Archiv


"Vom Kreißsaal in den Hörsaal"

Ab heute ist das Buch "Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung" im Handel. Autor Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, warnt davor, den Kindern alles aus dem Weg zu räumen. Kinder und Jugendliche müssten lernen, sich selbst zu behaupten.

Joseph Kraus im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Manfred Götzke: Manchmal müssen sich Lehrer am Elternabend solche Sätze anhören: "Warum haben wir denn eine vier minus geschrieben, wir haben doch so intensiv für den Test geübt?" Wir, das sind dann zum Beispiel Julius, neun, und Julia, 39, die Mama. Immer mehr Eltern tun alles für ihre Kleinen, räumen alles Unangenehme aus dem Weg, fördern ihre Kinder schon im Mutterleib mit "Bach für Föten" und begleiten sie noch mit 22 zur Sprechstunde beim Prof.

    Helikopter-Eltern werden diese Eltern genannt, weil sie ihre Kinder permanent umschwirren. Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, hat ein Buch über diese Helikopter-Eltern geschrieben und warnt vor Überfürsorge. Herr Kraus, eigentlich können Sie sich doch über Helikopter-Eltern freuen als Lehrer, im Gegensatz zu jenen, die der Schule bei den Lehrern immer mehr Erziehungsaufgaben abladen, nehmen Ihnen die Helikopter-Eltern doch Arbeit ab.

    Joseph Kraus: Sie nehmen teilweise Arbeit ab, aber sie machen auch zum Teil Sorgen. Also, um es mal so zu sagen: Es gibt ja unterschiedliche Kategorien von Eltern. Das klingt jetzt ein bisschen flapsig, Kategorien. Am meisten Sorgen machen uns zunächst mal die Eltern, die sich um überhaupt nichts kümmern. Auf dem anderen Ende, das sind Eltern, die sich um alles kümmern, in alles einmischen, die auch nicht die Aufgabenteilung - Erziehung ist Hauptgeschäft der Eltern, Bildung ist Hauptgeschäft - der Schule akzeptieren wollen, die nörglerisch sind, die es zu gut meinen, jetzt mal vorsichtig ausgedrückt. Dieser Anteil nimmt zu und gut gemeint ist oft nicht gut.

    Götzke: Wie erleben Sie die Helikopter-Eltern in Ihrem persönlichen Unterrichtsalltag oder Schulalltag?

    Kraus: Ja gut, da gibt es jetzt tausend Beispiele. Das fängt an mit dem Schulweg. Statt, dass man Kinder altersgerecht daran gewöhnt, mit dem ÖPNV, mit dem Bus in die Schule zu fahren oder das Fahrrad zu benutzen oder zu Fuß zu gehen, wenn es die Verkehrslage, die Wohnsituation erlaubt. Da gibt es die Eltern, die wegen drei Tropfen Regen ihre Kinder dann mit dem Auto in die Schule vorfahren, die Schulzufahrten verstopfen. Dann gibt es die Eltern, die ihren Kindern, weil es das Pausenbrot zu Hause liegen hat lassen, um neun Uhr das in die Schule bringen, oder die Turnschuhe in die Schule bringen, weil sie vergessen wurden. Die in die Schule in die Sprechstunde der Lehrkräfte kommen und sagen, "Das gibt es doch nicht, dass wir schon wieder eine fünf bekommen haben" – allein das Wörtchen wir sagt hier schon einiges aus, was da an Identifikationen, an Projektionen abläuft. Bis hin zu den Drohungen von Eltern mit dem Rechtsanwalt, weil der Schulbusfahrer ein Kind mal angefaucht hat oder weil ein Lehrer ein Kind mal ein bisschen strenger ermahnt hat.

    Götzke: Sie haben in Ihrem Buch das schöne Wort "Gluckenfalle" erfunden. Wann tappen Kinder in diese Falle?

    Kraus: Wenn Eltern alles kontrollieren wollen. Die Kinder – deshalb der Begriff Gluckenfalle – sind im Grunde genommen eingekerkert, sie haben keine Entfaltungsmöglichkeiten, und, letztendlich sind wir wieder beim alten Problem, auch keine Chance, Eigenverantwortung zu entwickeln. Und übrigens auch keine Chance, das Glückserlebnis und das Erfolgserlebnis zu haben, dass man einen Widerstand mal selbst überwunden hat, dass man eigenständig eine Pflicht erledigt hat, dass man mit einer Frustration fertig geworden ist und dass man eine Aufgabe bewältigt hat.

    Götzke: Das heißt, Sie sehen dann die Gefahr darin, dass diese Kinder, wenn sie dann irgendwann mal studieren oder eine Ausbildung machen, nicht selbstständig genug sind und Widerstände überhaupt nicht bewältigen können, weil sie es nicht gelernt haben?

    Kraus: Die Gefahr sehe ich durchaus. Und dann kommt ja noch mit hinzu, dass wir mittlerweile auch bis hinein in den tertiären, also in den Hochschulbereich, auch Angebote an Eltern haben, und im Grunde genommen den Eltern suggeriert wird, ihr müsst euch auch noch um eure 22-jährigen Studenten und Studentinnen kümmern. Es gibt Hochschulen, die mittlerweile Elternabende machen. Da muss man wirklich sagen, vom Kreißsaal in den Hörsaal, die Kinder werden hier in eine bestimmte Richtung gelenkt, sehen nicht mehr rechts und links, aber Eigenständigkeit und Eigenverantwortung bleiben auf der Strecke.

    Götzke: Auf der einen Seite sehen Sie diese Schonung der Kinder vor allem, was unangenehm und möglicherweise auch zu leistungsorientiert ist aus Sicht der Eltern. Das Ganze geht aber, schreiben Sie, einher mit einem frühen Förderwahn. Es geht um die Süchte, schreiben Sie, nach dem perfekten, tollen, maßgeschneiderten Premiumkind. Inwieweit hängt das alles auch damit zusammen, dass immer mehr Eltern, wenn überhaupt, recht spät ein Kind zur Welt bringen, auf die dann alles Mögliche projiziert wird?

    Kraus: Die Tatsache, dass Eltern heutzutage die Kinder immer später bekommen, und oft bleibt es dann bei einem Kind, ist natürlich mit eine Ursache für diese Helikopter-Erziehungsphänomen. Weil es oft bei einem Kind bleibt, in das sich alles hineinprojiziert, weil man vielleicht als 40-Jährige eben gewordene oder als 45-jähriger Vater nicht mehr so intuitiv und spontan erzieht. Dann muss alles perfekt sein, das spielt eine Rolle. Und dann gibt es natürlich auch in der öffentlichen Debatte und in der Politik die Einflüsterer, die sagen, ihr müsst was tun, euer Kind bestens fördern, damit es im globalen Haifischbecken konkurrenzfähig ist.

    Und dann gibt es Organisationen wie die OECD und manche Stiftungen, etwa die Bertelsmann-Stiftung, die sagen, Deutschland hat ohnehin einen zu niedrigen Akademikeranteil und Abiturientenanteil, wir brauchen da mehr und nur dann habt ihre eine Chance. Also da wird schon der Förderwahn, letztendlich auch aus kommerziellen Gründen, angestoßen.

    Götzke: Sie haben das Haifischbecken, das globale, angesprochen, aber vielleicht ist da ja auch ein bisschen was dran. Also, ist es vielleicht nicht auch eine ganz natürliche Reaktion einer Mittelschicht, die Angst hat vor dem sozialen Abstieg ihrer Kinder und die Reaktion darauf, dieses Helikopter-Erziehungsphänomen?

    Kraus: Also, ich habe ja auch Statistiken verwendet, um zu belegen, dass es die Angst vor dem Abstieg der Mittelschicht nicht geben muss, und dass nach Arbeitsmarktstatistiken die Mittelschicht nur mit einem Anteil von ein, zwei Prozent wirklich auch diesem Abstieg erliegt. Im Übrigen sollte man den Eltern auch mal deutlich machen, wir haben in Deutschland für junge Leute unglaublich gute Chancen, auch ohne akademischen Abschluss. Wir haben einen Fachkräftemangel, also ohne akademische Bildung. Wir haben die niedrigste, zusammen mit der Schweiz und mit Österreich, die niedrigste Quote an arbeitslosen Jugendlichen, weitaus niedriger als zum Beispiel um den Faktor drei niedriger als im hoch gerühmten Pisa-Siegerland Finnland. Also, die Eltern sollten auch ein bisschen mehr Vertrauen in die Zukunft ihrer Kinder haben. Auch außerhalb der akademischen Abschlüsse gibt es in Deutschland beste Chancen.

    Götzke: Meint jedenfalls Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Sein Buch "Helikopter-Eltern. Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung" ist heute bei Rowohlt erschienen. Danke!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.