
Wie viele Menschen im Zusammenhang mit dem bislang schwersten Atomunfall der Geschichte erkrankten, starben und noch sterben werden, ist Gegenstand heftiger Debatten. Als sicher gilt nur, dass das Unglück schon in den ersten Tagen 30 Menschen das Leben kostete. Das Gebiet um das Kernkraftwerk Tschernobyl - einst der Stolz der Sowjetunion - ist für immer verändert. Die Ukraine will es im März als UNESCO-Welterbe vorschlagen. Eine Entscheidung könnte 2023 fallen.

Die Regierung in Kiew erhofft sich die Anerkennung von Teilen der verstrahlten Sperrzone als Welterbe - darunter Prypjat. Die Stadt, etwa 150 Kiliometer nördlich von Kiew gelegen, wurde 1970 im Zusammenhang mit dem Bau des Kernkraftwerks Tschernobyl gegründet. Infolge des Reaktorunglücks musste sie 1986 geräumt werden, heute ist sie eine Geisterstadt.
Voraussetzung für das Welterbe erfüllt
Grundsätzlich können Stätten von "außergewöhnlichem universellen Wert", "Meisterwerke des menschlichen schöpferischen Genies" oder "Zeugnisse einer untergegangenen Zivilisation" Welterbe werden. Oder sie haben eine Verbindung zu bedeutenden Ereignissen – was in Tschernobyl der Fall wäre. Mit dem Antrag bei der UNESCO will die Regierung in Kiew sicherstellen, dass die zerfallenden Gebäude auch für künftige Generationen erhalten bleiben – und den Tourismus fördern.
Ein angeblich geringes Strahlenrisiko
Der Tourismus in der ziemlich abgelegenen Gegend boomt jedoch ohnehin: 2019 kamen 124.000 Besucher – trotz des Strahlenrisikos. Reiseanbieter werben damit, dass Touristen während der Tour weniger Strahlung ausgesetzt seien als bei einer Röntgenaufnahme des Thorax. Allerdings gebietet es der Strahlenschutz, jede unnötige Dosis zu vermeiden. Außerdem wurde schon öfter beobachtet, dass Touristen gerne verbotenerweise "Souvenirs" einsammeln – wie etwa Moos. Doch gerade diese Pflanze gilt als Strahlenfänger und ist entsprechend radiokativ belastet.

Ein Ort wie eine Geisterbahn
Die meisten der Kolchosengebäude oder alten Bauernhäuser in der verstrahlten Zone sind inzwischen abgerissen worden, zerfallen oder sind überwuchert. Gerade die Weltuntergangskulisse, die Prypjat bietet, scheint die Touristen jedoch anzulocken. Der Ort ist eine Art Geisterbahn, arrangiert mit Gasmasken, Puppen und Graffiti an den Wänden. Mit der einst 50.000 Einwohner zählenden sowjetischen Musterstadt hat das nur noch wenig zu tun.
Wer verstehen will, wie die Menschen damals auf das Unglück reagierten, warum sie etwa nach der Explosion in dem in Sichtweite liegenden Kernkraftwerk, bei der ein eintausend Tonnen wiegender Deckel des Reaktorkerns abhob und verkantet liegen blieb, weitermachten, als wäre nichts geschehen - der müsste sich mit dem "alten Prypjat" und der Sowjetideologie auseinandersetzen. Sonst geht es nur um Nervenkitzel.

Gegen Geld in den Schaltraum von Block 4
Inzwischen lässt man gegen Bezahlung Touristen sogar in den hübsch aufgeräumten Block 4 – und sogar in den Schaltraum. Der liegt unterhalb des Reaktors - lange sollte man sich dort nicht aufhalten. Der Veranstalter wirbt damit, dass man bei einem einstündigen Flug über den Atlantik mehr Radioaktivität abbekäme – solange man sich denn an die Verhaltensregeln hielte.
Mit Beantragung des Welterbe-Status hofft die Regierung auch, dass sich Touristen dort nicht mehr wie auf Schatzsuche benehmen, sondern den Ort als historisch begreifen. Die Unternehmer setzen darauf, dass die Bauten restauriert werden, ehe sie vollkommen zerfallen. Vor allem aber geht es ums Geld. Denn die Ukraine ist arm – mit Tschernobyl hat sie ein Erbe, das bewältigt werden muss – auch finanziell.