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'Volksaufstand oder Konterrevolution? Der 17. Juni und die Künstler'

Papier ist eine prima Erfindung: Was darauf fixiert wird, ob in Schrift oder in Bild, gibt ein Zeugnis der Vergangenheit, wo die Zeitgenossen längst verstummt sind. Wir alle, die wir den kleinen geschichtshermeneutischen Führerschein besitzen, stehen gelassen vor Dokumenten jeder Art – Briefen, Aktennotizen, Manifesten, Zeitungsausschnitten – und denken sachkundig den doppelten Boden mit: In welcher Situation sich der Schreiber befand, was er sagte, was er eigentlich sagen wollte und was er keinesfalls sagen konnte. Aber lohnt sich der Aufwand einer öffentlichen Ausstellung für die dreieinhalb fachkundigen Laien, die stolz den kleinen geschichtshermeneutischen Führerschein in der Tasche tragen? Schickte man sie nicht besser ins Archiv zur selbständigen Recherche? Ein bekanntes Dilemma, wann immer historisches Material zur Präsentation gelangt. Ganz besonders, wenn es sich um Vorgänge im ideologischen Überbau einer Diktatur handelt. Dann nämlich muss sich der Ausstellungsbesucher ein Urteil auf sehr schwankendem Boden bilden: Wertet er taktische Ergebenheitsadressen von Künstlern an ihre Regierung stärker als heimlich notierte Widerstandslyrik, ja woran erkennt er überhaupt, dass die Ergebenheitsadressen nur taktisch gemeint gewesen sind? Die Intellektuellen stehen dem Volke fern und haben ihm eines voraus: Sie leiden nicht unter der Naivität der einfachen Wahrheit, sondern wissen, dass gerechte Forderungen von unten oben als Konterrevolution ankommen. Da gilt es, Kopf und Gesicht zu bewahren und für beide Seiten schön auszusehen.

Von Florian Felix Weyh |
    Aber es gibt auch andere Interpretationsmöglichkeiten. Rolf Schneider, am 17. Juni 1953 Student in Halle – neben Berlin zweite Hochburg der spontanen Volkserhebung –, ist sich heute sicher, dass der Schock der überwiegend aus zurückgekehrten Emigranten bestehenden Intelligenzija echt und nicht liebesdienerisch gewesen sei. Sie sahen, acht Jahre nach Kriegsende, voller Erschrecken den Mob auf der Straße tanzen, und der Mob war nach ihren Begriffen faschistisch. Selbst der fernab in der Schweiz lebende Thomas Mann konnte nicht glauben, dass das deutsche Volk ohne Fremdsteuerung den Mut zu Protesten gegen ein übermächtiges Regime aufgebracht haben könne. Sehr manipulativ musste die Staatspropaganda also nicht mit dem Erschrecken der Schriftsteller umgehen, und schon spricht das Material auf den Schautafeln eine andere Sprache. Wie gut, dass es Podiumsdiskussionen gibt, und wie gut, dass ein fünfzigjähriges Jubiläum noch Chancen einräumt, Zeitzeugen zu Gehör zu bringen. So diametral entgegengesetzte Wahrnehmungen wie die eines Politbüromitarbeiters – Fritz Schenk, später Redakteur bei Gerhard Löwenthals "ZDF-Magazin" – und des damals noch "guten Genossen" Erich Loest vereinigen sich in der Rückschau zur deprimierenden Einheitsmeinung: Dass die mutigen Aufständischen von 1953 nicht den Hauch einer Erfolgschance besaßen. Keine der politischen Mächte der Zeit hegte ein Interesse, den fragilen Status quo in Europa durch eine revolutionäre Bewegung von unten gefährdet zu sehen.

    Haben das die Schriftsteller und Künstler vielleicht geahnt? In ihrer Mehrheit sicher nicht. Wer der Gleichsetzung von Mob und Faschismus misstraute, wählte eine Position zwischen Schläue und Opportunismus, deren trennende Grenze von heute aus kaum zu erkennen ist. Meisterdialektiker Bert Brecht machte den berühmte lyrischen Vorschlag von der Auflösung des Volkes durch die Regierung (erst Jahre später im Westen veröffentlicht), während im "Neuen Deutschland" eine – freilich entstellend gekürzte – Ergebenheitsadresse an Ulbricht erschien. An anderer Stelle notierte er ebenso hellsichtig wie zynisch die Verszeilen: "Versprochen worden sind Äpfel / ausgeblieben ist Brot." Zynismus bleibt der einzige gemeinsame Nenner der Intellektuellenzeugnisse rund um den 17. Juni. Man wusste mehr, als man sagen durfte, und das befördert keine aufrechte Haltung. Aus den Dokumenten der Ausstellung lässt sich das ungeübten Auges freilich schwer herauslesen. Man benötigt die Assistenz hilfreicher Interpreten wie Rolf Schneider oder Erich Loest, auch wenn der mit seinem Vorschlag, den 17. Juni zum "Tag des kecken Bürgers" zu ernennen, gleichermaßen ins Schwarze wie doch empfindlich daneben trifft. Ihre Keckheit bezahlten die Aufständischen in nicht geringer Zahl mit dem Leben, und das für kaum mehr als einen symbolischer Hoffnungsschimmer. Im Stich gelassen wurden sie nicht zuletzt von jenen, die sonst immer zu Mut vor Fürstenthronen aufrufen. "Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren", schrieb der amerikanische Sozialphilosoph Eric Hoffer im Hinblick auf Revolutionen, "der Intellektuelle sei am allerwenigsten dazu geeignet, mit den Massen umzugehen." Denn Bildung, konstatierte er, "erweckt in uns nicht unbedingt das Verlangen, uns um die Ungebildeten zu kümmern." Schon gar nicht wenn sie gerade den Kopf für uns hinhalten.

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