abstimmung, und ich gebe Euch jetzt Karten, und ihr geht jetzt in dem Dorf herum und verkauft die Karten und den Erlös, den geben wir für die Wahl, damit die Deutschen, die deutsch bleiben wollen, auch deutsch wählen können in Oberschlesien."

    Ein unerwartet friedlicher Urnengang

    Die Abstimmung fand am Palmsonntag 1921 statt. Der erste Vertriebenenminister im ersten Kabinett Adenauer, Hans Lukaschek, war zu der Zeit Landrat in Oberschlesien:
    "Es war ein schöner Frühlingssonntag. Am frühen Morgen durchfuhr ich die Kreise Rybnik, Pless, Kattowitz, es herrschte überall Ruhe und Frieden. Die Polen hatten die Parole ausgegeben, nirgends zu stören, um nicht eine Anfechtung der Abstimmung heraufzubeschwören. Bei den Deutschen herrschte überall Zuversicht."
    12.12.2018, Polen, Bedzin: Rauch steigt aus den Schornsteinen im Kohlekraftwerk Lagisza bei Kattowitz. Noch bis 14. Dezember findet in der südpolnischen Stadt der UN-Klimagipfel zum Klimawandel statt. Foto: Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild/dpa | Verwendung weltweit
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    Polens "schwarzes Herz" wird die Region um die schlesische Kohle- und Stahlstadt Katowice genannt. Viele stehen hier noch treu zum Bergbau. Aber die Zeiten ändern sich, Dutzende Zechen wurden geschlossen, weitere sollen folgen. Der wirtschaftliche Wandel funktioniert.
    98 Prozent der Oberschlesier beteiligten sich an dem Plebiszit. Fast 60 Prozent stimmten für Deutschland, 40 Prozent für Polen. 664 Gemeinden hatten demnach eine deutsche Mehrheit, 597 eine polnische. Die Alliierten beschlossen aufgrund des Ergebnisses eine Teilung Oberschlesiens, die 1922 unter Aufsicht des Völkerbundes vollzogen wurde. Das Deutsche Reich behielt den landschaftlich reizvollen westlichen Regierungsbezirk Oppeln, Polen bekam den Osten mit dem Industrie- und Bergbaugebiet um Kattowitz – ein schwerer wirtschaftlicher Verlust für die Deutschen.
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    Traditionsbewusstsein - Schlesien ohne Grenzen
    Sie kommen aus Polen, Deutschland, Tschechien, Österreich und sie pflegen gemeinsam ihre schlesische Identität – über die nationalen Grenzen hinweg. Es geht um Heimat, Versöhnung und darum, was es heißt, Schlesier zu sein.