Als der Schweizer Schriftsteller Urs Widmer Anfang dieses Jahres an der Frankfurter Universität seine fünfteilige Poetikvorlesung hielt, war der Zulauf so groß wie schon lange nicht mehr. Der 69-jährige Prosaist und Dramatiker aus Zürich hatte angekündigt, "Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das" zu sprechen.
Der Zulauf lag gewiss nicht daran, dass der 1938 in Basel geborene Widmer von 1967 bis 1984 in Frankfurt gelebt - und erst als Lektor bei Suhrkamp und dann als Freier in der Stadt am Main zum Schriftsteller geworden war. Es war vielmehr der ebenso barocke wie nonchalante Titel seiner Poetikvorlesung, der beim literarisch gebildeten Publikum Erwartungen geweckt hatte, die der als fabulier- und witzfreudig bekannte Autor dann auch vollauf befriedigte, wie man jetzt in dem gleichnamigen Buch der Vorlesungen nachlesen kann - als sei man dabei gewesen.
Widmer hat von jeher für überraschende erzählerische Wendungen in seinem mittlerweile umfangreichen Oeuvre gesorgt. Zuletzt simulierte er "Ein Leben als Zwerg", mit dem er sich selbst, seinen privaten und beruflichen Alltag erzählerisch vor Augen stellte: gesehen aus der Perspektive eines Gummizwergs, der ihn von Kindheit an begleitet hatte, und dem er nun satirisch eine helvetische Zwergenwelt andichtete. Diese märchenhaft-realistische Parallelwelt ist die jüngste fantastische, erzählerische Gratwanderung Urs Widmers.
Aber der einst promovierte Dichter ist diskret genug, um seine eigene poetische Großmetapher nicht als Beispiel zu nehmen, wenn er seinen Zuhörern erklärt, dass "das Metaphorische die Domäne der Literatur ist". "Dichterisches Schreiben" ist für Urs Widmer oft nur "um einen Hauch anders" - aber schon durch diese winzige Differenz doch sehr anders als die Normalsprache.
Offensichtlicher als mit seinem großen Landsmann Robert Walser lässt sich dieser minimalistische Fundamentalbefund kaum darstellen. Denn "Walser ist stets ganz nahe am normalen Sprechen dran", und manchmal passe kaum ein Haar zwischen dieses und jenes. Aber dennoch sei die Abweichung immer vorhanden, so dass man mit Fug und Recht behaupten müsse, dass der eigentliche Inhalt der Walserschen Prosa nicht das Erzählte, also der Stoff, sondern die ihm eigene Poetik der geringfügigen Abweichung von der Normalsprache sei.
Dabei sehnte sich der Dichter des "Gehülfen" heftig nach dem normalen Sprechen. Er konnte nur nicht anders. Kein Dichter kann etwas anderes, als was einzig er kann. "Ist das nicht herrlich!", ruft Widmer aus. Dabei beschreibt er doch eine zutiefst bedrängende, isolierende Zwangslage. Aber nicht an ihr litten die Dichter, wenn sie sagten, das Schreiben sei eine Qual. Das Gegenteil ist der Fall. Das Nicht-Schreiben-Können, das Scheitern im und beim Schreiben: Das ist eine Qual.
Wenn es aber gelingt, die Struktur und "den Atem eines Textes" zu treffen und das beim Schreiben Schwierigste und am wenigsten Steuerbare, nämlich das Tempo und die Dichte, zu halten, dann liege im Gelingen "das reine Glück". Das ist aber beim Schreiben so selten wie im Leben, und muss ihm immer wieder abgerungen werden.
An Gottfried Kellers lebenslangem "Traum, namenlos mit der Stimme des Volkes zu singen", beschreibt Urs Widmer die "unaufhaltsam größer werdende Enttäuschung" des radikaldemokratischen Schweizer Nationaldichters. Kellers wachsende Verbitterung über die "tobsüchtige Geldwirtschaft" analysiert Widmer am Schwinden des Grün vom "Grünen Heinrich" bis zum Spätwerk des "Martin Salander", der farblos in "dürrer Sprache" ausgebleicht ist. Denn es gibt kein beiläufiges Grün bei Keller, es war immer sowohl intim - als Erinnerung an den früh verstorbenen Vater - als auch politisch, als Farbe der Schützenvereine, in denen der 1848 Keller seine urdemokratische Utopie inkarniert sah.
Geglücktes, glückliches Leben bringt keine Literatur hervor. Literatur entsteht aus einem unbewussten, virulenten und explosiven Lebensschmerz, der begrifflich nicht zu fassen ist, aber in der Dichtung begreiflich wird: im ambivalenten metaphorischen Erzählen. Es fungiert sowohl als Identifikation mit wie auch als Distanz zum Schmerz und zum Leiden. Der Dichter, der sich schreibend dem Leiden stellt, mobilisiert Kraft, Spiellust, Lebenshoffung und Utopie, mit denen er seine Ängste in Schach und die Überwältigung durch den Schmerz sich vom Leibe hält. Nur deshalb kann, wie Widmer sagt, "das Schreiben auch des Schrecklichsten seltsam kaltblütig geschehen", weil die dichterische Metaphorisierung den Autor schützt.
Zur naheliegensten Illustration dieses dichterischen Ursprungsbildes greift Widmer jedoch erstaunlicherweise nicht auf den griechischen Mythos vom kaltblütigen Perseus zurück, der die schreckliche Medusa mittels eines spiegelnden Schildes, also indirekt bezwingt - wobei ja auch noch dem abgeschlagenen Schreckenshaupt der Medusa der Pegasos entspringt, das Musen- und Dichterross.
Dabei ist der Schweizer Autor in der griechischen Mythologie bewandert, hat er doch in seiner letzten Vorlesung auf das Faszinierendste den Ödipus-Mythos in den zwei Theaterstücken von Sophokles als "erste Selbstanalyse der Menschengeschichte" beschrieben. Das ist nicht nur eine Reverenz an die 2500 Jahre alte und junge Dichtung, sondern auch eine Verbeugung vor Sigmund Freud, dessen Psychoanalyse Urs Widmer für eine ähnliche Erschütterung des dichterischen Weltbildes hält, wie die kopernikanische Wende in der Astronomie.
Warum deshalb aber Samuel "Beckett ein Cechov nach Freud" ist - dieses Rätsel, liebe Zuhörer, löst sich ihnen bei der ebenso amüsanten wie lehrreichen Lektüre von Urs Widmers Frankfurter Poetikvorlesungen.
Urs Widmer: Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das
Frankfurter Poetikvorlesungen
Diogenes-Verlag, Zürich 2007, 153 Seiten, 18,90 Euro
Der Zulauf lag gewiss nicht daran, dass der 1938 in Basel geborene Widmer von 1967 bis 1984 in Frankfurt gelebt - und erst als Lektor bei Suhrkamp und dann als Freier in der Stadt am Main zum Schriftsteller geworden war. Es war vielmehr der ebenso barocke wie nonchalante Titel seiner Poetikvorlesung, der beim literarisch gebildeten Publikum Erwartungen geweckt hatte, die der als fabulier- und witzfreudig bekannte Autor dann auch vollauf befriedigte, wie man jetzt in dem gleichnamigen Buch der Vorlesungen nachlesen kann - als sei man dabei gewesen.
Widmer hat von jeher für überraschende erzählerische Wendungen in seinem mittlerweile umfangreichen Oeuvre gesorgt. Zuletzt simulierte er "Ein Leben als Zwerg", mit dem er sich selbst, seinen privaten und beruflichen Alltag erzählerisch vor Augen stellte: gesehen aus der Perspektive eines Gummizwergs, der ihn von Kindheit an begleitet hatte, und dem er nun satirisch eine helvetische Zwergenwelt andichtete. Diese märchenhaft-realistische Parallelwelt ist die jüngste fantastische, erzählerische Gratwanderung Urs Widmers.
Aber der einst promovierte Dichter ist diskret genug, um seine eigene poetische Großmetapher nicht als Beispiel zu nehmen, wenn er seinen Zuhörern erklärt, dass "das Metaphorische die Domäne der Literatur ist". "Dichterisches Schreiben" ist für Urs Widmer oft nur "um einen Hauch anders" - aber schon durch diese winzige Differenz doch sehr anders als die Normalsprache.
Offensichtlicher als mit seinem großen Landsmann Robert Walser lässt sich dieser minimalistische Fundamentalbefund kaum darstellen. Denn "Walser ist stets ganz nahe am normalen Sprechen dran", und manchmal passe kaum ein Haar zwischen dieses und jenes. Aber dennoch sei die Abweichung immer vorhanden, so dass man mit Fug und Recht behaupten müsse, dass der eigentliche Inhalt der Walserschen Prosa nicht das Erzählte, also der Stoff, sondern die ihm eigene Poetik der geringfügigen Abweichung von der Normalsprache sei.
Dabei sehnte sich der Dichter des "Gehülfen" heftig nach dem normalen Sprechen. Er konnte nur nicht anders. Kein Dichter kann etwas anderes, als was einzig er kann. "Ist das nicht herrlich!", ruft Widmer aus. Dabei beschreibt er doch eine zutiefst bedrängende, isolierende Zwangslage. Aber nicht an ihr litten die Dichter, wenn sie sagten, das Schreiben sei eine Qual. Das Gegenteil ist der Fall. Das Nicht-Schreiben-Können, das Scheitern im und beim Schreiben: Das ist eine Qual.
Wenn es aber gelingt, die Struktur und "den Atem eines Textes" zu treffen und das beim Schreiben Schwierigste und am wenigsten Steuerbare, nämlich das Tempo und die Dichte, zu halten, dann liege im Gelingen "das reine Glück". Das ist aber beim Schreiben so selten wie im Leben, und muss ihm immer wieder abgerungen werden.
An Gottfried Kellers lebenslangem "Traum, namenlos mit der Stimme des Volkes zu singen", beschreibt Urs Widmer die "unaufhaltsam größer werdende Enttäuschung" des radikaldemokratischen Schweizer Nationaldichters. Kellers wachsende Verbitterung über die "tobsüchtige Geldwirtschaft" analysiert Widmer am Schwinden des Grün vom "Grünen Heinrich" bis zum Spätwerk des "Martin Salander", der farblos in "dürrer Sprache" ausgebleicht ist. Denn es gibt kein beiläufiges Grün bei Keller, es war immer sowohl intim - als Erinnerung an den früh verstorbenen Vater - als auch politisch, als Farbe der Schützenvereine, in denen der 1848 Keller seine urdemokratische Utopie inkarniert sah.
Geglücktes, glückliches Leben bringt keine Literatur hervor. Literatur entsteht aus einem unbewussten, virulenten und explosiven Lebensschmerz, der begrifflich nicht zu fassen ist, aber in der Dichtung begreiflich wird: im ambivalenten metaphorischen Erzählen. Es fungiert sowohl als Identifikation mit wie auch als Distanz zum Schmerz und zum Leiden. Der Dichter, der sich schreibend dem Leiden stellt, mobilisiert Kraft, Spiellust, Lebenshoffung und Utopie, mit denen er seine Ängste in Schach und die Überwältigung durch den Schmerz sich vom Leibe hält. Nur deshalb kann, wie Widmer sagt, "das Schreiben auch des Schrecklichsten seltsam kaltblütig geschehen", weil die dichterische Metaphorisierung den Autor schützt.
Zur naheliegensten Illustration dieses dichterischen Ursprungsbildes greift Widmer jedoch erstaunlicherweise nicht auf den griechischen Mythos vom kaltblütigen Perseus zurück, der die schreckliche Medusa mittels eines spiegelnden Schildes, also indirekt bezwingt - wobei ja auch noch dem abgeschlagenen Schreckenshaupt der Medusa der Pegasos entspringt, das Musen- und Dichterross.
Dabei ist der Schweizer Autor in der griechischen Mythologie bewandert, hat er doch in seiner letzten Vorlesung auf das Faszinierendste den Ödipus-Mythos in den zwei Theaterstücken von Sophokles als "erste Selbstanalyse der Menschengeschichte" beschrieben. Das ist nicht nur eine Reverenz an die 2500 Jahre alte und junge Dichtung, sondern auch eine Verbeugung vor Sigmund Freud, dessen Psychoanalyse Urs Widmer für eine ähnliche Erschütterung des dichterischen Weltbildes hält, wie die kopernikanische Wende in der Astronomie.
Warum deshalb aber Samuel "Beckett ein Cechov nach Freud" ist - dieses Rätsel, liebe Zuhörer, löst sich ihnen bei der ebenso amüsanten wie lehrreichen Lektüre von Urs Widmers Frankfurter Poetikvorlesungen.
Urs Widmer: Vom Leben, vom Tod und vom Übrigen auch dies und das
Frankfurter Poetikvorlesungen
Diogenes-Verlag, Zürich 2007, 153 Seiten, 18,90 Euro