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John Jeremiah Sullivan: „Vollblutpferde“
Verweile doch, du bist so schnell

John Jeremiah Sullivan gilt ohne jede Übertreibung als einer der großen Meister des aktuellen New Journalism. „Vollblutpferde“ ist ein Memoire an den verstorbenen Vater, eine Eloge an die Schönheit des Pferdesports und eine Recherche-Reise zu sich selbst.

Von Christian Metz | 20.11.2022
John Jeremiah Sullivan: "Vollblutpferde"
John Jeremiah Sullivan: "Vollblutpferde" (Portraitfoto: Stefan Klüter / Buchcover: Suhrkamp Verlag )
John Jeremiah Sullivan nimmt uns mit zurück in das Jahr 2001. Der Sohn sitzt in einem Krankenhaus, mitten im Herzland der USA seinem Vater gegenüber, einem ehemaligen Sportjournalisten. Noch ahnen die beiden nicht, dass es ihre letzte Begegnung sein wird. Und doch hat der Sohn das Gespür für die entscheidende Frage, wenn er von seinem Vater wissen will, was denn in all den Jahren dessen größter Sportmoment gewesen sei. Der ausgewiesene Football- und Baseball-Fachmann schwärmt weder von einem spektakulären Home-Run noch von einem unfassbaren Touch-Down, sondern schildert ohne zu zögern schlicht:
„Ich war bei Secretariats Derby’ 73, im Jahr bevor du auf die Welt gekommen bist – da warst du wohl noch nicht mal gezeugt. Das war einfach … pure Schönheit, weißt du?“
Nichts weiß der Sohn. Ein Pferderennen, damit hatte er nicht gerechnet. Die Antwort macht John Jeremiah Sullivan schlagartig klar, wie wenig er seinen Vater kennt. Wobei die leichte Ambivalenz der väterlichen Antwort sowohl in der sehr schönen Übersetzung von Hannes Meyer als auch im Original erzählerisch exakt gesetzt ist. Was war pure Schönheit? Der Lauf des Vollblutpferdes allein? Oder darüber hinaus auch die Zeit, in welcher der Sohn noch nicht einmal gezeugt war? Oder lag die pure Schönheit in der Art, wie dieses Rennen und das Leben ihren jeweils unvorhersehbaren Lauf nahmen? Weil eigentlich ein anderes Pferd das berühmte Kentucky Derbys gewinnen sollte. Wie erzählt der Vater, für einen Moment noch einmal in die Rolle des Sportreporters schlüpfend, so eindringlich:
„Bis in die letzte Kurve sah es aus, als hätte Sham das Rennen in der Tasche, meine ich. Sham war schneller, ein schöner Hengst, musst du wissen. In einem anderen Jahr hätte er die Triple Crown geholt. Und man konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es überhaupt einen Schnelleren geben konnte. Alle haben nur zu ihm geschaut.“

Eine Störung im Augenwinkel

Sham war das Pferd, über das der Vater vorab berichtet, auf das er als Journalist gesetzt hatte. So gewiss sich der Sohn bis zu diesem Satz war, den Vater zu kennen. So überzeugt war der Vater einst, auf das richtige Pferd gesetzt zu haben.
„Und plötzlich war das so eine … bloß wie eine Störung im Augenwinkel am Rande des Sichtfelds. Und dann, bevor du sehen konntest, was es war, kam Secretariat. Und dann war Secretariat an ihm vorbei. Noch nie hatte man einen so laufen sehen – das haben die älteren Kollegen gesagt. Es war, als wäre er eine ganz neue Tierart. Bis er dann nach Belmont kam, hat er die anderen quasi überrundet.
Diese Erzählung bleibt das letzte Kleinod, das Sullivan von seinem Vater über dessen Tod hinaus mit sich trägt. Sie bleibt aber auch die Störung im Vaterbild, das sich der Sohn gemacht hatte. Aufgetaucht aus dem Augenwinkel. Spürbar, bevor es zu erkennen war. Und plötzlich wirkt es, als wäre dort eine ganz neue Art von Vater vor einem. Von jetzt an geht Sullivan diesem Satz nach: dessen Schönheitsversprechen, das die Möglichkeit einschließt, seinen verstorbenen Vater noch einmal auf neue Weise kennenzulernen und damit erzählend erneut lebendig werden zu lassen.

Zum Vater, zum Pferde

Dem Satz des Vaters folgend, entdeckt Sullivan seine tiefen Verbindungen zu Kentucky und zum dort verwurzelten Pferdesport. Er spürt diesen Beziehungen nach, akribisch wie ein Sportjournalist, quellenkundig wie ein Forscher, trauernd wie ein vom Tode getroffener Sohn. In Zyklen versucht Sullivan sich dem Schreiben des Vaters, aber auch seiner eigenen Kindheit anzunähern, um dort in den Blick zu bekommen, was bislang nur im Augenwinkel zu erahnen war. Secretariat – und plötzlich scheint der Name kein Zufall mehr zu sein – ist der Ausgangspunkt für eine luzide Studie über Pferdesport und die Kunst des Sehens. So zeigt sich etwa, dass die Schönheit des Augenblicks vielleicht nur auf einem Sehhandicap beruhte:
„Mein Vater hatte Secretariats spätes Davonziehen beim Derby unter anderem deshalb als so mysteriös und plötzlich in Erinnerung, weil er auf dem linken Auge fast blind war – und die Pferde damals natürlich von links kamen.“
Das linke Auge des Vaters litt an einer ocularen Histoplasmose. Einer Pilzkrankheit, die zuerst die Lunge befällt, in einer bestimmten Variante dann aber auch zu Netzhautvernarbungen und teilweiser Blindheit führen kann. Wenn der Sohn im Basement des Hauses den Vater beim Schreiben seiner Artikel beobachtete, näherten sich die beiden einander, indem sie das Blickfeld des Vaters gemeinsam austesteten:
„Es gab nur einen winzigen Fleck in dem Auge, den die Krankheit verschont hatte, ein Fenster, durch das er sehen konnte. Ich trat dann also anderthalb Meter von seinem Sessel zurück, und er nahm seine dicke Streberbrille ab (die mit seinem buschigen Schnurrbart unerklärlich hip aussah). Dann legte er die rechte Hand über das heile Auge – wir nahmen die Sache sehr ernst. Ich streckte meinen rechten Arm wie einen Uhrzeiger aus, ließ ihn einmal rund um meinen Kopf ticken, und bei zwölf angekommen wechselte ich zum linken, bis wir die Stelle hatten. Hier? Nein. Hier? Ja, genau da.“

Eine skurrile Vaterfigur

Sein Gegenüber punktgenau im einzigen noch verbliebenen Fenster des verletzten Auges sehen. In dieser Verletzbarkeit nach einen gemeinsamen Sicht- und Treffpunkt suchen. Im Schmerz aber auch die spezifische Schönheit erkennen, die in dieser besonderen Begegnung liegt: das ist der Brennpunkt der Vater-Sohn-Geschichte. Zuerst bloß eine Störung, gewinnt dort plötzlich eine elegante Bewegung Kontur. Der tippende Vater geht in der Überblendung über zum schreibenden Sohn. Und was für eine skurrile Vaterfigur hier Kontur gewinnt. Wessen Geistes Kind John Jeremiah Sullivan ist, zeigt sich am liebevollsten bei der Kindheitserinnerung, als sein Vater beschloss,
„nur noch mit Bob-Dylan-Texten zu kommunizieren. Er hatte einen ramschigen kleinen Panasonic-Kassettenrekorder, mit dem er auch manchmal Interviews aufnahm, und volle zwei Tage lang holte er den hervor, wann immer man ihm eine Frage stellte, und legte die passende Dylan-Kassette ein. Dann musste man ein paar Minuten warten, bis er die richtige Stelle hatte (wir spielten natürlich unter anderem deshalb mit, weil wir selbst sehen wollten, ob er es hinbekommen würde.) Dann hielt er den Rekorder hoch und spielte stolz die Songzeile ab, die seiner Meinung nach die Frage beantwortete.“
Das müssen fantastisch nervenzerreibende Tage mit dem Orakel von Dylan und seinem zudem noch dauerrauchenden Kassetten-Priester gewesen sein.

Pferdeland Kentucky

Die Erinnerungen kreisen jedoch nicht ausschließlich um das Vater-Sohn-Verhältnis. In „Vollblutpferde“ geht es um die Strukturen und Tücken des professionellen Pferdesports und seine globalen Zirkulationen, um die Perversion von Zucht, Millionenkäufen, medizinischer Versorgung und atemberaubender Wettverluste. Um die Pflege der so hochgezüchteten Tiere, dass diese eigentlich als Dauerverletzte behandelt werden müssen. Um nur für ein, zwei Trainingsstunden aus ihren Boxen zu gelangen. In den Fokus rücken aber auch das jahrhundertelange Zusammenleben von Pferden und Menschen. Und nicht zuletzt die biologischen und kulturellen Eigenschaften, die mit dem Charakter einer Landschaft aufs Engste verbunden sind, so wie sie die Eigenschaften weiter Landstriche von Kentucky prägen:
„Wenn man über den Bluegrass State spricht, muss man sich immer auch dem Kalkstein widmen. Alles, was ein Auswärtiger mit Zentralkentucky verbindet, hat mit dem Fels darunter zu tun: die sanften Hügel; die Mammoth Cave; der Bürgerkrieg (währenddessen in der Mammoth Cave reichlich Salpeter abgebaut wurde); das Quellwasser, das man für den Bourbon verwendet; die Schiefermauern, die die ältesten Pferdefarmen umgeben, sogar die Pferde selbst, denn manche behaupten, das Kalzium, das ungewöhnlich reichlich unter Lexington lagert, finde seinen Weg in die Knochen der Fohlen, die dort grasen.“
Mit demselben archäologischen Spürsinn, mit dem Sullivan sich in den Zusammenhang zwischen Pferdekultur und Landschaft hineinvergräbt, verfolgt er auch die Kulturgeschichte des Pferdes: die Anhäufung von Bildmaterialien und immer neuen Pferdeerzählungen – von Kaspar Hausers Wunsch zu reiten, bis hin zu den Höhlenzeichnungen von Ur-Pferden in Frankreich, von Baldung bis Carpaccio – kontrastiert die fein verflochtene Erzählung. Als sei John Jeremiah Sullivan – wie der berühmt berüchtigte Onkel Toby in Laurence Sterns „Tristam Shandy“ – einem so genannten hobby horse aufgesessen, versammelt er auch noch das letzte verfügbare Pferdebild. Wie schade, den enzyklopädischen Furor nicht ein wenig gezäumt zu haben.

Die Terroranschläge vom 9. September 2001

Trotz Archivwut führte dieses Buch im Moment seines Erscheinens übrigens nicht so weit zurück in die Vergangenheit, wie es aus Sicht der deutschen Übersetzung heute erscheinen mag. In den USA ist „Blood Horses. Notes of a Sportswriters Son“ als Sullivans Debüt bereits im Jahr 2004 erschienen. Die Auseinandersetzung mit dem Jahr 2001 lag damals also noch in unmittelbar Nähe. Daher gehörten zu dieser Studie Amerikanischer Befindlichkeit unausweichlich auch die Terroranschläge vom 11. September dieses Jahres, die weltweit als Zäsur wahrgenommen wurden. Sullivan erlebte die Anschläge in Lexington, während der weltberühmten Versteigerung einjähriger Vollblütler. Mitten im Fluss größter Geldsummen. Im Versteigerungssaal
„hat bin Salman gerade fünf Millionen Dollar auf die Nummer 203 geboten, einen fuchsfarbenen Urenkel von Secretariat. Doch unglaublicherweise ist das Gebot nicht hoch genug. Scheich Mohammed bin Rashid al-Maktum, der Verteidigungsminister und Thronanwärter der Vereinigten Arabischen Emirate, gewinnt die Auktion mit fünfeinhalb.“
Die Terroranschläge können die Beharrungskraft, welche den schweren Geldpaketen zu eigen ist, nur kurzzeitig irritieren, aber nicht aus der Bahn werfen:
„Der Verkauf war bis auf Weiteres abgebrochen. Diese Ankündigung hatte die letzte Gebotsrunde abgewartet, und als der letzte Jährling mit dem Kopf schlagend weggeführt worden war, bleiben die Türen geschlossen.“
Die Scheichs selbst brauchen keine Sekunde, um sich zu positionieren.

Kampf der Erinnerungen

In den globalen Kreisläufen des Pferde-Investments, liegt ein Attentat wie das gerade Geschehene jenseits jeder Vorstellung.
„Bin Salman saß noch in seiner Suite beim Frühstück, als er von den Attentaten hörte. Sein Rennleiter Richard Mulhall sagte, der Prinz habe ihn sofort auf dem Handy angerufen und ganz verstört gefragt: ,Wer um alles in der Welt macht denn so etwas? Wer ist denn so wahnsinnig?‘ Noch am Nachmittag bevor bekannt wurde, dass fünfzehn der neunzehn Flugzeugentführer Saudis gewesen waren, tat der Prinz etwas Gerissenes.“
Der Scheich gibt einer örtlichen Zeitung ein Interview, in dem er die Sprache anschlägt:
„die man hier im Süden verstand. ,Wir müssen die kriegen, und zwar richtig‘, sagte er. ,Und dann geht es wie bei uns in Arabien: Auge um Auge.‘“
John Jeremiah Sullivan ist ein viel zu gerissener Erzähler, um die Terroranschläge von 9./11 nicht in seine Komposition unvorhersehbarer Augenblicke einzureihen. Vergessen wir nicht, dass schon direkt nach den Schreckensereignissen eine Diskussion darüber entbrannt war, dass sich die Katastrophe als Zusammenbruch jeder Zivilisation betrachten ließ. Aber, verführt durch die im Terrorakt mitgedachte mediale Übertragung, auch als ästhetische rezipiert wurde. Diese hochgradig umstrittene Ästhetisierung des Schreckens nimmt Sullivan auf, wenn der Terror ebenso aus dem Augenwinkel auftaucht, wie einst Secretariat beim 73er Derby. Um dann, abgesehen von ein paar Sicherheitsbedenken um den Schutz des Scheichs, in Kentucky keinerlei Zäsur spüren zu lassen:

Nicht viel Raum für Pietät

„Am nächsten Morgen, dem zwölften, wurde der Verkauf fortgesetzt man war von rund um den Globus angereist, also blieb nicht viel Raum für Pietät, und die Stimmung im Pavillon war merkwürdig unverändert. Es gab keine spürbare Schwankung der Atmosphäre, keine Anspannung, weder die Lautstärke noch die Geldströme hatten abgenommen. Das Bieten wurde genau da fortgesetzt, wo man es unterbrochen hatte, mit dem Prinzen an seinem Stammplatz.“
Auch Sullivan kann sich dem Kontinuum nicht entziehen. Eine Woche vergeht, bis er zurück in New York City ankommt. Wie einst Lots Frau riskiert er den Blick zurück:
„Als ich endlich in Newark aus dem Flieger stieg, brachte der vollgestopfte Shuttlebus mich und zwanzig andere in der Nacht über die George Washington Bridge. Die Rauchsäule stieg zu unserer Rechten auf, und als wir die Hälse streckten, um ihr in den Himmel nachzuschauen, verlor sie sich in der Dunkelheit.“
Vielleicht ist das die pointierteste Erzählung über den doppelten Effekt, der durch 9/11 entstanden ist. Alles zu verändern, so dass nichts mehr blieb wie es war. Um doch zu erfahren, wie die Welt in ihren erwartbaren Bahnen weiterlief. Diese Einbrüche in die dünne Firnis des Schönen (und Reichen) faszinieren Sullivan. Wenn eine Frau bei einem Rennen in Louiseville schon vor Rennbeginn in ihrer Bierlache liegt, wenn es direkt nach dem Kentucky Derby nur noch um Saufen und Raufen geht. Um diese Bruchstellen geht es aber auch, wenn er über die Auffälligkeit nachdenkt, dass:
 „beim ersten Derby im Jahr 1875 dreizehn der fünfzehn Jockeys schwarz waren, darunter der Sieger. Aber fragt man uns Südstaatler heutzutage, warum die Dekojockeys auf dem Rasen immer schwarz sind, haben wir in der Regel keine Ahnung.“
Die Risse treten überall krass zutage. Und vielleicht liegt eine besondere Faszination der immer weiter gehenden Show darin, dass jeder von diesen Brüchen weiß. Sullivan unterliegt dem Sog, vielleicht doch einmal den Gewinn der sogenannten Triple Crown zu erleben. Diese Ausnahmeleistung vollbringen Pferd und Reiter, wenn sie in einer Saison nacheinander das Kentucky Derby, die Preakness Stakes und die Belmont Stakes gewinnen. Als John Jeremiah Sullivan sein Buchdebüt schrieb, war dieses Kunststück nach Secretariats Jahrhundertläufen nur noch 1977 und 1978 zwei anderen Pferden geglückt. Was die 70er Jahre zur großen Derby-Zeit werden ließ.

Mit dem Gespür für eine sich anbahnende Sensation

Inzwischen kam es 2015 und 2018 zu zwei weiteren Triple-Crown Siegen. Die Situation hat sich geändert. Aber dieses Gefühl, eine epochale Sensation liege in der Luft, muss man mit sich tragen, wenn man als Leser im Jahr 2001 mit John Jeremiah Sullivan die oberen Tribünenränge der drei großen Rennbahnen erklimmt. Denn ausgerechnet der oben bereits genannte Saudische Prinz bin Salman hatte mit seinem Pferd „War Emblem“ (was für ein Name!), das er nur wenige Wochen vor dem Kentucky Derby vom Fleck weg gekauft hatte, die ersten beiden Rennen für sich entscheiden können. Beim Kentucky Derby noch mit einer cleveren Taktik, beim zweiten Rennen den Preakness Stakes über pure Geschwindigkeit:
„War Emblem gibt Stoff. Er kann es wirklich, verdammt noch mal. Er zieht vor Proud Citizen davon. Auf den letzten Metern wird er noch einmal herausgefordert, diesmal von einem Pferd namens Magic Weisner. Und er wird immer schneller und zieht auch diesem davon. Dann hat er gewonnen. Auf einmal hat er sich für die erste Triple Crown seit vierundzwanzig Jahren positioniert.“
Mit der Vorgabe von zwei gewonnenen Rennen kommt War Emblem zu den Belmont Stakes, dem dritten und längsten Rennen. Sullivan scheint plötzlich Augenzeuge eines Jahrhundertmoments werden zu können, wie sein Vater 1973 als er Secretariat bestaunte. Was für ein begnadeter Kompositeur Sullivan ist, zeigt sich, wenn er direkt vor der 2001er Entscheidung noch einmal Erinnerung und Gegenwart zu zusammensurren lässt. Sullivan erinnert, wie er im Fernsehen wieder und wieder Secretariats Triumph studiert. Bis plötzlich ein Moment der Leere in den Fokus rückte:
„Gegen Ende des Rennens. Der Kameramann hat an Secretariat herangezoomt, sodass nur das Pferd und ein kleines Stück Bahn davor und dahinter zu sehen sind. Dann, vielleicht hundert Meter vor dem Ziel (das ist schwer zu sagen), bleibt die Kamera aus irgendeinem Grund stehen. Secretariat rauscht aus dem Bild und man hat nur noch leere Bahn vor sich. Ich habe diese Leere mit der Uhr gestoppt – die Zeit, aber der Secretariat aus dem Bild ist, bis zu dem Moment, als Twice a Prince hereinkommt. Es sind Sekunden. Und irgendwie sagt jede dieser sieben Sekunden mehr über Secretariats Größe aus, als es jede Aufnahme von ihm in Bewegung könnte.“

Die Ästhetik der Leere

Die Verwandtschaft zu den Bildern der Leere, die sich nach dem Einsturz der Twin-Towers im Himmel auftat, liegt zum Greifen nahe. Nur wird die Leere hier zum Zeichen des Triumphs. Auch von den USA, diesem mysteriös erscheinenden Riesenland, offenbart sich vielleicht am meisten, in diesen Momenten der Leere. Wenn das eine Ereignis aus dem Bild galoppiert und das andere erst noch kommt. Kaum steht diese Konstellation im Raum, tritt War Emblem zu seinem 2001er Rennen an, um nach der dreifachen Krone zu greifen. Schönheit liegt in der Luft:
„Wir alle erwarten etwas Schönes, etwas, was fast nie passiert, was fast nie möglich ist, heute aber schon. In allen Gesprächen, die sich seit heute Morgen geführt und mitgehört habe, hat niemand auch die geringsten Bedenken geäußert, weil War Emblems Besitzer Saudi ist. Es ist allen egal. Sie wissen es besser.“
So beginnt das Rennen in Belmont. Die Wette läuft. Und die Wetten liefen auch im folgenden Jahr, als Funny Cide seinerseits die ersten beiden Rennen für sich entscheiden konnte. So ist das Geschäft. Denn:
„Triple Crowns kommen zu mehreren, und dann wieder lange Zeit überhaupt nicht.“ 
Es gibt nur eine Sache, die schöner zu sein scheint, als Sport zu treiben. Sport zu schauen. Mit der Hoffnung auf die Schönheit des großen Augenblicks, den man sich mit Tausenden teilt. Oder könnte es sogar sein, dass die Dauer, der es bedarf, um vom Sportschauen zu lesen, erst die vollkommene Schönheit entfaltet? Angesichts des begnadeten Erzählers John Jeremiah Sullivan sollte man diese Möglichkeit nicht vollständig aus den Augen verlieren. Sie könnte sonst von ihrer vormals letzten Position aus, zuerst beinah unbemerkt, aus dem Augenwinkel heraus in den Vordergrund kommen. So wie mit dem Rennverlauf noch einmal die Erinnerung an den Vater selbst geballt zurückkommt. Aber das kennen Sie ja nun. Alles weitere lesen Sie selbst. Wetten?
John Jeremiah Sullivan: „Vollblutpferde“
aus dem Englischen von Hannes Meyer
Suhrkamp Verlag, Berlin
272 Seiten, 24 Euro.