Das erste Buch der Metaphysik von Aristoteles beginnt mit der Feststellung:
Erstens: Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen
Aristoteles untersucht darin die unterschiedlichen Wissensformen, zu denen Menschen befähigt sind. Sinneswahrnehmungen, Erfahrungen und handwerkliche Fertigkeiten sind für sie überlebenswichtig. Ist die materielle Existenz gesichert, beginnen Menschen nach den tiefer liegenden Zusammenhängen zu forschen. Sie staunen "über das Unerklärliche" und streben danach, ihrer Unwissenheit zu entkommen. Weisheit und Wissenschaft resultieren aus diesem Staunen. In einem solchen "Verstehen um seiner selbst willen" sieht Aristoteles die höchste Form des Wissens, die allen anwendungsbezogenen Wissensinhalten überlegen sei:
"Und wir sind der Meinung, dass die Wissenschaft, die um ihrer selbst willen und des Wissens wegen erstrebt wird, eher Weisheit sei als die, die ihrer Resultate wegen gewählt wird."
Die Einteilung, die der griechische Philosoph und Lehrer Alexanders des Großen vornahm, hat die Geschichte des Denkens geprägt. Dennoch stellen wir bis heute die Fragen immer wieder neu: Was ist Wissen? Welche Bedeutung kommt ihm in der Gesellschaft und für das Individuum zu? Wird durch Wissen Macht ausgeübt?
Aristoteles distanziert sich in einigen Passagen von seinem verehrten Lehrer Platon. Dessen Dialoge, zentriert um die Figur des Sokrates mit seiner skeptischen Haltung, haben die Literatur zum Verständnis von Wissen und Wissenschaften nachhaltig geprägt. Sokrates mutet darin seinen Gesprächspartnern und allen späteren Lesern durch wiederholtes Nachfragen die Anstrengung zu, die Wahrheit gängiger Überzeugungen zu überprüfen.
Ein wichtiges Resultat der Gespräche ist die begriffliche Unterscheidung zwischen Wissen und Meinen, zwischen Wahrheit und "Für wahr halten". Diese Unterscheidung zu beachten, schützt den Einzelnen vor Irrtum und Irrweg.
Von der Missachtung des Unterschieds zwischen Wahrheit und "Für wahr halten" leben alle Ideologien. Ohne kritische Distanz werden komplexe Sachverhalte auf vereinfachende Formeln gebracht. Aus dem angemaßten Besitz eines angeblich höheren Wissens wird ein Anspruch auf gesellschaftliche Machtausübung, ja sogar ein ewiges Machtmonopol abgeleitet. Das wird uns heute noch schmerzlich bewusst, nachdem im 20. Jahrhundert die Saat der menschenverachtenden Ideologien, die im 19. Jahrhundert entlang der Begriffe Rasse und Klasse erdacht wurden, soviel Leid und Zerstörung angerichtet hat. Unser Interesse an Wissen, das zu kritischer Urteilsfähigkeit, zu Bildung und Selbsterkenntnis beiträgt, ist daher groß.
In Deutschland bestimmt der Begriff der nachindustriellen Wissensgesellschaft den Diskurs über das Verständnis der Gesellschaft, in der wir leben. Vor allem an jüngere Generationen wird im Namen der Wissensgesellschaft appelliert, sich mehr und besser zu qualifizieren. Immer neue Reformen des Bildungs- und Ausbildungssystems treiben Lehrende und Lernende zu zusätzlichen Leistungen an. Im Kontext von Globalisierung und im Wettbewerb mit internationalen Wissenseliten wird von ihnen ein hoher persönlicher Einsatz verlangt. Doch was heißt hier Wissen?
Zweitens: Was so modern daherkommt, hat schon eine lange Geschichte voller Hoffnungen und Enttäuschungen
Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert E. Lane erfand den Begriff der Wissensgesellschaft (knowledgeable society) in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts. Richtig populär wurde er jedoch 1973 durch den Bestseller The Coming of Post-Industrial-Society. A Venture in Social Forecasting von Daniel Bell. Die Thesen des Buches hatte Bell schon viel früher in Artikeln und Vorträgen popularisiert. In der zwei Jahre später veröffentlichten gekürzten, aber immer noch fast vierhundert Seiten starken deutschen Fassung lautet der Titel lapidar: Die nachindustrielle Gesellschaft.
Es sorgte für Furore und avancierte zur sozialwissenschaftichen Pflichtlektüre an amerikanischen und deutschen Hochschulen. Was wollte Bell damit erreichen? Worauf reagierte er?
In den USA löste der technologische Vorsprung der Sowjetunion in der Weltraumforschung, der durch die erfolgreiche Entsendung des Sputniks 1957 und der ersten bemannten Kapsel in den Weltraum 1961 offensichtlich wurde, einen Schock aus. Der Überlegenheitsanspruch der westlichen Gesellschaften, mit der Kombination von Kapitalismus und Demokratie den Systemwettlauf im Kalten Krieg gegen den Kommunismus zu gewinnen, schien gefährdet. Die kritische Diagnose lautete damals: Zu wenige Menschen werden am gesellschaftlichen Fortschritt beteiligt und engagieren sich dafür.
Infolgedessen reagierten die Vereinigten Staaten mit einer gewaltigen Bildungsexpansion. Deren Eckpfeiler bestanden im Ausbau von Schulen und Vorschulen, der Einrichtung von flächendeckenden Bildungszugängen, der Reform der Lehrerausbildung und der Auflage eines vielfältigen Stipendiensystems. Das sogenannte Bildungsfernsehen wurde ins Leben gerufen. Das Pentagon entwickelte neue Speicher- und Kommunikationssysteme, um schneller größere Mengen von Daten zu verarbeiten und zu vernetzen - die Vorläufer des heutigen Internets.
Bereits im Zuge der Sozialreformen des New Deal unter Franklin D. Roosevelt wirkten die amerikanischen Sozialwissenschaften, unter pragmatischen Vorzeichen, an der wissenschaftlichen Planung von Politik mit. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es darum, die Sozialwissenschaften noch intensiver in die Ausrichtung der amerikanischen Innen- und Außenpolitik einzubeziehen. Man verfiel dem Glauben, dass die Sozialwissenschaften künftig an die Stelle von Ideologien treten könnten, indem sie, jenseits der überholten Metaphern von Klassengegensätzen und Klassenkämpfen, ein modernes gesellschaftliches Weltbild vermitteln.
Ein solches Weltbild sollte ein Gesamtprojekt beinhalten, mit optimistischen Zukunftsperspektiven für alle Bevölkerungsschichten. Auch als Frühwarnsystem der Regierung wurde versucht, die prognostischen und diagnostischen Kompetenzen der Sozialwissenschaften zu nutzen. Wissenschaftler und Politiker träumten gemeinsam von rationaler Steuerung und Kontrolle sozialer Bewegungen. Hier kommt Daniel Bell ins Spiel.
Drittens: Daniel Bell und das vermeintliche Ende der Ideologien
Daniel Bell wurde 1919 als Daniel Bolotsky in Brooklyn geboren. Seine Eltern waren jüdische Einwanderer aus Polen. Der Vater verstarb schon bald nach Daniels Geburt, die Mutter ernährte die Familie als Fabrikarbeiterin. Immer gefährdet durch Armut und Gewalt im Stadtteil, verlebte Daniel die Kindheit auf der Lower East Side von New York. Während seiner Pubertät übernahm ein Onkel die Vormundschaft und wandelte den für amerikanische Zungen sperrig klingenden Nachnamen in Bell um. Als Daniel Bell studierte er am City College, dem Harvard der Armen, von Studiengebühren befreit. Dort schloss er mit einem Bachelor in Sozialwissenschaften ab.
Seine berufliche Karriere begann er als Journalist und Herausgeber linker Publikationsorgane. Nach einiger Zeit an der Universität von Chicago arbeitete er wieder als Journalist, um sich dann von 1959 bis 1969 endgültig der Karriere als Professor für Soziologie an der Columbia University zu widmen.
Schon früh interessierte sich Bell für Politik und engagierte sich in sozialistischen Organisationen. Wie selbstverständlich kam er in Kontakt mit den "New York Jewish Intellectuals". Entstanden in den 30er Jahren im kulturellen Zentrum einer pulsierenden Metropole, trafen sich in diesem außergewöhnlichen Zirkel über zwei Generationen hinweg Literaten, Verleger und Professoren.
Obwohl nur locker organisiert, bildete sich eine Art Familie um die Herausgabe gemeinsamer Zeitschriften. Seymour M. Lipset, C. Wright Mills, Susan Sontag, Philip Roth, Saul Bellow, Arthur M. Schlesinger und Daniel Bell gehörten dazu. Mit der Zeit verständigten sie sich auf gemeinsame antitotalitäre, kosmopolitische und sozial liberale Positionen. Bell prägte die Gruppe am meisten durch seine Eloquenz, sein mitreißendes Redetalent und seine Diskussionsfreudigkeit.
In den 1950er Jahren veränderten einige jener Intellektuellen ihre Position, teilweise unter Bells Einfluss oder durch das inquisitorische Klima der McCarthy-Ära. Sie definierten sich fortan bekennerhaft als proamerikanisch und antikommunistisch. Sein enger Freund Irving Kristol, zunächst ein aktiver Trotzkist, mutierte später zum "Godfather of Neoconservativism", zum führenden Kopf der neokonservativen Bewegung. Als neokonservativ verstand sich Bell jedoch nie.
1950 mit Beginn des Korea-Krieges wurde der internationale Congress for Cultural Freedom, "Kongress für kulturelle Freiheit" in Berlin gegründet, ein Sammelbecken zumeist liberaler und antikommunistisch gesinnter Intellektueller. Mit Daniel Bell tauchten hier viele New Yorker Gesinnungsfreunde auf und brachten den Konsensliberalismus als gemeinsame Weltanschauung ein. Dieser strebte damals eine Synthese von Individualismus und Sozialpolitik in der Tradition von Roosevelts New Deal an. Systemkritik wurde unterlassen und die Vormachtstellung der USA in der westlichen Welt vorbehaltlos anerkannt.
Der Amerikaforscher Michael Hochgeschwender charakterisiert den Kongress in seinem Buch Freiheit in der Offensive? als eine von der CIA finanzierte "Agentur des Kalten Kriegs" mit dem Ziel, westliche Werte zu vermitteln und dem Vormarsch des Kommunismus auf intellektuellem Terrain Einhalt zu gebieten. Gründungsmitglieder waren John Dewey, Bertrand Russell, Benedetto Croce, Ignazio Silone und Karl Jaspers. In Deutschland unterhielt der Kongress Regionalbüros und unterstützte die Publikationen seiner Mitglieder. Aktiv beteiligt waren unter vielen anderen deutschen Autoren auch Heinrich Böll und Siegfried Lenz.
Für ein Jahr übernahm Bell die Leitung des Kongresses. Auf den Konferenzen propagierte er seine These vom Ende der Ideologien: Rechte und linke Ideologien, vor allem der Marxismus, seien in ihrer visionären Kraft "erschöpft". Die Vereinigten Staaten hätten durch Demokratisierung und Wohlfahrtsstaat die Klassenspaltung überwunden. Auch die unteren Schichten partizipierten zunehmend am gesellschaftlichen Reichtum.
Die künftige Reichweite sozialer Bewegungen sei begrenzt. Große Weltentwürfe fänden keine Gefolgschaft mehr. Als Bells Buch The End of Ideology 1960 erschien, avancierte es rasch zum Bestseller. Für die Weltanschauung vieler Mitglieder des Kongresses für kulturelle Freiheit bildete es ein Schlüsselwerk. Die Columbia University, an der Bell promoviert wurde, nahm das Werk als Dissertation an.
1969 wechselte Bell zur Havard University und lehrte dort bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn im Jahre 1990. Parallel zu seiner Tätigkeit an der Universität engagierte er sich in Stiftungen und in Kommissionen der Regierung zu Fragen des technologischen Fortschritts und der gesellschaftlichen Zukunft. Im Gespräch mit Wolf Lepenies, mit dem er Correspondence, das Magazin des Council on Foreign Relation herausgab, schilderte Bell sein Anliegen:
"Mit Roosevelt und dem New Deal […] entstand der Typus des ‚public intellectual‘. Ich wollte immer ein solcher öffentlicher Intellektueller sein, jemand, der auch von den Details der Politik etwas versteht und sich für ihr Alltagsgeschäft interessiert. Freunde von mir sagten: Der Intellektuelle muss kritisch sein. Das genügt mir nicht. Für mich besteht die entscheidende Funktion des Intellektuellen darin, Verantwortung zu übernehmen."
Daniel Bell und sein zweiter Bestseller Die nachindustrielle Gesellschaft passten wunderbar in die damalige Zeit der Suche des Westens nach neuen Perspektiven und zu den Aufgaben, welche die Sozialwissenschaften damals übernehmen sollten und wollten. Mit dem Konstrukt einer nachindustriellen Wissensgesellschaft nahm Bell den Faden seines Buches über das Ende der Ideologie auf und beantwortete nun positiv, worauf das anbrechende neue Zeitalter beruhe und worauf sich die Bürger einzustellen hätten.
Mit seinen Thesen stiftete er einen breiten Konsens zwischen europäischen und amerikanischen Sozialwissenschaftlern. Viele Autoren folgten ihm oder hatten bereits in ähnliche Richtung gedacht. Beispielsweise der Ökonom Jean Fourastié, der in seinem Buch Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts die Vision einer humanen Dienstleistungsgesellschaft entwirft. Auch mit Alain Touraine, Colin Clark und Ronald Inglehart bestanden Parallelen. Ein grundsätzlicher Optimismus einte sie und ließ die Marxisten mit ihrer unverzichtbaren Fixierung auf den Klassenkampf ziemlich "alt" aussehen.
Viertens: Vom Wandel der Industriegesellschaft zu einer nachindustriellen Wissensgesellschaft
Der Optimismus dieser Autoren lag in der Überzeugung, dass ein Zeitalter, welches durch die rauen Gesetze der Industrie geprägt worden war, seinem Ende entgegenging. Doch behielten sie recht? In welchem Sinn ist der Begriff von der nachindustriellen Wissensgesellschaft noch brauchbar?
Daniel Bell zeichnet in seinen Untersuchungen sozialstrukturelle Veränderungen der Erwerbstätigkeit, der Berufsprofile und der Arbeitsorganisationen nach. Ähnlich wie Jean Fourastié rekonstruiert er drei Phasen eines substanziellen Epochenwechsels vom "Spiel gegen die Natur" in der Agrargesellschaft über "das Spiel gegen die technisierte Natur" im Industriezeitalter zum "Spiel zwischen Personen" in der postindustriellen Gesellschaft.
Mit dem "Spiel zwischen Personen" meint Bell, dass Teamarbeit, Besprechungen, Informationsaustausch und Diskurse zunehmend das Klima in Unternehmen bestimmten. Anhand umfangreicher empirischer Daten belegt der Autor, dass immaterielle Dienstleistungen gegenüber materiellen Gütern dominieren: Immer mehr Menschen leben von Dienstleistungen, immer weniger von manueller Arbeit. Typische Dienstleistungsfelder wie Verwaltung, Gesundheit und Bildung, Forschung und Entwicklung wachsen zusehend.
Aber auch Unternehmen, die nach wie vor Güter herstellen, benötigen mehr Dienstleistungen. Tätigkeiten wie kalkulieren, konstruieren, analysieren, entwerfen und entwickeln tragen in einem immer größeren Ausmaß zur Wertschöpfung von marktreifen Produkten bei. Der "Hunger nach Tertiärem" wird unstillbar, so hatte Fourastié diesen Trend dramatisiert. Dadurch werden mehr akademische Berufe nachgefragt und die Qualifikations- und Organisationsstruktur der Arbeitswelt verändert sich.
Bell richtete seine Hoffnungen auf eine neue, sich herauskristallisierende Klasse von Wissensarbeitern. Diesen Professionals sei ein akademisch geprägter Habitus und hohe Problemlösungskompetenz eigen, die sie in die Arbeitswelt einzubringen versuchten. Er vermutet sogar, dass sich diese Wissensarbeiter sukzessive zu einer herrschenden Klasse entwickeln, erhebliche Machtvorteile im beruflichen Positionsgefüge gegenüber den besitzenden Schichten erobern und diese an den Rand drängen.
Spätestens an dieser Rekonstruktion wird aus heutiger Sicht deutlich, dass Bells seine Theorie nicht nur objektiv konzipiert, sondern sie mit den Interessen der "neuen" akademischen Eliten verknüpft. Deren Interessen waren nicht nur gegen die damals herrschenden Eliten gerichtet, sondern gegen alle Positionsinhaber, die ihren beruflichen Aufstieg nicht dem Erwerb akademischer Qualifikationen verdankten, sondern, wie in den USA bis heute verbreitet, den beruflichen Erfahrungen. Daniel Bell:
"Die nachindustrielle Gesellschaft ist in zweifacher Hinsicht eine Wissensgesellschaft: einmal, weil Neuerungen mehr und mehr von Forschung und Entwicklung getragen werden […]; und zum anderen, weil die Gesellschaft immer mehr Gewicht auf das Gebiet des Wissens legt."
Die Verfügung über theoretisches Wissen ist für Bell die zentrale Ressource, aus der sich der ökonomische Fortschritt künftig speisen wird. Waren für frühere Gesellschaften Rohstoffe und Energie die wesentlichen Ressourcen, nimmt die Bedeutung des theoretischen Wissens zu und wird - laut Bell - zu einem neuen "axialen Prinzip":
"Universitäten, Forschungsorganisationen und wissenschaftliche Institutionen […] entpuppen sich immer deutlicher als axiale Strukturen der entstehenden neuen Gesellschaft."
Produzenten dieses theoretischen Wissens sind vor allem die Universitäten. Sie bilden die Ingenieure und Techniker aus, die die Innovationen in den Unternehmen voranbringen wie auch die Sozialwissenschaftler mit ihren Kompetenzen zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse. Bei Bell und vielen seiner Zeitgenossen zeigt sich eine immense Faszination gegenüber den damals neuen computergestützten Methoden, die schier unbegrenzte Datenmengen verarbeiten und das Wissen explosionsartig erweitern.
Aber nicht nur wegen dieser Methoden gelten für ihn die Universitäten als Keimzellen der neuen Wissensgesellschaft. Die besondere Leistung des Hochschulsystems besteht für Bell darin, dass es ihm als Expertenorganisation geglückt ist, seine Selbststeuerungskompetenz zu institutionalisieren und sich seine professionelle Autonomie zu bewahren.
Er skizziert hier Ideal und Ethos der universitären Gelehrtenrepublik, die ihr Personal selbst rekrutiert und eigene Leistungsstandards definiert. Die Belohnung für den einzelnen Wissenschaftler besteht in der Reputation und Anerkennung in der Gemeinschaft der Forschenden.
Bell hofft, dass dieser Geist der Gelehrtenrepublik in die übrige Gesellschaft ausstrahlt. Die akademischen Experten würden nach ihrer Universitätszeit Führungspositionen in Unternehmen und Verwaltungen erobern und dort dem universitären Ethos treu bleiben. Auf diese Weise, so Bells "große Hoffnung", tragen sie ihren Teil dazu bei, die alte Industriewelt mit den Machtkämpfen und Ideologien "zu beerdigen".
Diese akademisch qualifizierten Experten bilden für Bell die Trägerschichten und neuen Eliten einer heraufziehenden Wissensgesellschaft. Statt sich in Kämpfen um Macht und Ideologie aufzureiben, würden die Eliten für ein gemeinschaftsorientiertes Arbeitsethos und rationale Strategien zur Bewältigung von Konflikten eintreten.
Hier klingt ein utopischer Entwurf für eine am wissenschaftlichen und technischen Fortschritt orientierte und dadurch rationalisierte Gesellschaft an. Diese Vorstellung ist als technokratisch kritisiert worden, beruht sie doch auf der Annahme, dass mit einem ungebremsten, wenn auch geplanten wissenschaftlich-technologischen Fortschritt alle gesellschaftlichen Herausforderungen zu lösen sind: das Wirtschaftswachstum voranzutreiben, den Systemwettlauf zu gewinnen, die eigene Bevölkerung zu integrieren, den Ausbruch sozialer Konflikte zu vermeiden und überkommene Machtpositionen durch rational ausgeübte Herrschaft zu ersetzen.
Aber ist eine solche Utopie nicht ihrerseits zutiefst ideologisch, weil sie die Interessen und die Meinungen einer bestimmten Klasse für die "ganze" Wahrheit ausgibt? Und dem Expertenurteil eine höhere Vernunft zubilligt als der alltagskompetenten Stimme des Bürgers?
Letztlich legt Bell, nicht weit vom Gesellschafts- und Geschichtsbegriff des Marxismus entfernt, ein deterministisch anmutendes Fortschrittsmodell zugrunde, welches durch die höhere Vernunft einer elitären Klasse, nicht der Partei, sondern der Akademiker realisiert wird. Die Macht der Eliten bedeutet immer zugleich auch die Ohnmacht der Bürger.
Aber was versteht Bell unter Wissen, dem zentralen Begriff seines Buchs und seiner Konzeption? Die Antwort darauf fällt eigentümlich blass und konventionell aus:
"Wissen ist das, was objektiv bekannt ist, ein geistiges Eigentum, das mit einem (oder mehreren) Namen verbunden ist und durch Copyright oder eine andere Form sozialer Anerkennung […] seine Bestätigung erfährt."
Der Schutz des geistigen Eigentums hat heutzutage seine Selbstverständlichkeit eingebüßt. An anderer Stelle beschreibt Bell die Tätigkeit von Experten als Wissen sammeln, ordnen, systematisieren, darstellen, kommunizieren, experimentieren und urteilen. Der Wissenschaftstheoretiker Ludwig Fleck äußerte in Anbetracht solcher Tätigkeiten von Wissenschaftlern einmal provokant:
"Die Wissenschaft denkt nicht."
"Denken" würde für Fleck bedeuten, was schon Aristoteles als höhere Form von Wissen qualifiziert hatte, nämlich die Fähigkeit, das "Worumwillen", den Sinn des Tuns, zu reflektieren. Auf die kritische Urteilskompetenz, die in der europäischen Tradition von Platon und Aristoteles über Kant bis zu Hegel die Qualität des Wissens an seiner Fähigkeit bemisst, Intransparenz und den Schein der Herrschaft zu durchdringen, rekurriert Bell nicht. Daher halten auch die Soziologen Hartmut Häussermann und Walter Siebel ernüchternd fest:
"Bei Bell scheint am Ende die vage Vision einer Gesellschaft auf, die von Wissenschaftlern und politischen Technokraten beherrscht wird, eine Vision, die näher am militärisch-industriellen Komplex angesiedelt ist als an optimistischen Vorstellungen von einer Gesellschaft, in der die Menschen ihre Geschicke bewusst lenken."
Fünftens: Das Konzept der Wissensgesellschaft ist aus der Zeit gefallen
Was aber ist aus der Vision Bells geworden? Die Sozialwissenschaften haben die Erwartungen, die die Politik gehegt hat, nicht erfüllt. Umgekehrt hat aber auch die amerikanische Politik den Vorstellungen der Sozialwissenschaften nicht entsprochen, beeinflusst durch die Bürgerrechtsbewegung und die Proteste gegen den Vietnam Krieg. Soziologen wie Daniel Bell, mit Ausstrahlung ins wissenschaftliche, kulturelle und politische System hinein, wurden selten.
In seinem dritten Bestseller Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus beklagt er das Auseinanderdriften von Politik, Kultur und Ökonomie. Anti-Atom-Bewegung, Multikulturalismus, Feminismus und freizügige Lebensformen waren seine Sache nicht. Er sah darin die arbeitsethischen Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs der westlichen Gesellschaften gefährdet. Gesellschaft war für ihn ein Elitenprojekt, von Öffnung und sozialen Bewegungen hielt er nichts.
Bell kritisierte auch die Ökonomie, die zu wenig dem Hedonismus, dem Konsumismus und der Profitgier widerstehe. Sich selbst betrachtete er sein Leben lang als "Sozialist in der Ökonomie, Liberaler in der Politik, Konservativer in der Kultur". Weitere Bestseller gelangen ihm nicht mehr. Im Januar 2011 starb er in Cambridge, Massachusetts.
Trägt der Begriff der postindustriellen Wissensgesellschaft noch zum Verständnis der Gegenwart bei? Empirisch betrachtet ist festzuhalten: Zwar erbringt die Mehrheit der erwerbstätigen Bevölkerung in modernen Gesellschaften Dienstleistungen, aber ein stabiles Drittel leistet noch immer Industriearbeit. Die Probleme des Industriezeitalters wie soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Entfremdung, prägen noch die Gegenwart. Über politische Strategien zu deren Lösung wird noch immer politisch gestritten.
Robert B. Reich, der Arbeitsminister der ersten Clinton-Administration, untersucht in seinem spannenden Buch Die neue Weltwirtschaft die soziale Positionierung der Wissensarbeiter. Die Verkleinerung von betrieblichen Stammbelegschaften im Zuge der Globalisierung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat zu einer gewaltigen Erosion der amerikanischen Mittelschicht geführt und die Wissensarbeiter in den Unternehmen geschwächt. Sie konnten ihre Stellung kaum bewahren, geschweige denn verbessern und leiden unter immensen Einkommens- und Statusverlusten.
Außerdem erhöhte sich die Zahl der niedrig qualifizierten und schlecht bezahlten Dienstleistungstätigkeiten in den USA und auch in Deutschland. Reich identifiziert, in Weiterentwicklung des Konzepts von Bell, eine Gruppe von akademisch gebildeten Professionals, von denen die Konkurrenzfähigkeit der amerikanischen Wirtschaft auf den Weltmärkten in besonderer Weise abhänge. Er nennt sie Symbolanalytiker:
"Jedoch dürfe man sie nicht ‚herrschen' lassen, sondern sie sollten, vor allem durch die Politik, in ihrem Aktionsradius begrenzt und kontrolliert werden, sonst könne es passieren, dass sie ihre kreativen Ideen manipulativ verwenden, ‚um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, die deren Manipulationen nicht durchschauen.‘"
Aber auch Dienstleistungsfelder wie Gesundheit und Bildung, die in vielen Ländern durch klamme öffentliche Haushalte finanziert werden, geraten unter Druck. Ökonomisierung und Rationalisierung statt des "Spiels zwischen Personen" prägen dort vielerorts die Realität: Statt idealer Diskurse herrscht permanenter Arbeitsstress. Unter diesen Bedingungen gelingt es den Wissensarbeitern immer weniger, ihre Machtpositionen aufgrund ihrer Expertise zu sichern. Statt aufzusteigen, steigen viele von ihnen ab.
Die Wissenseliten in den Unternehmen und Verwaltungen sind zu heterogen, um sich solidarisch zu verhalten und bekämpfen sich wechselseitig mit Vorschlägen zur Rationalisierung von Arbeitsbereichen. Sukzessive werden immaterielle Dienstleistungen, vor allem Informationen und Daten in industriell gefertigte Konsumgüter umgewandelt. Diese dramatische Entwicklung trifft insbesondere das wissenschaftliche Wissen, das sich aufgrund seiner Abstraktheit und Generalisierbarkeit speichern und transferieren lässt. Das Wissen der Experten kann so in entpersonalisierter Form als kommerzialisiertes Expertensystem weltweit vertrieben werden. Die Gewinnerin ist die Industrie.
Der britische Soziologe Jonathan Gershuny hat schon kurz nach Erscheinen des Buchs von Bell prognostiziert, dass der Weg in die postindustrialisierte Wissensgesellschaft versperrt sei. Er hielt es eher für wahrscheinlich, dass ein "komplettes Universitätsausbildungsangebot" in kommerzialisierter und in virtueller Form jederzeit und an jedem Ort zugänglich ist, als dass Bildungsinstitutionen wie Universitäten ausgebaut würden. Dem lehrenden Personal käme nur noch ein marginaler Stellenwert zu. Universitäten als kulturelle Einrichtungen würden dann nicht überleben, zahlungsfähige Bürger könnten dann das in den technologischen Systemen gespeicherte universitäre Wissen für sich privat erwerben.
Das Konzept der Wissensgesellschaft ist historisch längst "aus der Zeit gefallen". Ideologisch ist es an die Interessen einer Akademikerschicht gebunden, die im Zuge des Kalten Kriegs in den USA aufstieg und einen heutzutage nicht mehr zeitgemäßen Politikstil propagierte.
Die falschen Weichenstellungen, zu denen der Begriff der Wissensgesellschaft das Signal gibt, führen hierzulande zu einer Überbeanspruchung der Bildungseinrichtungen. Das Ziel bei Schülern und Studierenden, die kritische Urteilsbildung zu fördern und damit die Fähigkeit, zwischen Wahrheit und Scheinwissen zu unterscheiden, ist längst verloren gegangen. Zudem sind Freiräume vernichtet worden. Das hätte gewiss auch Daniel Bell nicht gefallen.
Erstens: Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen
Aristoteles untersucht darin die unterschiedlichen Wissensformen, zu denen Menschen befähigt sind. Sinneswahrnehmungen, Erfahrungen und handwerkliche Fertigkeiten sind für sie überlebenswichtig. Ist die materielle Existenz gesichert, beginnen Menschen nach den tiefer liegenden Zusammenhängen zu forschen. Sie staunen "über das Unerklärliche" und streben danach, ihrer Unwissenheit zu entkommen. Weisheit und Wissenschaft resultieren aus diesem Staunen. In einem solchen "Verstehen um seiner selbst willen" sieht Aristoteles die höchste Form des Wissens, die allen anwendungsbezogenen Wissensinhalten überlegen sei:
"Und wir sind der Meinung, dass die Wissenschaft, die um ihrer selbst willen und des Wissens wegen erstrebt wird, eher Weisheit sei als die, die ihrer Resultate wegen gewählt wird."
Die Einteilung, die der griechische Philosoph und Lehrer Alexanders des Großen vornahm, hat die Geschichte des Denkens geprägt. Dennoch stellen wir bis heute die Fragen immer wieder neu: Was ist Wissen? Welche Bedeutung kommt ihm in der Gesellschaft und für das Individuum zu? Wird durch Wissen Macht ausgeübt?
Aristoteles distanziert sich in einigen Passagen von seinem verehrten Lehrer Platon. Dessen Dialoge, zentriert um die Figur des Sokrates mit seiner skeptischen Haltung, haben die Literatur zum Verständnis von Wissen und Wissenschaften nachhaltig geprägt. Sokrates mutet darin seinen Gesprächspartnern und allen späteren Lesern durch wiederholtes Nachfragen die Anstrengung zu, die Wahrheit gängiger Überzeugungen zu überprüfen.
Ein wichtiges Resultat der Gespräche ist die begriffliche Unterscheidung zwischen Wissen und Meinen, zwischen Wahrheit und "Für wahr halten". Diese Unterscheidung zu beachten, schützt den Einzelnen vor Irrtum und Irrweg.
Von der Missachtung des Unterschieds zwischen Wahrheit und "Für wahr halten" leben alle Ideologien. Ohne kritische Distanz werden komplexe Sachverhalte auf vereinfachende Formeln gebracht. Aus dem angemaßten Besitz eines angeblich höheren Wissens wird ein Anspruch auf gesellschaftliche Machtausübung, ja sogar ein ewiges Machtmonopol abgeleitet. Das wird uns heute noch schmerzlich bewusst, nachdem im 20. Jahrhundert die Saat der menschenverachtenden Ideologien, die im 19. Jahrhundert entlang der Begriffe Rasse und Klasse erdacht wurden, soviel Leid und Zerstörung angerichtet hat. Unser Interesse an Wissen, das zu kritischer Urteilsfähigkeit, zu Bildung und Selbsterkenntnis beiträgt, ist daher groß.
In Deutschland bestimmt der Begriff der nachindustriellen Wissensgesellschaft den Diskurs über das Verständnis der Gesellschaft, in der wir leben. Vor allem an jüngere Generationen wird im Namen der Wissensgesellschaft appelliert, sich mehr und besser zu qualifizieren. Immer neue Reformen des Bildungs- und Ausbildungssystems treiben Lehrende und Lernende zu zusätzlichen Leistungen an. Im Kontext von Globalisierung und im Wettbewerb mit internationalen Wissenseliten wird von ihnen ein hoher persönlicher Einsatz verlangt. Doch was heißt hier Wissen?
Zweitens: Was so modern daherkommt, hat schon eine lange Geschichte voller Hoffnungen und Enttäuschungen
Der amerikanische Politikwissenschaftler Robert E. Lane erfand den Begriff der Wissensgesellschaft (knowledgeable society) in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts. Richtig populär wurde er jedoch 1973 durch den Bestseller The Coming of Post-Industrial-Society. A Venture in Social Forecasting von Daniel Bell. Die Thesen des Buches hatte Bell schon viel früher in Artikeln und Vorträgen popularisiert. In der zwei Jahre später veröffentlichten gekürzten, aber immer noch fast vierhundert Seiten starken deutschen Fassung lautet der Titel lapidar: Die nachindustrielle Gesellschaft.
Es sorgte für Furore und avancierte zur sozialwissenschaftichen Pflichtlektüre an amerikanischen und deutschen Hochschulen. Was wollte Bell damit erreichen? Worauf reagierte er?
In den USA löste der technologische Vorsprung der Sowjetunion in der Weltraumforschung, der durch die erfolgreiche Entsendung des Sputniks 1957 und der ersten bemannten Kapsel in den Weltraum 1961 offensichtlich wurde, einen Schock aus. Der Überlegenheitsanspruch der westlichen Gesellschaften, mit der Kombination von Kapitalismus und Demokratie den Systemwettlauf im Kalten Krieg gegen den Kommunismus zu gewinnen, schien gefährdet. Die kritische Diagnose lautete damals: Zu wenige Menschen werden am gesellschaftlichen Fortschritt beteiligt und engagieren sich dafür.
Infolgedessen reagierten die Vereinigten Staaten mit einer gewaltigen Bildungsexpansion. Deren Eckpfeiler bestanden im Ausbau von Schulen und Vorschulen, der Einrichtung von flächendeckenden Bildungszugängen, der Reform der Lehrerausbildung und der Auflage eines vielfältigen Stipendiensystems. Das sogenannte Bildungsfernsehen wurde ins Leben gerufen. Das Pentagon entwickelte neue Speicher- und Kommunikationssysteme, um schneller größere Mengen von Daten zu verarbeiten und zu vernetzen - die Vorläufer des heutigen Internets.
Bereits im Zuge der Sozialreformen des New Deal unter Franklin D. Roosevelt wirkten die amerikanischen Sozialwissenschaften, unter pragmatischen Vorzeichen, an der wissenschaftlichen Planung von Politik mit. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es darum, die Sozialwissenschaften noch intensiver in die Ausrichtung der amerikanischen Innen- und Außenpolitik einzubeziehen. Man verfiel dem Glauben, dass die Sozialwissenschaften künftig an die Stelle von Ideologien treten könnten, indem sie, jenseits der überholten Metaphern von Klassengegensätzen und Klassenkämpfen, ein modernes gesellschaftliches Weltbild vermitteln.
Ein solches Weltbild sollte ein Gesamtprojekt beinhalten, mit optimistischen Zukunftsperspektiven für alle Bevölkerungsschichten. Auch als Frühwarnsystem der Regierung wurde versucht, die prognostischen und diagnostischen Kompetenzen der Sozialwissenschaften zu nutzen. Wissenschaftler und Politiker träumten gemeinsam von rationaler Steuerung und Kontrolle sozialer Bewegungen. Hier kommt Daniel Bell ins Spiel.
Drittens: Daniel Bell und das vermeintliche Ende der Ideologien
Daniel Bell wurde 1919 als Daniel Bolotsky in Brooklyn geboren. Seine Eltern waren jüdische Einwanderer aus Polen. Der Vater verstarb schon bald nach Daniels Geburt, die Mutter ernährte die Familie als Fabrikarbeiterin. Immer gefährdet durch Armut und Gewalt im Stadtteil, verlebte Daniel die Kindheit auf der Lower East Side von New York. Während seiner Pubertät übernahm ein Onkel die Vormundschaft und wandelte den für amerikanische Zungen sperrig klingenden Nachnamen in Bell um. Als Daniel Bell studierte er am City College, dem Harvard der Armen, von Studiengebühren befreit. Dort schloss er mit einem Bachelor in Sozialwissenschaften ab.
Seine berufliche Karriere begann er als Journalist und Herausgeber linker Publikationsorgane. Nach einiger Zeit an der Universität von Chicago arbeitete er wieder als Journalist, um sich dann von 1959 bis 1969 endgültig der Karriere als Professor für Soziologie an der Columbia University zu widmen.
Schon früh interessierte sich Bell für Politik und engagierte sich in sozialistischen Organisationen. Wie selbstverständlich kam er in Kontakt mit den "New York Jewish Intellectuals". Entstanden in den 30er Jahren im kulturellen Zentrum einer pulsierenden Metropole, trafen sich in diesem außergewöhnlichen Zirkel über zwei Generationen hinweg Literaten, Verleger und Professoren.
Obwohl nur locker organisiert, bildete sich eine Art Familie um die Herausgabe gemeinsamer Zeitschriften. Seymour M. Lipset, C. Wright Mills, Susan Sontag, Philip Roth, Saul Bellow, Arthur M. Schlesinger und Daniel Bell gehörten dazu. Mit der Zeit verständigten sie sich auf gemeinsame antitotalitäre, kosmopolitische und sozial liberale Positionen. Bell prägte die Gruppe am meisten durch seine Eloquenz, sein mitreißendes Redetalent und seine Diskussionsfreudigkeit.
In den 1950er Jahren veränderten einige jener Intellektuellen ihre Position, teilweise unter Bells Einfluss oder durch das inquisitorische Klima der McCarthy-Ära. Sie definierten sich fortan bekennerhaft als proamerikanisch und antikommunistisch. Sein enger Freund Irving Kristol, zunächst ein aktiver Trotzkist, mutierte später zum "Godfather of Neoconservativism", zum führenden Kopf der neokonservativen Bewegung. Als neokonservativ verstand sich Bell jedoch nie.
1950 mit Beginn des Korea-Krieges wurde der internationale Congress for Cultural Freedom, "Kongress für kulturelle Freiheit" in Berlin gegründet, ein Sammelbecken zumeist liberaler und antikommunistisch gesinnter Intellektueller. Mit Daniel Bell tauchten hier viele New Yorker Gesinnungsfreunde auf und brachten den Konsensliberalismus als gemeinsame Weltanschauung ein. Dieser strebte damals eine Synthese von Individualismus und Sozialpolitik in der Tradition von Roosevelts New Deal an. Systemkritik wurde unterlassen und die Vormachtstellung der USA in der westlichen Welt vorbehaltlos anerkannt.
Der Amerikaforscher Michael Hochgeschwender charakterisiert den Kongress in seinem Buch Freiheit in der Offensive? als eine von der CIA finanzierte "Agentur des Kalten Kriegs" mit dem Ziel, westliche Werte zu vermitteln und dem Vormarsch des Kommunismus auf intellektuellem Terrain Einhalt zu gebieten. Gründungsmitglieder waren John Dewey, Bertrand Russell, Benedetto Croce, Ignazio Silone und Karl Jaspers. In Deutschland unterhielt der Kongress Regionalbüros und unterstützte die Publikationen seiner Mitglieder. Aktiv beteiligt waren unter vielen anderen deutschen Autoren auch Heinrich Böll und Siegfried Lenz.
Für ein Jahr übernahm Bell die Leitung des Kongresses. Auf den Konferenzen propagierte er seine These vom Ende der Ideologien: Rechte und linke Ideologien, vor allem der Marxismus, seien in ihrer visionären Kraft "erschöpft". Die Vereinigten Staaten hätten durch Demokratisierung und Wohlfahrtsstaat die Klassenspaltung überwunden. Auch die unteren Schichten partizipierten zunehmend am gesellschaftlichen Reichtum.
Die künftige Reichweite sozialer Bewegungen sei begrenzt. Große Weltentwürfe fänden keine Gefolgschaft mehr. Als Bells Buch The End of Ideology 1960 erschien, avancierte es rasch zum Bestseller. Für die Weltanschauung vieler Mitglieder des Kongresses für kulturelle Freiheit bildete es ein Schlüsselwerk. Die Columbia University, an der Bell promoviert wurde, nahm das Werk als Dissertation an.
1969 wechselte Bell zur Havard University und lehrte dort bis zum Ende seiner beruflichen Laufbahn im Jahre 1990. Parallel zu seiner Tätigkeit an der Universität engagierte er sich in Stiftungen und in Kommissionen der Regierung zu Fragen des technologischen Fortschritts und der gesellschaftlichen Zukunft. Im Gespräch mit Wolf Lepenies, mit dem er Correspondence, das Magazin des Council on Foreign Relation herausgab, schilderte Bell sein Anliegen:
"Mit Roosevelt und dem New Deal […] entstand der Typus des ‚public intellectual‘. Ich wollte immer ein solcher öffentlicher Intellektueller sein, jemand, der auch von den Details der Politik etwas versteht und sich für ihr Alltagsgeschäft interessiert. Freunde von mir sagten: Der Intellektuelle muss kritisch sein. Das genügt mir nicht. Für mich besteht die entscheidende Funktion des Intellektuellen darin, Verantwortung zu übernehmen."
Daniel Bell und sein zweiter Bestseller Die nachindustrielle Gesellschaft passten wunderbar in die damalige Zeit der Suche des Westens nach neuen Perspektiven und zu den Aufgaben, welche die Sozialwissenschaften damals übernehmen sollten und wollten. Mit dem Konstrukt einer nachindustriellen Wissensgesellschaft nahm Bell den Faden seines Buches über das Ende der Ideologie auf und beantwortete nun positiv, worauf das anbrechende neue Zeitalter beruhe und worauf sich die Bürger einzustellen hätten.
Mit seinen Thesen stiftete er einen breiten Konsens zwischen europäischen und amerikanischen Sozialwissenschaftlern. Viele Autoren folgten ihm oder hatten bereits in ähnliche Richtung gedacht. Beispielsweise der Ökonom Jean Fourastié, der in seinem Buch Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts die Vision einer humanen Dienstleistungsgesellschaft entwirft. Auch mit Alain Touraine, Colin Clark und Ronald Inglehart bestanden Parallelen. Ein grundsätzlicher Optimismus einte sie und ließ die Marxisten mit ihrer unverzichtbaren Fixierung auf den Klassenkampf ziemlich "alt" aussehen.
Viertens: Vom Wandel der Industriegesellschaft zu einer nachindustriellen Wissensgesellschaft
Der Optimismus dieser Autoren lag in der Überzeugung, dass ein Zeitalter, welches durch die rauen Gesetze der Industrie geprägt worden war, seinem Ende entgegenging. Doch behielten sie recht? In welchem Sinn ist der Begriff von der nachindustriellen Wissensgesellschaft noch brauchbar?
Daniel Bell zeichnet in seinen Untersuchungen sozialstrukturelle Veränderungen der Erwerbstätigkeit, der Berufsprofile und der Arbeitsorganisationen nach. Ähnlich wie Jean Fourastié rekonstruiert er drei Phasen eines substanziellen Epochenwechsels vom "Spiel gegen die Natur" in der Agrargesellschaft über "das Spiel gegen die technisierte Natur" im Industriezeitalter zum "Spiel zwischen Personen" in der postindustriellen Gesellschaft.
Mit dem "Spiel zwischen Personen" meint Bell, dass Teamarbeit, Besprechungen, Informationsaustausch und Diskurse zunehmend das Klima in Unternehmen bestimmten. Anhand umfangreicher empirischer Daten belegt der Autor, dass immaterielle Dienstleistungen gegenüber materiellen Gütern dominieren: Immer mehr Menschen leben von Dienstleistungen, immer weniger von manueller Arbeit. Typische Dienstleistungsfelder wie Verwaltung, Gesundheit und Bildung, Forschung und Entwicklung wachsen zusehend.
Aber auch Unternehmen, die nach wie vor Güter herstellen, benötigen mehr Dienstleistungen. Tätigkeiten wie kalkulieren, konstruieren, analysieren, entwerfen und entwickeln tragen in einem immer größeren Ausmaß zur Wertschöpfung von marktreifen Produkten bei. Der "Hunger nach Tertiärem" wird unstillbar, so hatte Fourastié diesen Trend dramatisiert. Dadurch werden mehr akademische Berufe nachgefragt und die Qualifikations- und Organisationsstruktur der Arbeitswelt verändert sich.
Bell richtete seine Hoffnungen auf eine neue, sich herauskristallisierende Klasse von Wissensarbeitern. Diesen Professionals sei ein akademisch geprägter Habitus und hohe Problemlösungskompetenz eigen, die sie in die Arbeitswelt einzubringen versuchten. Er vermutet sogar, dass sich diese Wissensarbeiter sukzessive zu einer herrschenden Klasse entwickeln, erhebliche Machtvorteile im beruflichen Positionsgefüge gegenüber den besitzenden Schichten erobern und diese an den Rand drängen.
Spätestens an dieser Rekonstruktion wird aus heutiger Sicht deutlich, dass Bells seine Theorie nicht nur objektiv konzipiert, sondern sie mit den Interessen der "neuen" akademischen Eliten verknüpft. Deren Interessen waren nicht nur gegen die damals herrschenden Eliten gerichtet, sondern gegen alle Positionsinhaber, die ihren beruflichen Aufstieg nicht dem Erwerb akademischer Qualifikationen verdankten, sondern, wie in den USA bis heute verbreitet, den beruflichen Erfahrungen. Daniel Bell:
"Die nachindustrielle Gesellschaft ist in zweifacher Hinsicht eine Wissensgesellschaft: einmal, weil Neuerungen mehr und mehr von Forschung und Entwicklung getragen werden […]; und zum anderen, weil die Gesellschaft immer mehr Gewicht auf das Gebiet des Wissens legt."
Die Verfügung über theoretisches Wissen ist für Bell die zentrale Ressource, aus der sich der ökonomische Fortschritt künftig speisen wird. Waren für frühere Gesellschaften Rohstoffe und Energie die wesentlichen Ressourcen, nimmt die Bedeutung des theoretischen Wissens zu und wird - laut Bell - zu einem neuen "axialen Prinzip":
"Universitäten, Forschungsorganisationen und wissenschaftliche Institutionen […] entpuppen sich immer deutlicher als axiale Strukturen der entstehenden neuen Gesellschaft."
Produzenten dieses theoretischen Wissens sind vor allem die Universitäten. Sie bilden die Ingenieure und Techniker aus, die die Innovationen in den Unternehmen voranbringen wie auch die Sozialwissenschaftler mit ihren Kompetenzen zur Steuerung gesellschaftlicher Prozesse. Bei Bell und vielen seiner Zeitgenossen zeigt sich eine immense Faszination gegenüber den damals neuen computergestützten Methoden, die schier unbegrenzte Datenmengen verarbeiten und das Wissen explosionsartig erweitern.
Aber nicht nur wegen dieser Methoden gelten für ihn die Universitäten als Keimzellen der neuen Wissensgesellschaft. Die besondere Leistung des Hochschulsystems besteht für Bell darin, dass es ihm als Expertenorganisation geglückt ist, seine Selbststeuerungskompetenz zu institutionalisieren und sich seine professionelle Autonomie zu bewahren.
Er skizziert hier Ideal und Ethos der universitären Gelehrtenrepublik, die ihr Personal selbst rekrutiert und eigene Leistungsstandards definiert. Die Belohnung für den einzelnen Wissenschaftler besteht in der Reputation und Anerkennung in der Gemeinschaft der Forschenden.
Bell hofft, dass dieser Geist der Gelehrtenrepublik in die übrige Gesellschaft ausstrahlt. Die akademischen Experten würden nach ihrer Universitätszeit Führungspositionen in Unternehmen und Verwaltungen erobern und dort dem universitären Ethos treu bleiben. Auf diese Weise, so Bells "große Hoffnung", tragen sie ihren Teil dazu bei, die alte Industriewelt mit den Machtkämpfen und Ideologien "zu beerdigen".
Diese akademisch qualifizierten Experten bilden für Bell die Trägerschichten und neuen Eliten einer heraufziehenden Wissensgesellschaft. Statt sich in Kämpfen um Macht und Ideologie aufzureiben, würden die Eliten für ein gemeinschaftsorientiertes Arbeitsethos und rationale Strategien zur Bewältigung von Konflikten eintreten.
Hier klingt ein utopischer Entwurf für eine am wissenschaftlichen und technischen Fortschritt orientierte und dadurch rationalisierte Gesellschaft an. Diese Vorstellung ist als technokratisch kritisiert worden, beruht sie doch auf der Annahme, dass mit einem ungebremsten, wenn auch geplanten wissenschaftlich-technologischen Fortschritt alle gesellschaftlichen Herausforderungen zu lösen sind: das Wirtschaftswachstum voranzutreiben, den Systemwettlauf zu gewinnen, die eigene Bevölkerung zu integrieren, den Ausbruch sozialer Konflikte zu vermeiden und überkommene Machtpositionen durch rational ausgeübte Herrschaft zu ersetzen.
Aber ist eine solche Utopie nicht ihrerseits zutiefst ideologisch, weil sie die Interessen und die Meinungen einer bestimmten Klasse für die "ganze" Wahrheit ausgibt? Und dem Expertenurteil eine höhere Vernunft zubilligt als der alltagskompetenten Stimme des Bürgers?
Letztlich legt Bell, nicht weit vom Gesellschafts- und Geschichtsbegriff des Marxismus entfernt, ein deterministisch anmutendes Fortschrittsmodell zugrunde, welches durch die höhere Vernunft einer elitären Klasse, nicht der Partei, sondern der Akademiker realisiert wird. Die Macht der Eliten bedeutet immer zugleich auch die Ohnmacht der Bürger.
Aber was versteht Bell unter Wissen, dem zentralen Begriff seines Buchs und seiner Konzeption? Die Antwort darauf fällt eigentümlich blass und konventionell aus:
"Wissen ist das, was objektiv bekannt ist, ein geistiges Eigentum, das mit einem (oder mehreren) Namen verbunden ist und durch Copyright oder eine andere Form sozialer Anerkennung […] seine Bestätigung erfährt."
Der Schutz des geistigen Eigentums hat heutzutage seine Selbstverständlichkeit eingebüßt. An anderer Stelle beschreibt Bell die Tätigkeit von Experten als Wissen sammeln, ordnen, systematisieren, darstellen, kommunizieren, experimentieren und urteilen. Der Wissenschaftstheoretiker Ludwig Fleck äußerte in Anbetracht solcher Tätigkeiten von Wissenschaftlern einmal provokant:
"Die Wissenschaft denkt nicht."
"Denken" würde für Fleck bedeuten, was schon Aristoteles als höhere Form von Wissen qualifiziert hatte, nämlich die Fähigkeit, das "Worumwillen", den Sinn des Tuns, zu reflektieren. Auf die kritische Urteilskompetenz, die in der europäischen Tradition von Platon und Aristoteles über Kant bis zu Hegel die Qualität des Wissens an seiner Fähigkeit bemisst, Intransparenz und den Schein der Herrschaft zu durchdringen, rekurriert Bell nicht. Daher halten auch die Soziologen Hartmut Häussermann und Walter Siebel ernüchternd fest:
"Bei Bell scheint am Ende die vage Vision einer Gesellschaft auf, die von Wissenschaftlern und politischen Technokraten beherrscht wird, eine Vision, die näher am militärisch-industriellen Komplex angesiedelt ist als an optimistischen Vorstellungen von einer Gesellschaft, in der die Menschen ihre Geschicke bewusst lenken."
Fünftens: Das Konzept der Wissensgesellschaft ist aus der Zeit gefallen
Was aber ist aus der Vision Bells geworden? Die Sozialwissenschaften haben die Erwartungen, die die Politik gehegt hat, nicht erfüllt. Umgekehrt hat aber auch die amerikanische Politik den Vorstellungen der Sozialwissenschaften nicht entsprochen, beeinflusst durch die Bürgerrechtsbewegung und die Proteste gegen den Vietnam Krieg. Soziologen wie Daniel Bell, mit Ausstrahlung ins wissenschaftliche, kulturelle und politische System hinein, wurden selten.
In seinem dritten Bestseller Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus beklagt er das Auseinanderdriften von Politik, Kultur und Ökonomie. Anti-Atom-Bewegung, Multikulturalismus, Feminismus und freizügige Lebensformen waren seine Sache nicht. Er sah darin die arbeitsethischen Grundlagen des wirtschaftlichen Erfolgs der westlichen Gesellschaften gefährdet. Gesellschaft war für ihn ein Elitenprojekt, von Öffnung und sozialen Bewegungen hielt er nichts.
Bell kritisierte auch die Ökonomie, die zu wenig dem Hedonismus, dem Konsumismus und der Profitgier widerstehe. Sich selbst betrachtete er sein Leben lang als "Sozialist in der Ökonomie, Liberaler in der Politik, Konservativer in der Kultur". Weitere Bestseller gelangen ihm nicht mehr. Im Januar 2011 starb er in Cambridge, Massachusetts.
Trägt der Begriff der postindustriellen Wissensgesellschaft noch zum Verständnis der Gegenwart bei? Empirisch betrachtet ist festzuhalten: Zwar erbringt die Mehrheit der erwerbstätigen Bevölkerung in modernen Gesellschaften Dienstleistungen, aber ein stabiles Drittel leistet noch immer Industriearbeit. Die Probleme des Industriezeitalters wie soziale Ungleichheit, Arbeitslosigkeit, Entfremdung, prägen noch die Gegenwart. Über politische Strategien zu deren Lösung wird noch immer politisch gestritten.
Robert B. Reich, der Arbeitsminister der ersten Clinton-Administration, untersucht in seinem spannenden Buch Die neue Weltwirtschaft die soziale Positionierung der Wissensarbeiter. Die Verkleinerung von betrieblichen Stammbelegschaften im Zuge der Globalisierung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat zu einer gewaltigen Erosion der amerikanischen Mittelschicht geführt und die Wissensarbeiter in den Unternehmen geschwächt. Sie konnten ihre Stellung kaum bewahren, geschweige denn verbessern und leiden unter immensen Einkommens- und Statusverlusten.
Außerdem erhöhte sich die Zahl der niedrig qualifizierten und schlecht bezahlten Dienstleistungstätigkeiten in den USA und auch in Deutschland. Reich identifiziert, in Weiterentwicklung des Konzepts von Bell, eine Gruppe von akademisch gebildeten Professionals, von denen die Konkurrenzfähigkeit der amerikanischen Wirtschaft auf den Weltmärkten in besonderer Weise abhänge. Er nennt sie Symbolanalytiker:
"Jedoch dürfe man sie nicht ‚herrschen' lassen, sondern sie sollten, vor allem durch die Politik, in ihrem Aktionsradius begrenzt und kontrolliert werden, sonst könne es passieren, dass sie ihre kreativen Ideen manipulativ verwenden, ‚um den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen, die deren Manipulationen nicht durchschauen.‘"
Aber auch Dienstleistungsfelder wie Gesundheit und Bildung, die in vielen Ländern durch klamme öffentliche Haushalte finanziert werden, geraten unter Druck. Ökonomisierung und Rationalisierung statt des "Spiels zwischen Personen" prägen dort vielerorts die Realität: Statt idealer Diskurse herrscht permanenter Arbeitsstress. Unter diesen Bedingungen gelingt es den Wissensarbeitern immer weniger, ihre Machtpositionen aufgrund ihrer Expertise zu sichern. Statt aufzusteigen, steigen viele von ihnen ab.
Die Wissenseliten in den Unternehmen und Verwaltungen sind zu heterogen, um sich solidarisch zu verhalten und bekämpfen sich wechselseitig mit Vorschlägen zur Rationalisierung von Arbeitsbereichen. Sukzessive werden immaterielle Dienstleistungen, vor allem Informationen und Daten in industriell gefertigte Konsumgüter umgewandelt. Diese dramatische Entwicklung trifft insbesondere das wissenschaftliche Wissen, das sich aufgrund seiner Abstraktheit und Generalisierbarkeit speichern und transferieren lässt. Das Wissen der Experten kann so in entpersonalisierter Form als kommerzialisiertes Expertensystem weltweit vertrieben werden. Die Gewinnerin ist die Industrie.
Der britische Soziologe Jonathan Gershuny hat schon kurz nach Erscheinen des Buchs von Bell prognostiziert, dass der Weg in die postindustrialisierte Wissensgesellschaft versperrt sei. Er hielt es eher für wahrscheinlich, dass ein "komplettes Universitätsausbildungsangebot" in kommerzialisierter und in virtueller Form jederzeit und an jedem Ort zugänglich ist, als dass Bildungsinstitutionen wie Universitäten ausgebaut würden. Dem lehrenden Personal käme nur noch ein marginaler Stellenwert zu. Universitäten als kulturelle Einrichtungen würden dann nicht überleben, zahlungsfähige Bürger könnten dann das in den technologischen Systemen gespeicherte universitäre Wissen für sich privat erwerben.
Das Konzept der Wissensgesellschaft ist historisch längst "aus der Zeit gefallen". Ideologisch ist es an die Interessen einer Akademikerschicht gebunden, die im Zuge des Kalten Kriegs in den USA aufstieg und einen heutzutage nicht mehr zeitgemäßen Politikstil propagierte.
Die falschen Weichenstellungen, zu denen der Begriff der Wissensgesellschaft das Signal gibt, führen hierzulande zu einer Überbeanspruchung der Bildungseinrichtungen. Das Ziel bei Schülern und Studierenden, die kritische Urteilsbildung zu fördern und damit die Fähigkeit, zwischen Wahrheit und Scheinwissen zu unterscheiden, ist längst verloren gegangen. Zudem sind Freiräume vernichtet worden. Das hätte gewiss auch Daniel Bell nicht gefallen.