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Volkshochschulen in Dänemark
Zwangloses monatelanges Lernen

Die dänischen Volkshochschulen haben mit den deutschen nur den Namen gemeinsam: Für Monate kommen hier junge Leute zusammen. Auf dem Land. Zum zwanglosen Lernen und ganz ohne Abschlusszeugnis.

Von Christoph Titz |
    Flagge von Dänemark
    Zweckfreier Zeitvertreib und dann nicht mal ein ordentlicher Beleg: Was in Deutschland einer mittleren Katastrophe gleicht, ist in Dänemark ganz bewusst Teil der Identitätssuche. (imago / Sebastian Schupfner)
    Jörgen Carlsen, Schulleiter der Volkshochschule von Testrup in Dänemark, sitzt am Klavier und spielt. Die Schüler singen. Mit einer deutschen Volkshochschule hat das dänische Modell nur den Namen gemein. Wo in Deutschland an zehn Abendterminen ein bisschen Spanisch oder Fotografieren gelernt wird, sind die Dänen radikal: Der Mensch braucht Bildung und dafür darf er sich gerne viel Zeit nehmen. Wer in Dänemark eine Auszeit will, im Studium oder nach dem Abitur, der kriegt sie an einer von gut 60 Volkshochschulen. Staatlich bezuschusst leben jedes Jahr rund 3500 junge Erwachsenen auf dem Land und lernen, worauf sie eben Lust haben. Die Fächer sind meist künstlerisch und kreativ, erklärt Schulleiter Carlsen:
    "Du kannst philosophieren, du kannst Musik machen, du kannst Theater spielen, du kannst versuchen, ein Künstler zu sein - aber alles das nicht mit einer professionellen Perspektive. Es hat etwas damit zu tun, dass du dein eigenes Leben entfalten kannst."
    Keine Hektik und Karriere
    Worum es an Carlsens Schule überhaupt nicht geht: Hektik, Ausbildung mit Ziel, Karriere.
    "Im modernen Leben ist es ein Karriererennen. Immer schneller, immer besser, das ist eine Akzeleration, die lebensunterdrückend ist. Natürlich ist es eine Kapitalismuskritik. Es ist eine Zivilisations- und eine Kapitalismuskritik, ich bedauere, aber so ist es."
    Wie die meisten anderen Volkshochschulen in Dänemark steht die Testruper Volkshochschule auf dem Land. Dazu gehören Wohnbungalows für die Schüler. In Hufeisenform umschließen Küche, Lager, Speisesaal und Hörsaal einen Innenhof mit einer großen Linde. Die Wände der alten Sandsteingebäude sind übersät mit Namen und Jahreszahlen - eingekratzt in die gelblichen Ziegel.
    "Es ist ein Brauch, der mehr als 100 Jahre alt ist. Darum ist es eine Tradition, jeder Schüler muss einen Stein besetzen und seinen Namen eingravieren."
    Die 24-jährige Johanne Greibe Andersen hat ihren Stein schon. Sie studiert im nahen Arhus und arbeitet nebenher an der Volkshochschule, an der sie selbst Schülerin war.
    "Ich bin gleich hier: J. Greibe, Frühling 2012 - und immer, wenn ich wiederkomme, fällt mir der Stein auf und erinnert mich an meine Zeit hier."
    Auszeiten sind in Dänemark üblich
    Während junge Menschen in Deutschland sich oft sehr beeilen, um von der Schule an die Uni zu kommen, sind die Dänen da deutlich entspannter:
    "Nach dem Abitur bin ich viel gereist. Mehrere Gap Years zu nehmen, ist in Dänemark durchaus normal. Hier an der Volkshochschule machte ich mein drittes Gap Year - und es war der letzte Versuch, herauszufinden, was ich eigentlich machen will."
    An einer dänischen Volkshochschule steht der Mensch und seine Bildung im Mittelpunkt. Nachweise, wer was wie gut kann, sind da nicht nötig:
    "Dass wir hier keine Zeugnisse bekommen, ist mit das Wichtigste hier. Tu was du tun willst und hör auf dein Herz. Für junge Leute ist das sehr wichtig, diesem Freiraum zu haben. Ein Spielplatz für Erwachsene, um sich auszuprobieren, während man seine eigene Identität findet."
    Zweckfreier Zeitvertreib und dann nichtmal ein ordentlicher Beleg - was in Deutschland einer mittleren Katastrophe gleicht, ist in Dänemark ganz bewusst Teil der Identitätssuche. Auch für Peter Viggum, 22, war die Zeit in Testrup eine Orientierungsphase. Er hatte viele Ideen, aber keinen Plan als er ankam. Und machte erst mal nur Musik.
    "Ich wollte Leute kennenlernen und mir ein Netzwerk in ganz Dänemark schaffen. Und ich wollte etwas Kreatives machen, ehe ich etwas Wissenschaftliches an der Universität anfange. Ich wollte allerhand studieren, Philosophie, Soziologie, Geschichte, Physik - und jetzt ist es Landwirtschaft geworden. Ich werde Bauer, das ist schon was anderes."
    Ein halbes Jahr kreative Sinnsuche
    Ein halbes Jahr auf kreativer Sinnsuche auf dem Land, weg von Zuhause. Das macht etwas mit den jungen Leuten, es schweißt sie zusammen. Und die Veränderung, die bei den jungen Dänen vor sich geht, kann man sogar hören, findet Carlsen:
    "Natürlich geschieht etwas. Wenn Leute, die freiwillig hier ankommen, ist der beste Ausgangspunkt gegeben für eine wunderbare Geschichte. Wenn sie anfänglich zusammen im Hörsaal sitzen und aus dem Gesangbuch singen, es klingt bedauerlich. Aber nach einigen Wochen und Monaten ist es, wie wenn das Dach sich hebt, wenn sie singen."
    Oft bin ich froh und will doch gerne weinen, singen die Schüler - und Tränen am Ende eines halben Kursjahres fließen häufig. Und die Gravur eines Steins im Innenhof der Testruper Schule ist ein Ausdruck dafür, was den jungen Menschen diese Lebenserfahrung der zwanglosen Bildung bedeutet:
    "Es ist wie ein Ritual. An einem deiner letzte Tage suchst du dir einen Stein aus, in den du deinen Namen kratzen willst. Dann sitzen alle deine Freunde um dich herum. Ich glaube, wir haben einen Nagel benutzt."
    - Peter: "Ein Nagel - das ist ja fast wie im Gefängnis."
    - Johanne: "Ja, stimmt."
    - Peter: "Nur anders herum: Wir wollen ja rein."
    - Johanne: "Als wollten wir in die Mauer hinein, um für immer hier zu bleiben."
    So klingt die dänische Begeisterung fürs Lernen, die man sich auch in Deutschland öfter wünschen würde.