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70 Jahre Volksaufstand
Staatsdoping im DDR-Sport - Machterhalt auf Kosten der Gesundheit

Am 17. Juni 1953 demonstrierten etwa eine Million Menschen gegen das DDR-Regime. Sportliche Erfolge sollen zum Machterhalt beitragen - auch mit Hilfe von Staatsdoping. Betroffene kämpfen bis heute um Entschädigungen.

Von Wolf-Sören Treusch |
Tablettenpackung der VEB Jenapharm: das Anabolikum - Oral Turinabol. Das im DDR-Leistungssport am häufigsten verwendete Anabolikum.
Oral-Turinabol war das im DDR-Leistungssport am häufigsten verwendete Anabolikum. In vielen Fällen wussten die Sportler nicht, was sie da einnahmen. (imago images/sportfotodienst/Steinach)
"Unter dem Haus, in dem ich wohnte, zogen Tausende von Menschen mit den Rufen: ‚Spitzbart, Bauch und Brille ist nicht des Volkes Wille!‘ und ähnlichen Parolen", sagte Zeitzeuge Werner Nuck.
Am 17. Juni 1953 gehen in Ost-Berlin etwa 100.000 Menschen auf die Straßen und protestieren gegen Walter Ulbricht und das SED-Regime. In der DDR insgesamt demonstrieren eine Million Menschen für bessere Arbeitsbedingungen und freie Wahlen.
"Und dann auf einmal brüllten die Leute: ‚Panzer kommen’. Den ersten Toten hatten wir gehabt, als wir zum Brandenburger Tor fuhren. Da kamen sieben Panzerspähwagen und fuhren von hinten in unseren Zug rein. Und da war der erste Tote gewesen."
Die friedlichen Proteste werden von sowjetischen Panzern gewaltsam beendet. Mindestens 55 Menschen sterben, etwa 15.000 werden verhaftet und verurteilt.

Winklmann (Grüne): "Opfer müssen entschädigt werden"

"Es geht um Unrecht. Und es geht genau darum: was hat sich aus dem DDR-System alles entwickelt?“ Tina Winklmann, sportpolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen, gibt die Richtung vor für den Workshop zum Thema Staatsdoping in der DDR. „Das DDR-Dopingsystem ist nicht mit der Wende gestorben. Die Opfer müssen entschädigt werden.“
Nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 versucht das SED-Regime alles, um die Überlegenheit des Sozialismus zu demonstrieren. Internationale sportliche Erfolge werden Staatsziel. Je mehr Goldmedaillen desto bedeutender der Staat, der sie gewinnt, lautet die simple Formel.
Doping hilft, die gewünschten Ziele zu erreichen, aber auch eine ausgeprägte Form des Mitläufertums, sagt die Journalistin Grit Hartmann, Autorin des Buches „Goldkinder. Die DDR im Spiegel ihres Spitzensports“: „Dieses System, was ja wirklich ein Verbrechen war, so klar muss man das sagen, ist etabliert worden mit der Hilfe von Hunderten von Ärzten, von Trainern, die einfach mitgemacht haben. Und das ist diese Gehorsamsgesellschaft, die Diktaturen bis heute sind, und die der Sport auf eine besondere Art und Weise eingefordert hat und auch erhalten hat, und wenn man das ins Heute denkt, neigt der Sport dazu, Gehorsam, Disziplin, solche Eigenschaften überzubewerten.“

Sportlerinnen und Sportler unwissentlich gedopt

Mit dem "Staatsplanthema 14.25" verfolgt die DDR ab 1974 ein staatlich gelenktes Dopingprogramm. Leistungssportlerinnen und -sportler erhalten – oftmals unwissentlich – von Trainerinnen, Trainern und Sportärzten Anabolika und andere leistungssteigernde Substanzen.
„Wir waren fremdbestimmt in der DDR“: Eines der Opfer: Andreas Krieger, geboren 1965 als Heidi Krieger, kommt mit 13 zur Leichtathletik, wird ohne sein Wissen mit den berüchtigten blauen Pillen – dem anabolen Steroid Oral-Turinabol – regelrecht gemästet, gewinnt mit 21 den EM-Titel im Kugelstoßen der Frauen. „Durch andere Menschen wurde auf meine Gesundheit eingegriffen, ohne dass ich etwas ändern konnte. Und ich war so naiv und habe es machen lassen. Es gab Menschen, die zum Volksaufstand aufgerufen haben, weil sie sich gewehrt haben, weil sie mitbekommen haben: da passiert was mit ihnen. Ich war nicht in der Lage mitzubekommen, ob mir was passiert, weil: ich dachte, ich werde im Sport super behandelt, und man macht sich um meine Gesundheit auch Gedanken und auch Sorgen. Ich habe es nicht verstanden damals, was mir passiert und angetan wurde.“

1.634 anerkannte Doping-Opfer

1997 unterzieht sich Andreas Krieger einer geschlechtsangleichenden Operation. 1999 wird er Beirat des frisch gegründeten Doping-Opfer-Hilfe-Vereins. Er ist staatlich anerkanntes DDR-Dopingopfer, eines von mittlerweile 1.643. Dafür hat er eine Einmalzahlung in Höhe von 10.500 Euro erhalten. Für die Anerkennung müssen die Opfer eindeutige medizinische Gutachten vorlegen. 
„Wir kämpfen immer mit dem Nachweis: Gibt es eine Kausalität zwischen Vergabe von Dopingmitteln und der Schädigung.“ Rechtsanwalt Michael Lehner, Mitgründer und Vorsitzender des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins, vertritt noch immer Betroffene in sieben Verfahren. Er fordert Rechtsklarheit ohne all die Auseinandersetzungen. „Wenn ich hundert Kilo mehr stemmen kann, weil ich mich dope, dann muss mein Körper die hundert Kilo mehr aushalten, wird entsprechend früher kaputtgehen und früher leiden, da gibt es auch wissenschaftlich-medizinische Forschungsstudien, die ganz klar sagen: die gedopte Sportgesellschaft trägt ihr Leiden verstärkt bis ins Alter hinein.“
Der Doping-Opfer-Hilfe-Verein fordert daher auch eine monatliche Rente für die Dopinggeschädigten der SED-Diktatur. Ein entsprechendes Gesetzgebungsverfahren ist im Bundestag mittlerweile auf den Weg gebracht. Ein Zeichen, 70 Jahre nach dem Volksaufstand in der DDR.