Alice Schwarzer wird 70. Für die an der Universität Konstanz lehrende Historikerin Miriam Gebhardt ist das kein Grund, das Lebenswerk der Ikone des deutschen Feminismus zu feiern. Zwar habe Alice Schwarzer den Feminismus in die Mitte der Gesellschaft hineingetragen. Doch sei es ebenso Schwarzer zuzurechnen, dass die Frauenbewegung heute, so Gebhardt, einem Geisterschiff gleiche. Der Feminismus in Deutschland sei programmatisch unbedeutend, organisatorisch unsichtbar und auf die eine Symbolfigur zusammengeschrumpft, kritisiert Gebhardt. Und was wurde erreicht?
"Die Forderungen der Abtreibungskampagne, mit der Schwarzer verbunden wird, sind vierzig Jahre später immer noch nicht erfüllt. In den DAX-Vorständen sitzen lediglich zwischen zwei und drei Prozent Frauen. Während es in Skandinavien Frauenquoten für Vorstände und Aufsichtsräte gibt, während sich überall auf der Welt unter der Burka feministischer Aufruhr äußert, wird in Deutschland diskutiert, wann die Lebensgefährtin des Bundespräsidenten endlich ihren Beruf aufgibt und heiratet."
Gebhardt fragt sich angesichts dieser Defizite, ob der historische Feminismus der siebziger Jahre vielleicht die falschen Themen in die Gegenwart getragen hat. Schwarzers Themen seien der Kampf gegen Abtreibungsverbot, Vergewaltigung, Pornografie, Lesbendiskriminierung und das Kopftuch. Mit ihrer eigenen und der Lebenswirklichkeit ihrer Studentinnen habe das nichts zu tun, moniert die Wissenschaftlerin. In ihren Lehrveranstaltungen über Gender-Studies und Geschlechtergeschichte beobachtete sie, dass ihre Studentinnen sich zwar sehr für die Frauenbewegung interessierten, durch Schwarzer aber verschreckt seien:
"Es gibt junge Mädchen, die sich für die Thematik sehr interessieren, die an Universitäten ein Angebot einfordern, aber, wenn man sie auf das öffentlich wirksame Angebot Feminismus in Deutschland oder Alice Schwarzer anspricht, dann sind sie sehr verstört und sagen, sie könnten eigentlich wegen Alice Schwarzer das Wort Feminismus kaum für sich selbst gebrauchen, weil sie sich mit der Art von Feminismus, die Alice Schwarzer vertritt, überhaupt nicht identifizieren."
Schwarzer verlangt in der Tradition Simone de Beauvoirs von den Frauen, sich selbst neu zu positionieren und sich von männlicher Unterdrückung zu befreien. Dass dies nur ein Aspekt des Feminismus ist, müsse man sich in Deutschland erst einmal vergegenwärtigen, meint Gebhardt:
"Sie hat sich sehr stark mit diesem Feminismus identifiziert, der darum kreiste, dass die körperlichen und sexuellen Grundrechte von Frauen geschützt werden. Das sind gewisse puritanische Traditionen des Feminismus aus dem frühen 20. Jahrhundert. Das steht eigentlich in ihrer Lebensleistung im Vordergrund. Damit sind andere Themen, die mit der Lebbarkeit von Biografien und von Lebensentwürfen zu tun haben, einfach unter den Tisch gefallen."
Schwarzers Auffassung des "Ändere dich!" habe lange die Forderung gegenüber gestanden, dass Frauen zu ihrer wahren Weiblichkeit finden müssten, erklärt Gebhardt. Beides hält die Historikerin für Zumutungen. Längst seien diese beiden Positionen im internationalen feministischen Diskurs abgelöst von Forderungen, die individuelle Bedürfnisse und unterschiedliche Lebensentwürfe in die Überlegungen über Geschlechtergerechtigkeit einbeziehen. Die Alleinstellung der "Emma"-Herausgeberin sei auch ein Symptom für die gesellschaftliche Bedeutung des Feminismus in Deutschland. Denn niemand denke mehr an all die Vorreiterinnen, die nach 1933 in Vergessenheit gerieten, weil sie als Jüdinnen, Internationalistinnen oder Sozialistinnen von den Nazis verfolgt wurden. Bis 1933 habe die deutsche Frauenbewegung zur internationalen Avantgarde gezählt, so Gebhardt. Aktuell sei sie allenfalls provinziell:
"Das liegt daran, dass in der Bundesrepublik nach dem Dritten Reich bestimmte Äste des Feminismus abgestorben sind und dieser eher bürgerliche Feminismus, der sich um Sittlichkeitsfragen und Moralfragen gekümmert hat, der auch so eine bestimmte hegemoniale Stellung in der Kultur für sich beansprucht hat - Feministinnen, die sich um die arme Arbeiterfrau gekümmert haben oder um die Frauen in den Kolonien, diese Art von bürgerlicher Herablassung in der Geschichte des Feminismus hat sich in der Bundesrepublik besonders gut weiter entwickeln können."
Dass die Geschichtsvergessenheit nicht Schwarzer zuzurechnen ist, gibt Gebhardt zu. Doch Schwarzers Schwarz-Weiß-malender Gesinnungsfeminismus – wie die Autorin ihn benennt – sei eine sehr deutsche Hypothek der Frauenbewegung im internationalen Vergleich. Dass Schwarzer ihre Kritikerinnen nicht nur als Kollaborateurinnen oder Wohlfühl-Feministinnen denunziere – wie im medienwirksam ausgetragenen Streit mit "Feuchtgebiete"-Autorin Charlotte Roche - , sondern dass die "Emma"-Herausgeberin, wie Gebhardt belegt, neuere Theorien etwa Judith Butlers falsch darstelle, sei ein weiteres dunkles Kapitel in Schwarzers Leistungsbilanz.
"Schwarzers Frauenbild ist die Ursache und nicht die Folge des momentanen Elends des deutschen Feminismus".
Gebhardts Kritik an der Ikone der deutschen Frauenbewegung unterscheidet sich gründlich von jener Anti-Schwarzer-Rhetorik, die seit den 70er-Jahren das Wirken Schwarzers begleitet. Gelegentlich leistet sich die feministische Wissenschaftlerin milde Polemik, doch medienwirksamer Schaum vor dem Mund findet sich nicht. Fast muss man befürchten, dass das Buch deshalb zu wenig beachtet werden könnte. Eines der großen Anliegen der Autorin, die früher Journalistin war, ist es, den tiefen Graben zu überbrücken, der in Deutschland Wissenschaft und Medien trennt. Dies gelingt ihr mit wohltuend verständlicher Sprache und anregender Gedankenführung. Dieses Buch liefert das Material für eine intelligente Debatte. Nicht nur über das Lebenswerk der Alice Schwarzer. Geredet werden muss über die Gesellschaft, die es noch immer zulässt und vielleicht sogar will, dass ein medienwirksam zelebrierter Tunnelblick realistische Wege hin zur Geschlechtergerechtigkeit behindert.
Miriam Gebhardt: Alice im Niemandsland, Wie die deutsche Frauenbewegung die Frauen verlor
Deutsche Verlags-Anstalt, 352 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-421-04411-2
"Die Forderungen der Abtreibungskampagne, mit der Schwarzer verbunden wird, sind vierzig Jahre später immer noch nicht erfüllt. In den DAX-Vorständen sitzen lediglich zwischen zwei und drei Prozent Frauen. Während es in Skandinavien Frauenquoten für Vorstände und Aufsichtsräte gibt, während sich überall auf der Welt unter der Burka feministischer Aufruhr äußert, wird in Deutschland diskutiert, wann die Lebensgefährtin des Bundespräsidenten endlich ihren Beruf aufgibt und heiratet."
Gebhardt fragt sich angesichts dieser Defizite, ob der historische Feminismus der siebziger Jahre vielleicht die falschen Themen in die Gegenwart getragen hat. Schwarzers Themen seien der Kampf gegen Abtreibungsverbot, Vergewaltigung, Pornografie, Lesbendiskriminierung und das Kopftuch. Mit ihrer eigenen und der Lebenswirklichkeit ihrer Studentinnen habe das nichts zu tun, moniert die Wissenschaftlerin. In ihren Lehrveranstaltungen über Gender-Studies und Geschlechtergeschichte beobachtete sie, dass ihre Studentinnen sich zwar sehr für die Frauenbewegung interessierten, durch Schwarzer aber verschreckt seien:
"Es gibt junge Mädchen, die sich für die Thematik sehr interessieren, die an Universitäten ein Angebot einfordern, aber, wenn man sie auf das öffentlich wirksame Angebot Feminismus in Deutschland oder Alice Schwarzer anspricht, dann sind sie sehr verstört und sagen, sie könnten eigentlich wegen Alice Schwarzer das Wort Feminismus kaum für sich selbst gebrauchen, weil sie sich mit der Art von Feminismus, die Alice Schwarzer vertritt, überhaupt nicht identifizieren."
Schwarzer verlangt in der Tradition Simone de Beauvoirs von den Frauen, sich selbst neu zu positionieren und sich von männlicher Unterdrückung zu befreien. Dass dies nur ein Aspekt des Feminismus ist, müsse man sich in Deutschland erst einmal vergegenwärtigen, meint Gebhardt:
"Sie hat sich sehr stark mit diesem Feminismus identifiziert, der darum kreiste, dass die körperlichen und sexuellen Grundrechte von Frauen geschützt werden. Das sind gewisse puritanische Traditionen des Feminismus aus dem frühen 20. Jahrhundert. Das steht eigentlich in ihrer Lebensleistung im Vordergrund. Damit sind andere Themen, die mit der Lebbarkeit von Biografien und von Lebensentwürfen zu tun haben, einfach unter den Tisch gefallen."
Schwarzers Auffassung des "Ändere dich!" habe lange die Forderung gegenüber gestanden, dass Frauen zu ihrer wahren Weiblichkeit finden müssten, erklärt Gebhardt. Beides hält die Historikerin für Zumutungen. Längst seien diese beiden Positionen im internationalen feministischen Diskurs abgelöst von Forderungen, die individuelle Bedürfnisse und unterschiedliche Lebensentwürfe in die Überlegungen über Geschlechtergerechtigkeit einbeziehen. Die Alleinstellung der "Emma"-Herausgeberin sei auch ein Symptom für die gesellschaftliche Bedeutung des Feminismus in Deutschland. Denn niemand denke mehr an all die Vorreiterinnen, die nach 1933 in Vergessenheit gerieten, weil sie als Jüdinnen, Internationalistinnen oder Sozialistinnen von den Nazis verfolgt wurden. Bis 1933 habe die deutsche Frauenbewegung zur internationalen Avantgarde gezählt, so Gebhardt. Aktuell sei sie allenfalls provinziell:
"Das liegt daran, dass in der Bundesrepublik nach dem Dritten Reich bestimmte Äste des Feminismus abgestorben sind und dieser eher bürgerliche Feminismus, der sich um Sittlichkeitsfragen und Moralfragen gekümmert hat, der auch so eine bestimmte hegemoniale Stellung in der Kultur für sich beansprucht hat - Feministinnen, die sich um die arme Arbeiterfrau gekümmert haben oder um die Frauen in den Kolonien, diese Art von bürgerlicher Herablassung in der Geschichte des Feminismus hat sich in der Bundesrepublik besonders gut weiter entwickeln können."
Dass die Geschichtsvergessenheit nicht Schwarzer zuzurechnen ist, gibt Gebhardt zu. Doch Schwarzers Schwarz-Weiß-malender Gesinnungsfeminismus – wie die Autorin ihn benennt – sei eine sehr deutsche Hypothek der Frauenbewegung im internationalen Vergleich. Dass Schwarzer ihre Kritikerinnen nicht nur als Kollaborateurinnen oder Wohlfühl-Feministinnen denunziere – wie im medienwirksam ausgetragenen Streit mit "Feuchtgebiete"-Autorin Charlotte Roche - , sondern dass die "Emma"-Herausgeberin, wie Gebhardt belegt, neuere Theorien etwa Judith Butlers falsch darstelle, sei ein weiteres dunkles Kapitel in Schwarzers Leistungsbilanz.
"Schwarzers Frauenbild ist die Ursache und nicht die Folge des momentanen Elends des deutschen Feminismus".
Gebhardts Kritik an der Ikone der deutschen Frauenbewegung unterscheidet sich gründlich von jener Anti-Schwarzer-Rhetorik, die seit den 70er-Jahren das Wirken Schwarzers begleitet. Gelegentlich leistet sich die feministische Wissenschaftlerin milde Polemik, doch medienwirksamer Schaum vor dem Mund findet sich nicht. Fast muss man befürchten, dass das Buch deshalb zu wenig beachtet werden könnte. Eines der großen Anliegen der Autorin, die früher Journalistin war, ist es, den tiefen Graben zu überbrücken, der in Deutschland Wissenschaft und Medien trennt. Dies gelingt ihr mit wohltuend verständlicher Sprache und anregender Gedankenführung. Dieses Buch liefert das Material für eine intelligente Debatte. Nicht nur über das Lebenswerk der Alice Schwarzer. Geredet werden muss über die Gesellschaft, die es noch immer zulässt und vielleicht sogar will, dass ein medienwirksam zelebrierter Tunnelblick realistische Wege hin zur Geschlechtergerechtigkeit behindert.
Miriam Gebhardt: Alice im Niemandsland, Wie die deutsche Frauenbewegung die Frauen verlor
Deutsche Verlags-Anstalt, 352 Seiten, 19,99 Euro, ISBN: 978-3-421-04411-2