"Volksentscheid Fahrrad unterstützen, schon unterschrieben?" - "Wir sind keine Berliner…"
Gestern Abend vor dem Brandenburger Tor. Mehr als 1.000 Radfahrerinnen und Radfahrer - alle in weißen T-Shirts - treffen sich zum "Ride of Silence". Schweigend wollen sie an die in Berlin getöteten Radfahrer erinnern. Sieben Personen sind es in diesem Jahr bereits, zehn starben im letzten Jahr. Mittendrin ein paar Aktivisten mit Klemmbrettern, Unterschriftenlisten und Kugelschreibern. Das Volksbegehren für eine bessere Fahrrad-Infrastruktur geht in die erste Runde.
"Volksentscheid Fahrrad unterschreiben, mehr Geld für Fahrradfahrer? Hat noch jemand nicht unterschrieben?"
Initiator Heinrich Strößenreuther freut sich - in Windeseile sind die ersten Unterschriftenlisten voll.
"Das Ziel ist mehr als 20.000 Unterschriften bis zum 10. Juni."
Dann folgt die nächste Stufe des Volksbegehrens. Ziel ist ein Volksentscheid zeitgleich mit der Bundestagswahl im nächsten Jahr. Fahrradaktivist Strößenreuther - im Hauptberuf Unternehmensberater - will dem rot-schwarzen Senat Druck machen. Das Fahrradfahren in Berlin soll bequemer und sicherer werden:
"Wir haben in Berlin 500.000 Fahrradfahrer, die jeden Tag eine schlechte Rad-Infrastruktur wahrnehmen. Und wir haben den Riesenvorteil im Vergleich zu anderen Volksbegehren: Wir erkennen unsere Klientel daran, dass sie ein Fahrrad haben."
"Pro Fahrrad" könnte zu "Contra Senat" werden
Dem rot-schwarzen Senat passt das Fahrrad-Volksbegehren ganz und gar nicht, am allerwenigsten zum jetzigen Zeitpunkt. Wird doch im September ein neues Abgeordnetenhaus gewählt, das Ansehen der Großen Koalition befindet sich im Keller. In aktuellen Umfragen zeigen sich zwei von drei Befragten mit der Arbeit des Senats unzufrieden. CDU und SPD befürchten: Die Unterschriftensammlung "Pro Fahrrad" könnte zur Unterschriftensammlung "Contra Senat" werden. Christian Gäbler ist Verkehrsstaatssekretär und Mitglied im SPD-Landesvorstand:
"Davon müssen wir mal wegkommen, dass Volksentscheide immer als Instrument gegen die Regierung genutzt werden. Sondern dass Volksentscheide wirklich als Sache genutzt werden für ein bestimmtes Thema, um etwas voranzubringen. Dass man auch die Chance sieht, im Dialog Sachen besser zu machen."
Pech für die Berliner Landesregierung unter Sozialdemokrat Michael Müller: Nicht eines, gleich vier Volksbegehren sprechen dem Senat ihr Misstrauen aus. Die FDP - die im Herbst wieder ins Landesparlament einziehen will - setzt sich an die Spitze einer Bewegung zur Offenhaltung des Flughafens Tegel. Sportvereine und -verbände wollen, dass die von Flüchtlingen belegten Turnhallen schnellstens freigezogen werden, Radaktivisten fordern mehr Fahrradwege und Abstellplätze und - viertens - haben sich die unterschiedlichsten Vereine und Verbände zur Initiative "Volksentscheid retten" zusammengetan. Michael Efler - Sprecher des Vereins "Mehr Demokratie":
"Es hat sich eine Initiative 'Volksentscheid retten' gegründet in Berlin, die die Berliner Verfassung ändern will. Es geht darum, Volksentscheide fairer, verbindlicher, machbarer zu machen. Der wichtigste Punkt ist, dass Volksentscheide nicht mehr so einfach durch das Abgeordnetenhaus gekippt werden können, wie das beim Tempelhofer Feld der Fall war."
Senat kann sich über den Entscheid hinwegsetzen
Derzeit gilt die Regel: Das Abgeordnetenhaus kann sich über einen Volksentscheid hinwegsetzen und das entsprechende Gesetz novellieren. So geschehen beim ehemaligen Flugfeld. Vor zwei Jahren gewann die Initiative "100 Prozent Tempelhofer Feld" den Volksentscheid gegen den Berliner Senat, der einen Teil der Freifläche bebauen wollte. Im letzten Jahr dann änderte das Landesparlament das Tempelhof-Gesetz, um dort Bauten für Flüchtlinge zu ermöglichen. SPD-Bausenator Andreas Geisel beteuerte:
"Wir stellen die Volksabstimmung ausdrücklich nicht infrage. Es geht also ausschließlich um die temporäre Unterbringung von Flüchtlingen, befristet bis zum 31. Dezember 2019."
Ein Notfall sei das, so Bausenator Geisel Ende letzten Jahres, deshalb müsse der Volksentscheid vorübergehend außer Kraft gesetzt werden. Die Änderung des Gesetzes sorgte für viel Unmut bei den Aktivisten für mehr direkte Demokratie. Michael Efler:
"Ich glaube auch, dass es ein Stück weit darum geht, ein Signal zu setzen, wir Senat, wir lassen uns nicht von den Bürgern unsere Freiheit, so zu entscheiden, wie wir wollen, nehmen. Das finde ich schade und ärgerlich, und für das Ansehen von Politik und Parlament im Allgemeinen ist es einfach kontraproduktiv."
"Das ist leider bei diesen Volksbegehren immer so, dass immer unterstellt wird, der Senat oder auch die Regierungsfraktionen würden das Volks nicht ernst nehmen und alles, was das Volk einbringt, ist gut, und alles, was wir machen, ist schlecht," beschwert sich Verkehrsstaatssekretär Christian Gäbler. Das Problem für SPD und CDU - nicht nur Volksentscheid-Aktivisten, auch die AfD pflegt diese Haltung.