Kathrin Hondl: Ob der Bielefelder Systemtheoretiker Niklas Luhmann auch einmal etwas über die deutsch-polnischen Beziehungen gesagt oder geschrieben hat, weiß ich nicht. Vorstellbar wäre es allerdings, denn Luhmann war nicht nur einer der einflussreichsten Denker des 20. Jahrhunderts, er war auch einer der produktivsten. Rund 70 Bücher hat er veröffentlicht und dabei so ziemlich über alles geschrieben: über die romantische Liebe und Semantik, über religion-ökologische Kommunikation oder Macht. Und wer Niklas Luhmann nach dem Geheimnis seiner außerordentlichen Produktivität fragte, der bekam eine vergleichsweise schlichte Antwort, und die hieß: "Mein Zettelkasten". Über 30 Jahre lang arbeitete Luhmann an und mit diesem Kasten, fütterte ihn jeden Tag mit neuen Zetteln, auf denen er Gedanken und Gelesenes notierte. Es war wie in einer engen intimen Partnerschaft, so beschrieb Luhmann selbst einmal in einem Aufsatz das Verhältnis zu seinem Zettelkasten. 0Dieser legendäre Lebenspartner des Systemtheoretikers wird jetzt, 13 Jahre nach Luhmanns Tod, zum ersten Mal erforscht: in der Universität Bielefeld, die nach jahrelangen Streitereien um den Luhmann-Nachlass die sagenumwobene Zettelsammlung gekauft hat. – Am Telefon ist der Soziologe Johannes Schmidt, Mitglied des Forscherteams, das den Zettelkasten jetzt untersucht. Ja, Herr Schmidt, in was für einem Zustand sind denn Luhmanns Zettel jetzt überhaupt?
Johannes Schmidt: Einerseits in einem doch relativ guten Zustand, wenn man diese Geschichte bedenkt der letzten 13 Jahre; andererseits sind die Zettel in der Regel sehr dünn, alles ist auf sehr dünnem Papier notiert, weil Luhmann möglichst wenig Platz verbrauchen wollte, also keine Karteikarten genommen hat, sondern möglichst dünnes Matrizenpapier zum Beispiel, alte Rechnungen, Durchschlagspapier, was entsprechend sehr stark vergilbt ist, und so weiter. Also der Zustand ist noch zufriedenstellend, aber natürlich nicht optimal.
Hondl: Es sind ja auch sehr viel mehr Zettel, als man immer angenommen hatte, oder? An die 70.000, habe ich irgendwo gelesen. Stimmt das?
Schmidt: Ja. Wir haben es nicht durchgezählt logischerweise, sondern ich habe mir einfach überschlagsmäßig mehrere Kästen angeguckt, und es sind pro Auszug ungefähr zwischen 2000 und 3000 Zettel vermutlich. Ein Standardkarteikasten ist ungefähr 40 Zentimeter tief und es gibt 24 solche Auszüge. Dann kann man das hochrechnen, dann kommt man auf so ungefähr 60.000 bis 70.000 Zettel.
Hondl: Im Internet, habe ich bei YouTube gefunden, da kann man sich ja diverse Videos angucken, wo Niklas Luhmann bei der Arbeit mit seinem Zettelkasten zu sehen ist.
Schmidt: Ja.
Hondl: Und na ja, da sieht man ihn auch dabei, wie er manchmal selber dreimal überlegt, in welche Kiste er nun welches Papierchen stecken soll, oder welches er wo finden kann. Inwiefern erschließt sich denn da Ihnen eine Ordnung, wenn schon Luhmann selbst da manchmal durcheinander gekommen ist in seinem Zettel- und Wissens-Dschungel?
Schmidt: Es gibt schon eine Ordnung im Zettelkasten. Es gibt eine Durchnummerierung der Zettel, sodass man Zettel, die man herausgezogen hat, auch wieder an die richtige Stelle zurückstellen kann. Es gibt auch eine gewisse thematische Struktur im Kasten selbst, sodass man auch da natürlich den Platz wieder findet. Andererseits haben Sie recht: Die Kästen sind extrem vollgestopft zum größten Teil, sodass es physisch schon sehr schwierig ist, die Zettel herauszunehmen und wieder hineinzustecken. Wie Luhmann selbst damit gearbeitet hat, ist mir im Augenblick sehr schwer vorstellbar, aber er hat es ja offensichtlich getan.
Schmidt: Na ja. Also Sie sind auf der Suche nach dem System im Zettelkasten des Systemtheoretikers. – Was erhoffen Sie denn eigentlich, da zu finden?
Schmidt: Zunächst einmal muss man ja sehen: Der Zettelkasten ist ein gewisser Mythos in der Community, und das wollen wir jetzt gewissermaßen herausfinden, wie sieht die innere Struktur des Kastens eigentlich aus, und da gibt es eben eine Spezifik, die diesen Kasten so interessant macht, auch wissenschaftlich interessant macht. Er hat nicht eine lineare Struktur. Er hat zwar mit Themen angefangen, aber er hat das nicht sozusagen wie in einem Buch gegliedert, im Abschnitt zum Funktionsbegriff finden sich nur Notizen zum Funktionsbegriff, sondern man findet dann plötzlich thematisch ganz andere Sachen, die auf den ersten Blick gar nicht dazu passen. Er hat nämlich Zettel zunächst einmal fortlaufend durchnummeriert, also mit dem Zettel 1 angefangen, vereinfachend gesagt. Dann hat er, weil der Zettel nicht ausreichte, zum Beispiel einen Zettel 2 hinten drangesetzt, angefügt, Zettel 3, Zettel 4 und so weiter. Jetzt könnte es aber sein, dass auf dem Zettel 1 irgendein interessanter Nebenaspekt notiert ist, den er für weiter verfolgenswert hielt, der aber nicht in diese monothematische Struktur hineinpasst. Er hat dann einen neuen Zettel erstellt, den er mit 1a nummeriert hat, und dieser Zettel 1a kommt nun zwischen Zettel 1 und Zettel 2. Und genau dieses Verfahren kann auch auf Zettel 1a wieder angewandt werden. Also auch da kann ein Nebenaspekt, eine interessante Frage auftauchen, die später vielleicht weiter verfolgt wird. Dann erhält dieser Zettel die Nummer 1a1 und wird zwischen 1a und 1b eingefügt. Und im Extremfall findet man zwischen den ursprünglich nebeneinanderstehenden Zetteln bis zu 300 eingeschobene Zettel, die dann zu ganz, ganz anderen Themenbereichen führen, also man würde umgangssprachlich vielleicht sagen vom Hölzchen aufs Stöckchen.
Hondl: Das erinnert fast an Computerlinks, also Hyperlinks, wie wir sie kennen, und das bei einem Menschen, der ja mit dem Computer nie gearbeitet hat.
Schmidt: Das ist richtig. Man findet im Zettelkasten selbst eine Abteilung zum Zettelkasten, also eine selbstreferenzielle Figur im Zettelkasten selbst, wo er sich Gedanken darüber macht, was ist eigentlich der Zettelkasten, und da kommt genau diese Bemerkung, Mitarbeiter habe ich irgendwie nicht und die sind auch nicht zuverlässig und mein Gedächtnis ist lückenhaft, also muss ich mir irgendeinen Ersatz erschaffen, und genau das ist der Zettelkasten.
Hondl: Und erwarten Sie tatsächlich neue Erkenntnisse über Luhmanns Systemtheorie?
Schmidt: Was man sicher finden wird, ist eine Erkenntnis darüber, wie Luhmann eigentlich wirklich gearbeitet und gedacht hat. Der direkte Lehrstuhlnachfolger Luhmanns und auch ein Schüler von ihm, Rudolf Stichweh, hat bei einer Erstbesichtigung, nach einer Erstbesichtigung des Kastens vor zwei oder drei Jahren gesagt, das ist so etwas wie die intellektuelle Autobiografie, die man da vorliegen hat.
Hondl: Der Gral von Bielefeld. – Vielen Dank! – Das war Johannes Schmidt von der Uni Bielefeld über die Sichtung und Erforschung des legendären Zettelkastens von Niklas Luhmann.
Johannes Schmidt: Einerseits in einem doch relativ guten Zustand, wenn man diese Geschichte bedenkt der letzten 13 Jahre; andererseits sind die Zettel in der Regel sehr dünn, alles ist auf sehr dünnem Papier notiert, weil Luhmann möglichst wenig Platz verbrauchen wollte, also keine Karteikarten genommen hat, sondern möglichst dünnes Matrizenpapier zum Beispiel, alte Rechnungen, Durchschlagspapier, was entsprechend sehr stark vergilbt ist, und so weiter. Also der Zustand ist noch zufriedenstellend, aber natürlich nicht optimal.
Hondl: Es sind ja auch sehr viel mehr Zettel, als man immer angenommen hatte, oder? An die 70.000, habe ich irgendwo gelesen. Stimmt das?
Schmidt: Ja. Wir haben es nicht durchgezählt logischerweise, sondern ich habe mir einfach überschlagsmäßig mehrere Kästen angeguckt, und es sind pro Auszug ungefähr zwischen 2000 und 3000 Zettel vermutlich. Ein Standardkarteikasten ist ungefähr 40 Zentimeter tief und es gibt 24 solche Auszüge. Dann kann man das hochrechnen, dann kommt man auf so ungefähr 60.000 bis 70.000 Zettel.
Hondl: Im Internet, habe ich bei YouTube gefunden, da kann man sich ja diverse Videos angucken, wo Niklas Luhmann bei der Arbeit mit seinem Zettelkasten zu sehen ist.
Schmidt: Ja.
Hondl: Und na ja, da sieht man ihn auch dabei, wie er manchmal selber dreimal überlegt, in welche Kiste er nun welches Papierchen stecken soll, oder welches er wo finden kann. Inwiefern erschließt sich denn da Ihnen eine Ordnung, wenn schon Luhmann selbst da manchmal durcheinander gekommen ist in seinem Zettel- und Wissens-Dschungel?
Schmidt: Es gibt schon eine Ordnung im Zettelkasten. Es gibt eine Durchnummerierung der Zettel, sodass man Zettel, die man herausgezogen hat, auch wieder an die richtige Stelle zurückstellen kann. Es gibt auch eine gewisse thematische Struktur im Kasten selbst, sodass man auch da natürlich den Platz wieder findet. Andererseits haben Sie recht: Die Kästen sind extrem vollgestopft zum größten Teil, sodass es physisch schon sehr schwierig ist, die Zettel herauszunehmen und wieder hineinzustecken. Wie Luhmann selbst damit gearbeitet hat, ist mir im Augenblick sehr schwer vorstellbar, aber er hat es ja offensichtlich getan.
Schmidt: Na ja. Also Sie sind auf der Suche nach dem System im Zettelkasten des Systemtheoretikers. – Was erhoffen Sie denn eigentlich, da zu finden?
Schmidt: Zunächst einmal muss man ja sehen: Der Zettelkasten ist ein gewisser Mythos in der Community, und das wollen wir jetzt gewissermaßen herausfinden, wie sieht die innere Struktur des Kastens eigentlich aus, und da gibt es eben eine Spezifik, die diesen Kasten so interessant macht, auch wissenschaftlich interessant macht. Er hat nicht eine lineare Struktur. Er hat zwar mit Themen angefangen, aber er hat das nicht sozusagen wie in einem Buch gegliedert, im Abschnitt zum Funktionsbegriff finden sich nur Notizen zum Funktionsbegriff, sondern man findet dann plötzlich thematisch ganz andere Sachen, die auf den ersten Blick gar nicht dazu passen. Er hat nämlich Zettel zunächst einmal fortlaufend durchnummeriert, also mit dem Zettel 1 angefangen, vereinfachend gesagt. Dann hat er, weil der Zettel nicht ausreichte, zum Beispiel einen Zettel 2 hinten drangesetzt, angefügt, Zettel 3, Zettel 4 und so weiter. Jetzt könnte es aber sein, dass auf dem Zettel 1 irgendein interessanter Nebenaspekt notiert ist, den er für weiter verfolgenswert hielt, der aber nicht in diese monothematische Struktur hineinpasst. Er hat dann einen neuen Zettel erstellt, den er mit 1a nummeriert hat, und dieser Zettel 1a kommt nun zwischen Zettel 1 und Zettel 2. Und genau dieses Verfahren kann auch auf Zettel 1a wieder angewandt werden. Also auch da kann ein Nebenaspekt, eine interessante Frage auftauchen, die später vielleicht weiter verfolgt wird. Dann erhält dieser Zettel die Nummer 1a1 und wird zwischen 1a und 1b eingefügt. Und im Extremfall findet man zwischen den ursprünglich nebeneinanderstehenden Zetteln bis zu 300 eingeschobene Zettel, die dann zu ganz, ganz anderen Themenbereichen führen, also man würde umgangssprachlich vielleicht sagen vom Hölzchen aufs Stöckchen.
Hondl: Das erinnert fast an Computerlinks, also Hyperlinks, wie wir sie kennen, und das bei einem Menschen, der ja mit dem Computer nie gearbeitet hat.
Schmidt: Das ist richtig. Man findet im Zettelkasten selbst eine Abteilung zum Zettelkasten, also eine selbstreferenzielle Figur im Zettelkasten selbst, wo er sich Gedanken darüber macht, was ist eigentlich der Zettelkasten, und da kommt genau diese Bemerkung, Mitarbeiter habe ich irgendwie nicht und die sind auch nicht zuverlässig und mein Gedächtnis ist lückenhaft, also muss ich mir irgendeinen Ersatz erschaffen, und genau das ist der Zettelkasten.
Hondl: Und erwarten Sie tatsächlich neue Erkenntnisse über Luhmanns Systemtheorie?
Schmidt: Was man sicher finden wird, ist eine Erkenntnis darüber, wie Luhmann eigentlich wirklich gearbeitet und gedacht hat. Der direkte Lehrstuhlnachfolger Luhmanns und auch ein Schüler von ihm, Rudolf Stichweh, hat bei einer Erstbesichtigung, nach einer Erstbesichtigung des Kastens vor zwei oder drei Jahren gesagt, das ist so etwas wie die intellektuelle Autobiografie, die man da vorliegen hat.
Hondl: Der Gral von Bielefeld. – Vielen Dank! – Das war Johannes Schmidt von der Uni Bielefeld über die Sichtung und Erforschung des legendären Zettelkastens von Niklas Luhmann.