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Volkskongress
Chinas Lage "durchaus prekär"

Chinas Wirtschaft soll in diesem Jahr langsamer wachsen. Mit dieser Prognose eröffnete Ministerpräsident Li Keqiang in Peking die Jahrestagung des Volkskongresses. Das geringere Wachstumsziel von etwa sieben Prozent sei aber immer noch eine ganze Menge, sagte der Chinaexperte Eberhard Sandschneider im DLF. Eigentliches Problem sei die Erwartungshaltung der Menschen.

Eberhard Sandschneider im Gespräch mit Peter Kapern |
    Eberhard Sandschneider, Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP).
    Eberhard Sandschneider, Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). (picture alliance / dpa / Dirk Enters)
    Strukturell sei das Land alles andere als stabil, ergänzte der Forschungsdirektor der deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Die soziale und auch die wirtschaftliche Situation sei durchaus prekär. Die chinesische Regierung habe das immer wieder in den Griff bekommen. Jetzt gehe der Ministerpräsident sogar soweit, die Dinge sehr offensiv, klar und selbstkritisch anzusprechen. Er stimme nicht nur seine Delegierten, sondern auch die Menschen in China darauf ein, dass "es etwas robuster werden wird in den Entwicklungen der nächsten Jahre".
    Der Großteil der Menschen kenne das Land mittlerweile nur im steilen Aufstieg. Die nächste Generation müsse sich darauf einstellen, "dass die Bäume dann doch auch nicht in China in den Himmel wachsen werden". Das sei das eigentlich politische Problem; die Erwartungshaltung der Menschen mit den zu erwartenden Schwierigkeiten in der wirtschaftlichen Entwicklung in Einklang zu bringen. Das sei das Kernanliegen der Rede des chinesischen Ministerpräsidenten gewesen.

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Die Grenzen des Wachstums, die werden ja seit Anfang der 1970er-Jahre allerorten vermutet, aber eher nicht in China. Die Wirtschaft des Landes wächst und wächst, das Land ist mittlerweile die stärkste Exportnation der Welt und wenn die chinesischen Wirtschaftsplaner in der Vergangenheit ein Problem hatten, dann drehte es sich um die Frage, wie eine Überhitzung der Konjunktur zu verhindern sei. Aber das scheint, alles der Vergangenheit anzugehören. Beim Volkskongress in Peking hielt Regierungschef Li Keqiang in der vergangenen Nacht geradezu eine Blut-, Schweiß- und Tränenrede: Chinas Wirtschaftsmodell ineffizient, genauso wie die Innovationsfähigkeit, und die Wirtschaft, die soll auch nur noch um sieben Prozent pro Jahr wachsen.
    Bei uns am Telefon ist der China-Experte Eberhard Sandschneider, der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Guten Tag.
    Eberhard Sandschneider: Schönen guten Tag.
    Kapern: Herr Sandschneider, Li Keqiang hat ja die wirtschaftliche Lage in China geradezu in düsteren Farben gemalt. Nun hören wir das aber immer mit westlichen Ohren. Aber welche Botschaften hören eigentlich 1,3 Milliarden Chinesen, wenn sie ihrem Regierungschef zuhören? Aus der Traum vom Wohlstand, oder was kommt da bei denen an?
    Sandschneider: Nein, natürlich nicht. Aber jeder Mensch in China weiß, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Die bestechenden Wachstumszahlen der Vergangenheit, die lassen sich nicht beliebig in die Zukunft fortschreiben. Sieben Prozent ist immer noch eine ganze Menge. Man stelle sich aus westlicher Perspektive vor, unsere Regierung würde sich über ein Wachstum von sieben Prozent nicht nur freuen, sondern vielleicht sogar dann auch noch beklagen - eigentlich unvorstellbar. Auch in China wird es normaler werden, dass in Anbetracht der bisherigen Wirtschaftsentwicklung die Zuwachsraten zurückgehen. Man muss im Falle Chinas aber immer dazu sagen: Wenn der Ministerpräsident sagt, mit diesen sieben Prozent schaffen wir die zehn Millionen Arbeitsplätze - die braucht er für sozialen Frieden -, dann drängt sich dem Beobachter automatisch der Verdacht auf, vielleicht sind auch diese sieben Prozent schon ein wenig politisch frisiert. Das kann man im Falle Chinas nie ausschließen.
    "Strukturell ist das Land sicherlich alles andere als stabil"
    Kapern: Der Verdacht liegt jedenfalls nahe, wenn man sich zu Gemüte führt, was da noch so am Rande des Volkskongresses zu hören ist. Der Chef eines großen Stahlunternehmens, der wird heute zum Beispiel zitiert mit dem Satz, wenn sich das Wachstum zu schnell verlangsamt, dann kann das große Auswirkungen auf Unternehmen und Banken haben. Ist das nicht doch schon, sagen wir mal, zumindest die Vorahnung eines echten Crashs?
    Sandschneider: Die Gefahr eines echten Crashs kann man nicht nur in China eigentlich nie ausschließen und strukturell ist das Land sicherlich alles andere als stabil. Die soziale Situation, auch die wirtschaftliche Situation, auf die dieser Unternehmer hinweist, ist durchaus prekär. Bislang kann man nur sagen, die chinesische Regierung hat das alles immer wieder einmal in den Griff bekommen, und jetzt geht der Ministerpräsident sogar so weit, die Dinge sehr offensiv, sehr klar, sehr selbstkritisch auch anzusprechen. Das heißt, er stimmt nicht nur seine Delegierten, sondern auch die Menschen in China darauf ein, dass es etwas robuster werden wird in den Entwicklungen der nächsten Jahre. Der Großteil der Menschen in China kennt das Land mittlerweile nur im steilen Aufstieg über die letzten dreieinhalb Jahrzehnte. Nur die Älteren erinnern sich noch an die harten Zeiten der Kulturrevolution und davor und die nächste Generation wird sich darauf einstellen müssen, dass die Bäume dann doch auch nicht in China in den Himmel wachsen werden. Das ist das eigentliche politische Problem, die Erwartungshaltung der Menschen mit den zu erwartenden Schwierigkeiten in der wirtschaftlichen Entwicklung in Einklang zu bringen. Ich glaube, das war das Kernanliegen der Rede des chinesischen Ministerpräsidenten.
    Kapern: An die Ereignisse vor dem steilen Aufstieg, dem steilen ökonomischen Aufstieg dieses Landes erinnern sich ja nicht nur alte Chinesen, sondern auch etwas jüngere Journalisten, und da fallen dann Zusammenhänge auf, beispielsweise dass gerade jetzt, wo die Wirtschaft nun nicht mehr ganz so brummt wie in den letzten Jahren und Jahrzehnten, ein neuer Personenkult um Staatspräsident Xi Jinping zu beobachten ist: Teller mit seinen Porträts, Bilder mit dem Staatspräsidenten überall im Lande. Gibt es da einen Zusammenhang?
    "Xi Jinping hat sich selbst zum Mittelpunkt der kommunistischen Partei gemacht"
    Sandschneider: Das ist schwierig, einen solchen Zusammenhang zu konstruieren. Aber zunächst einmal haben Sie mit Ihrer Beschreibung recht, und das ist die eigentliche Botschaft. Der derzeitige Präsident hat mit einer unglaublichen Geschwindigkeit - er ist 2012 ins Amt gekommen, das sind gerade mal drei Jahre - es geschafft, sich selbst zum Mittelpunkt der kommunistischen Partei, zum Machtzentrum zu machen. Er hat einen Personenkult ja nicht nur zugelassen, sondern vielleicht sogar auf den Weg gebracht, der manch einen westlichen Beobachter tatsächlich an den Kult um Mao Zedong erinnert.
    Das heißt, kollektive Führung, wie man das früher einmal genannt hat, gehört heute eigentlich eher der Geschichte an. In China ist die Kontrolle durch einen starken Führer, der an der Spitze der kommunistischen Partei für Wohl und Wehe verantwortlich ist, offensichtlich die vorgegebene Politik. Das hat machtpolitische Konsequenzen zugunsten von Xi Jinping, das setzt ihn persönlich und seine gesamte Mannschaft aber auch in die Verantwortung, all die Probleme, die der Ministerpräsident heute Nacht angesprochen hat, tatsächlich auch so zu lösen, dass die Menschen in China ihm dafür applaudieren können.
    "Korruption ist in China ein mächtiges Problem"
    Kapern: Gleichzeitig ist ja zu beobachten, Herr Sandschneider, wie der Kampf gegen die Korruption, der ja zweifellos notwendig ist, massiv verstärkt wird, und da stellt sich dann die Frage: Ist dies auch ein Rückgriff auf die Vergangenheit? Geht es bei dieser Kampagne tatsächlich um die Sache, also um den Kampf gegen die Korruption? Oder hat das, wenn da Spitzenfunktionäre in spektakulären Prozessen verurteilt werden und verschwinden, hat das nicht schon wieder Züge einer neuen Kulturrevolution, wo ein Flügel der Partei gegen den anderen vorgeht?
    Sandschneider: Soweit würde ich nicht gehen. Der Vergleich mit der Kulturrevolution, der ist wahrscheinlich etwas problematisch. Aber diese ganze Kampagne hat insgesamt drei Aspekte. Zunächst haben Sie recht: Es geht um die Sache. Korruption ist in China ein mächtiges Problem. Das Problem anzugehen, ist nicht vergnügungssteuerpflichtig, aber sicherlich notwendig. Zum Zweiten geht es auch um das öffentliche Image. Die Menschen in China wissen, wie schwierig es für sie ist, mit korrupten Beamten umzugehen, und sie deuten immer wieder einmal durch ihr öffentliches Verhalten an, wie kritisch sie das sehen. Eine Regierung, die darauf Rücksicht nimmt, ist eigentlich gut beraten, das zu tun. Und zum Dritten - das ist Ihr kulturrevolutionärer Aspekt - darf man nicht vergessen: Am Ende geht es auch schlicht und ergreifend um Machtpolitik, und Xi Jinping nutzt Teile dieser Kampagne, um unliebsame, um störrische, um zögerliche Mitglieder der kommunistischen Partei und Funktionsträger des Staatsapparates aus dem Wege zu räumen.
    Chinas Verteidigungsausgaben
    Kapern: Und jetzt müssen wir noch einen kurzen Blick auf ein früheres Nachbarland Chinas werfen. Es gibt ja die Theorie, dass die UdSSR deswegen kollabiert ist, weil sie sich zu Tode gerüstet hat. In China sehen wir, dass die Wirtschaft nicht mehr brummt, die Verteidigungsausgaben trotzdem um zehn Prozent steigen. Rüstet sich China auch zu Tode?
    Sandschneider: Nein, mit Sicherheit nicht. Im Gegenteil. Man muss sich daran zurückerinnern: Als die Reformpolitik begann, stand militärische Modernisierung ursprünglich mal an der dritten Prioritätenstelle. Sie ist dann zurückgestuft worden auf Nummer vier. Aber was China da tut ist etwas völlig Normales. Das Land nutzt seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und mit sieben Prozent wächst es ja auch nicht gerade unbedingt langsam im Vergleich zum Westen, um Stück für Stück seinen politischen Einfluss, aber auch seine militärischen Kapazitäten zu erhöhen. Und dann ist natürlich diese zehn Prozent - im letzten Jahr waren es 17; da waren wir noch etwas aufgeregter - immer etwas schwierig zu interpretieren. Ich gehe davon aus, gemeinsam wie viele meiner Kollegen international, die das beobachten, in diesen zehn Prozent ist längst nicht alles drin, was dem chinesischen Militär zufließt. Wir gehen grob davon aus, dass die effektiven Zahlen etwa um die Hälfte höher sind. Aber gleichzeitig muss man sagen, China gibt deshalb gemeinsam mit 22 anderen Staaten, mit 22 anderen Staaten immer noch nicht das aus, was die USA jährlich in ihre Rüstung pumpen. Die Relationen sind also besonders wichtig bei dieser Frage zu berücksichtigen.
    Kapern: Ganz kurz aber noch: Sehen das die Nachbarn Chinas und die USA auch so gelassen wie Sie?
    Sandschneider: Nein. Insbesondere die Nachbarstaaten beobachten das natürlich mit wachsender Sorge, weil sie wissen, dass sie diesem zunehmenden militärischen Gewicht Chinas nichts entgegenzusetzen haben. Große Mächte, Landmächte, Mächte, die auf ein wirtschaftliches Wachstum dieser Art zurückblicken können, sind unbequeme Partner. Das ist sicherlich die verständliche Einstellung der Nachbarstaaten Chinas und auch der USA.
    Kapern: Eberhard Sandschneider, der Forschungsdirektor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Herr Sandschneider, vielen Dank für dieses sehr lehrreiche Interview.
    Sandschneider: Bitte sehr.
    Kapern: Schönen Tag noch. Tschüss!
    Sandschneider: Danke schön, Ihnen auch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.