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Vom Ladenhüter zum Radiostandard
Der lange Weg des DAB+

Seit Jahren planen Medienpolitik und Sender den Umstieg auf das Digitalradio DAB+ - auf ein Abschaltdatum für UKW konnten sie sich bislang nicht einigen. Währenddessen sind Webradio und Streaming-Dienste immer beliebter geworden. Eine Recherche zur Zukunft des Digitalradios.

Von Stefan Fries und Annika Schneider |
Ein Mitarbeiter hält ein Digitalradio mit DAB+ auf der Technik-Messe IFA, der weltweit größten Fachmesse für Unterhaltungs- und Gebrauchselektronik in der Hand.
Das Digitalradio DAB+ wird nicht nur als "Radio der Zukunft" vermarktet, sondern hat auch schon eine lange Vergangenheit (picture alliance/dpa/Britta Pedersen)
Ein Rauschen. Jedes Mal, wenn man den Sender wechselt. Seit 100 Jahren klingt Radio so: Musik, Moderationen, Jingles, Interviews, Hörspiele - und dazwischen dieses Rauschen. Ein bisschen so wie beim Schwimmen: Steckst du den Kopf aus dem Wasser, hörst du das Programm klar, willst du zum nächsten Kanal, musst du ein Stück tauchen. Sobald die Ohren unter der Wasseroberfläche liegen, verschwimmen die Geräusche von oben; tauchst du weg, verschwinden sie ganz. Dann näherst du dich dem nächsten Sender, erahnst ihn schon, und sobald dein Kopf die Wasseroberfläche durchstoßen hat, ist das Programm wieder klar.
Das Ende des Radiorauschens
Dieses Rauschen zwischen zwei Programmen, das das Radiohören seit seinen Anfängen begleitet, soll es irgendwann nicht mehr geben. Denn die Zukunft des Radios ist rauschfrei. Aber liegt diese Zukunft im Digitalradio DAB+, das seit zehn Jahren als das Radio von morgen beworben wird? Oder doch eher im Internet mit seinen Live-Streams und Podcasts?
Wer das Digitalradio DAB+ empfangen will, braucht dafür ein eigenes Gerät. Wie auch beim klassischen UKW-Radio lassen sich damit über verschiedene Frequenzen verschiedene Sender empfangen - aber nicht mehr analog, sondern eben digital. DAB+ bietet nicht nur Platz für mehr Kanäle, sondern verbraucht beim Senden auch weniger Strom bei besserem Klang. Das heißt aber auch: Dem guten alten UKW-Netz droht in absehbarer Zeit die Abschaltung.
Wenn 120 Millionen Radios zu Schrott werden: Das Aus von UKW
Das deutsche Digitalradio-Netz wächst seit Jahren, allein die öffentlich-rechtlichen Sender haben dafür Hunderte Millionen Euro investiert. An manchen Orten reicht es, an einen UKW-Funkturm zusätzliche Sendetechnik zu schrauben. An anderen Stellen müssen neue Masten errichtet werden. Carsten Zorger leitet das Digitalradiobüro Deutschland, das unter anderem vom Deutschlandradio getragen wird, und ist zufrieden mit dem Fortschritt:
"Nahezu 98 Prozent der Bevölkerung können unsere Programme außer Haus hören, also mit tragbaren Geräten oder, wenn sie ein DAB+-Autoradio haben, bei der Fahrt. Und zu Hause im Gebäude, wo man natürlich auch Wände hat oder auch Beton oder so, also das Signal etwas gedämpft ankommt, da liegt der Wert bei ungefähr 90 Prozent."
Für einige Hörer ist das aber der Knackpunkt. Sie haben sich beim Deutschlandfunk gemeldet, weil sie mit dem DAB+-Empfang, vor allem zu Hause, nicht zufrieden sind:
"Ich wohne in Nürnberg, höre viel Radio im Keller. Auf UKW kann ich den Deutschlandfunk empfangen, weitestgehend rauschfrei. Auf DAB+ nicht. Das Argument der Rundfunksender, das ist viel energiesparender, das ist richtig. Aber DAB+-Radio verbraucht mehr Strom als ein UKW-Radio, d.h. Kosten werden vom Sender auf den Hörer abgewälzt."
"Mich stört an DAB+, dass es ein komplett neuer Radioweg ist und dadurch einmal die ganzen Radiogeräte, die sich die Leute angeschafft haben und die ja fast in jedem Zimmer stehen, plötzlich wertlos sind und entsorgt werden müssen. Und alle neuen Geräte müssen angeschafft werden."
Erst in 24 Prozent der Haushalte steht ein DAB+-Gerät, aber 91 Prozent UKW-Radios – durchgesetzt hat sich die Technologie also noch nicht. Genau deswegen nennt das Digitalradio Board, in dem Medienpolitik, Sender, Industrie und Netzbetreiber zusammensitzen, kein Datum, wann UKW abgeschaltet werden soll. Eine solche Festlegung sei für die Gattung Radio auch wenig zielführend, findet Nina Gerhardt, Vorstandsmitglied im Verband VAUNET, der die deutschen Privatsender vertritt:
"Sie müssen sich vorstellen, wenn die Menschen plötzlich nicht mehr über ihr UKW-Radio ihre Programme empfangen können, dann müssen sie ja loslaufen, sich ein neues Gerät besorgen. Und ich glaube, das macht nicht jeder, und wir würden, glaube ich, einfach durch diesen Wechsel einen herben Rückgang von Reichweite riskieren."
Weniger Reichweite, das heißt für die Privatsender auch: Weniger Einnahmen durch Werbung – und das, nachdem in der Pandemie die Umsätze vieler Lokal- und Regionalsender ohnehin schon eingebrochen sind. Entsprechend skeptisch sind manche Betreiber, nun in eine neue Technologie zu investieren. Es müsse deswegen Zuschüsse aus öffentlicher Hand geben, fordert VAUNET:
"Bei den Privaten ist es momentan eine Unternehmensentscheidung. Also kann ich mir ein Engagement über DAB+ zusätzlich leisten – neben UKW, was ja auch sehr teuer ist als Infrastruktur. Und wenn dieser Druck weg wäre, glaube ich, dann würde sehr viel Bewegung in den Markt kommen. Und viel mehr private Sender würden sich noch entscheiden, auch auf DAB+ zu setzen. Und das würde den Geräteabsatz fördern und das hat wiederum große Zuwächse bei der DAB+-Nutzung zur Folge."
Senderchef will selbst über Abschaltdatum entscheiden
Nicht alle Privatsender unterstützen diese Forderung. Olaf Hopp, Geschäftsführer von Energy Deutschland, spricht lieber über die unternehmerischen Chancen, die Digitalradio bietet. Energy betreibt weltweit Radioprogramme und gehört in Deutschland zu den DAB+-Pionieren. Vor zehn Jahren ging der erste bundesweite Sender an den Start, Anfang des Jahres folgte der zweite.
Eine Empfangbarkeit in ganz Deutschland wäre vorher undenkbar gewesen, weil die knappen UKW-Frequenzen regional von den Landesmedienanstalten vergeben werden. Olaf Hopp glaubt daher an die Zukunft des Digitalradios – aber auch er will kein festes Abschaltdatum.
"DAB+ wird eines Tages UKW ablösen, so wie einst UKW die Mittelwelle abgelöst hat. (…) Und das ist, glaube ich, auch die Position, auf die sich die privaten Radiobetreiber in Gänze zwischenzeitlich geeinigt haben: Dass die privaten Unternehmen – jedes Unternehmen für sich selbst – die Entscheidung treffen kann: Wann schalte ich möglicherweise meine UKW-Verbreitung ab, weil ich über DAB+ besser und/oder kostengünstiger meine Hörer erreiche – und wann tue ich das nicht."
Der Melker Fritz Janz aus Oerie (Kreis Springe) melkt im Dezember 1951 bei Musikberieselung eine Kuh. Aber nicht für sein Vergnügen hat er das Radio im Kuhstall aufgestellt, sondern für die Kühe. Der findige Melker hatte von Versuchen gehört, mit denen bei Musik im Stall die Milchleistung der Kühe erhöht werden sollte. Und prompt den Rundfunkempfänger in den Stall getragen. Der Versuch hat geklappt: Nach anfänglicher Unruhe haben sich die Kühe an die neuen Töne gewöhnt, die Milchleistung ist um acht Liter pro Tag gestiegen. Ganz besonders schätzt das Vieh den Jazz.
Radio - Demokratie auf Empfang
Radio ist ein urdemokratisches Medium: Jeder kann es hören, es bringt alle zusammen. In dieser Reihe zeigen wir, was Hörfunk kann: als Jedermann-Sender und Gemeinschaftsmedium, als politische Informationsquelle und Werbeträger.
Olaf Hopp geht davon aus, dass es UKW noch bis mindestens 2030 geben wird. Doch während die Privaten ihre Entscheidung davon abhängig machen wollen, wie viele Hörerinnen und Hörer schon auf die neue Technologie umgestiegen sind, stehen die Öffentlich-Rechtlichen unter Druck. Sie bekommen ihr Geld größtenteils aus den Rundfunkbeiträgen, zugeteilt von einer eigens eingerichteten unabhängigen Kommission, der KEF. Die forderte schon vor fünf Jahren eine Deadline für UKW. Es sei nicht wirtschaftlich für die Sender, zwei Verbreitungswege für den Hörfunk parallel zu betreiben, heißt es im KEF-Bericht 2016:
"Der Umstieg auf das im Vergleich zu UKW kostengünstigere DAB+ kann nicht gelingen, wenn es nicht zu klaren Festlegungen von Bundesregierung, Bundestag und Ländern zu DAB+ kommt und ein realistischer Abschaltzeitpunkt für UKW beschlossen wird."
Ab 2029 keine Rundfunbeiträge für UKW mehr
In ihren Modellrechnungen geht die KEF davon aus, dass die Öffentlich-Rechtlichen ab 2029 kein Geld mehr für die UKW-Verbreitung bekommen werden. Zumal sie den Sendern für die Entwicklung des Digitalradios schon eine dreistellige Millionensumme genehmigt hat. Allein für die Weiterentwicklung hin zum heutigen DAB+ hat allein die ARD laut dem zuständigen MDR knapp 157 Millionen Euro in Sendernetze und Marketing investiert. Das soll sich irgendwann rechnen, denn der Betrieb von DAB+ kommt die Sender langfristig günstiger als der von UKW.
Das Deutschlandradio mit seinen drei Programmen Deutschlandfunk, Deutschlandfunk Kultur und Deutschlandfunk Nova gilt als Vorreiter. Es soll laut Auftrag bundesweit senden, war über UKW aber noch nie flächendeckend zu empfangen. Der Sender treibt den DAB+-Ausbau deswegen entschieden voran und hat in einigen Modellregionen die UKW-Frequenzen bereits abgeschaltet, zum Beispiel auf Helgoland und in Mittenwald. Einen Alleingang beim Umstieg auf DAB+ kann sich Intendant Stefan Raue aber nicht vorstellen:
"Wir werden uns bei jedem Standort, der in Frage steht, genau anschauen: Wie viele Menschen sind durch die UKW-Verbreitung erreichbar? Was kostet der UKW-Betrieb? Was kostet der DAB+-Betrieb? Wie viele Menschen erreichen wir dadurch? Und dann werden wir je nach Region abwägen, ob wir abschalten oder nicht."

Experte erwartet "verbraucherverträgliches Ausblenden"

Beim Digitalradio Board steht das Thema Marketing deswegen weit oben auf der Agenda. Bis UKW tatsächlich abgeschaltet wird, könnte es noch dauern. Olaf Korte, der die DAB+-Technologie beim Fraunhofer-Institut für Integrierte Schaltungen in Erlangen mit entwickelt hat, glaubt, dass es letztendlich kein einheitliches Abschaltdatum geben wird:
"Es wird eher ein verbraucherverträgliches Rausfaden, Ausblenden geben. Also man fängt sicherlich jetzt erst mal an Standorten an, wo man was abschaltet, wo es wenig wehtut. Und an Stellen, wo noch viele Leute UKW hören, wo es viel Hörerschaft gibt, wird man noch relativ lange die Kernsender stehen lassen."
Zumindest ein Meilenstein ist inzwischen erreicht: Seit Dezember müssen alle verkauften Neuwagen die DAB+-Technik an Bord haben. Dieser Beschluss, der auf einer EU-Richtlinie basiert, könnte die Hörerzahlen nach oben treiben – und so nach und nach auch immer mehr Sender zum Umstieg bewegen. Aber warum hat das nicht schon viel früher geklappt?
10 Jahre DAB+: Wie das Digitalradio fast die Zukunft verpasst hätte
Als in den 80er-Jahren das sogenannte duale System eingeführt wurde und neben den öffentlich-rechtlichen Sendern auch private zugelassen wurden, war absehbar, dass die knappen analogen Frequenzen irgendwann nicht mehr reichen würden. Forscher entwickelten ein System, das heute "Digital Audio Broadcasting" genannt wird, kurz DAB. Es folgte vor allem einem Grundprinzip: Radio sollte eine Form von Rundfunk bleiben, sagt der Medienwissenschaftler Kai Knörr von der Universität Potsdam.
"Und das beißt sich aber ein Stück weit mit der realen Entwicklung der realen Technikgeschichte, die eben passiert ist in Form des Ausbaus der Internetdienste."
Digitale Radiogeräte für 800 D-Mark
Dass Radio über ein Digitalgerät in die Haushalte kommen würde, war nur ein mögliches Zukunftsszenario. Radio per Internet war die andere Möglichkeit, die sich im Vergleich dazu sehr viel schneller entwickelte. Für das Digitalradio als neues Gerät aber mussten alle Sender umgerüstet werden, die Elektronikindustrie entsprechende Geräte bauen – und die Hörerinnen und Hörer diese kaufen – zu anfangs hohen Preisen von mehr als 800 D-Mark.
Das Versprechen "mit DAB klingt Radio besser" sollte die Kaufentscheidung erleichtern. Aber allein auf die Audioqualität zu setzen, sei einer der Geburtsfehler des Digitalradios gewesen, sagt Golo Föllmer, Professor für Musik und Medien an der Universität Halle. Gefehlt hätten neue Programme gegeben, die nur per DAB zu hören gewesen wären:
"Dann blieb das DAB ein bisschen besseres UKW, und dafür hat sich kein Mensch ein neues Empfangsgerät anschaffen wollen Die waren sehr teuer. Allein wegen der geringfügig besseren Audioqualität das umzuschalten auf der Nutzerseite ist einfach ein viel zu geringer Anreiz."
Intendant des Deutschlandradios: "Die Menschen hängen am Radio"
Deutschlandradio-Intendant Stefan Raue zieht ein emotionales Argument heran, um das mangelnde Interesse der Hörer am Umstieg zu erklären.
"Die Menschen hängen sehr am Radio. Sie hängen auch sehr an dem Radiogerät, das sie zu Hause haben. Man tut sich schwer damit, von etwas Liebgewordenem Abschied zu nehmen. Man hat sich auch sehr mit UKW, sagen wir mal, befreundet. Das hat uns über viele Jahrzehnte auch begleitet. Das macht einen solchen Umstieg in einen neuen Standard auch schwer."
Zumal die Deutschen gut versorgt sind mit Radiogeräten – im Schnitt stehen in jedem Haushalt drei bis vier. Hinzu kommt: Rundfunkpolitik ist in Deutschland Ländersache und nicht alle Bundesländer waren am Thema DAB+ gleichermaßen interessiert.
Erst Scheitern, dann Neustart
Ende der Nullerjahre war klar: DAB war gescheitert. Das befand auch die KEF, die den Sendern für die Entwicklung des digitalen Radios jahrelang Geld aus der Rundfunkgebühr zugesprochen hatte. Die angeschafften Radios mussten verschrottet werden.
Doch es gab einen Neustart. 2011 ging der Nachfolger von DAB auf Sendung – unter dem Namen "DAB plus". "Plus" stand für Zusatzinformationen im Radiodisplay, vor allem aber wurde die Technik weiterentwickelt, die Radiogeräte kosteten nur noch ein Zehntel des früheren Preises, und es gab neue Programme. Mittlerweile sind bundesweit rund 270 im Angebot.
Tanzmusik und Rosenkranz: Was man bei DAB+ hören kann
Für einen Radiosender ist das ungewöhnliche Musik, die man eigentlich nur in Clubs und auf Raves hört: Im Radio besetzt der Sender "Sunshine live" deshalb mit elektronischer Tanzmusik erfolgreich eine Nische. Seit das Digitalradio DAB+ vor zehn Jahren gestartet ist, ist "sunshine live" dabei – und gilt heute als Zugpferd für den neuen Radiostandard.
Aber auch so etwas gibt es bei DAB+: "Radio Horeb", ein privater römisch-katholischer Radiosender, der die Lehre der Kirche verbreiten will – wie zum Beispiel mit Angeboten zum Mitbeten. Mit "ERF plus" gibt es ein ähnliches Angebot von evangelischer Seite.
Viel Musik, wenig Journalismus
Radio heißt bei DAB+ allerdings vor allem: Musikradio. Mehr Vielfalt heißt hier nicht so sehr mehr Journalismus, sondern vor allem mehr Sender und mehr musikalische Stilrichtungen. Im August 2011 startete die erste Palette an DAB-+-Programmen auf Bundesebene und weitere auf Ebene der Bundesländer, darunter auch die Programme der regionalen ARD-Sender, erläutert Carsten Zorger vom Digitalbüro Deutschland.
"Es gibt zunächst einmal jetzt zwei große bundesweite Belegungen, also zwei Schichten bundesweit. Und dann gibt es natürlich je nach Stadt und Land noch regionale beziehungsweise sogar lokale Belegungen, je nachdem, wo sie sind. In München zum Beispiel haben sie drei lokale, zwei bundesweite und zwei überregionale Belegungen."
Bayern geht bei DAB+ voran
Tatsächlich ist Bayern Vorreiter beim Ausbau von DAB+. Von dort stammt die Initiative, dort fanden die ersten Versuche statt. Die Bayerische Landeszentrale für neue Medien unterstützte in den vergangenen Jahren den Ausbau der Netze auch für die privaten Sender.
Auch deshalb sind in Bayern mittlerweile 98 Programme im Angebot, so viele wie in keinem anderen Bundesland. Die meisten sind nur regional oder lokal zu hören. Auch bei der Verbreitung von Empfangsgeräten liegt Bayern vorne, wenn auch nicht weit: In 31 Prozent der Haushalte gibt es mindestens ein DAB+-Gerät, im Vergleich zu 24 Prozent bundesweit.
18.01.2019, Belgien, Brüssel: Logo von DAB+ auf einer Preesekonferenz von WorldDAB, Digital Radio Vlaanderen uand maRadio.be
Niedersachsens Landtag will Ausstieg aus DAB+
Das niedersächsische Landesparlament hat sich einstimmig gegen eine weitere öffentliche Finanzierung des Übertragungs-Standards DAB+ ausgesprochen. Die Technik habe sich nicht nachhaltig etablieren können.
Der Markt für Programme über DAB+ allerdings bildet sich gerade erst. Wer den Wettbewerb übersteht, ist nicht absehbar. Und das hängt nicht nur davon ab, welche Programme die Hörer annehmen – sondern auch davon, wie viele Hörer DAB+ überhaupt künftig haben wird. Denn während das "Radio der Zukunft" entwickelt wurde, entstanden im Internet parallel ganz neue Übertragungswege,.
Podcasts, Mediatheken und Streaming: Konkurrenz aus dem Internet
Japan, Island, Mauritius – wer Radio aus aller Welt hören möchte, muss nur die Homepage eines Senders aufrufen oder eine Streaming-App installieren. Auch die deutschen Kanäle sind per Livestream jederzeit zu empfangen: einzige Voraussetzung ist eine stabile Internetverbindung. Die Webradionutzung ist im Corona-Jahr deutlich gestiegen, fast die Hälfte der Deutschen ab 14 hört Radio auch über das Internet, ein Viertel sogar täglich.
Doch die Bequemlichkeit hat ihren Preis: Wer streamt, gibt immer auch Daten preis, erklärt Olaf Korte vom Fraunhofer-Institut, der im Bereich Audio und Medientechnologien forscht:
"Selbstverständlich werden bei den Streamingdiensten die Nutzer alle getrackt. Ist doch ganz klar. Diese Daten lässt sich keiner entgehen, um Nutzerverhalten zu kriegen, auf bequemste Weise Einschaltquoten messen zu können, genau mitzukriegen: Bei welchem Lied schaltet jemand um? Wann kommt er zurück? Es gibt auch Streamingdienste, wo Sie wirklich zwar den Stream gemeinsam mit anderen hören, wo aber das sozusagen die Werbeblöcke Ihnen schon personalisiert eingeblendet werden, ohne dass Sie merken, dass sie einen anderen Werbeblock kriegen als ihr Nachbar, der gerade genau das gleiche Streaming-Programm hört."
Hoher Energieverbrauch beim Streaming
Dabei war Anonymität immer eine große Stärke des Radios: Zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg – wer das passende Empfangsgerät hatte, konnte verbotenen Sendern lauschen, ohne Spuren zu hinterlassen. Bis heute sind UKW-Frequenzen auch dort zu empfangen, wo es weder Internet noch Strom gibt. Das Gleiche soll künftig das Digitalradio DAB+ bieten: einen flächendeckenden und vom Mobilfunknetz unabhängigen Rundfunkempfang.
Das sei auch im Sinne des Klimaschutzes, sagen die Befürworter. Denn Online-Streaming verbraucht viel Energie: Für jeden Hörer und jede Hörerin geht ein eigenes Datenpaket auf die Reise. One-to-one heißt das im Fachjargon, also eins zu eins. Rundfunk hingegen folgt dem Prinzip One-to-many – von einem Mast aus erreichen die ausgestrahlten Frequenzen viele Menschen gleichzeitig.
Eine Frau sitzt im Dunkeln in ihrem Bett und schaut auf ihren Laptop. (Mit Denkfabrik-Stempel)
Wie die Digitalisierung dem Klima schadet
Filme streamen, YouTube gucken: das braucht im Hintergrund eine enorme Infrastruktur – und sehr viel Energie. Etwa zehn Prozent des weltweit produzierten Stroms werden alleine für den Betrieb des Internets gebraucht.
Das bedeutet aber auch: Alle bekommen dasselbe Programm zur selben Zeit – obwohl das Internet inzwischen viel individuelleres Hören möglich macht und klassischem Radio damit zunehmend den Rang abläuft. Audioplattformen wie Spotify kreieren je nach Musikgeschmack automatisierte Playlists, Podcasts decken jede noch so spezielle Nische ab.
Individuelle Playlists im Streamingdienst
Dagegen sieht das Digitalradio DAB+ alt aus. In der Debatte um die Zukunft der öffentlich-rechtlichen Sender, die möglichst viele Menschen erreichen sollen, geht es deswegen immer öfter um Medienplattformen und Audiotheken. Der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow ist dennoch überzeugt, dass es lineares Vollprogramm auch in Zukunft geben wird.
"Das lineare Medium Radio hat ja seine besondere Rolle in der unmittelbaren und schnellen Vermittlung von Momenten, Informationen und auch Stimmungen. Und wenn das Radio weiter auf seine Stärke als Echtzeitmedium und Tagesbegleiter setzt, dann wird es das Radio auch linear noch lange geben."
Medienstaatssekretärin Raab wirbt für lineares Radio
Auch die rheinland-pfälzische Medienstaatssekretärin Heike Raab, die die Rundfunkpolitik der Länder koordiniert, wirbt bei aller Offenheit für flexiblere Ausspielwege für lineare Programme.
"Radio ist ein niederschwelliges Medium, und wenn ich an meinen 85-jährigen Vater denke, dann wird der nicht so leicht auf einer Plattform seinen Lieblingssender finden."
Zumal die Vielzahl der Plattformen in Gefahren- und Katastrophenfällen zum Problem werden kann. Denn dann muss die Bevölkerung möglichst schnell und direkt informiert werden - eine Stärke des Live-Radios.
Das Radio als Lebensretter - DAB+ im Katastrophenschutz
"Elf Uhr, die Nachrichten. In Deutschland hat soeben ein bundesweiter Probealarm begonnen. In den kommenden Minuten werden verschiedene Warnmöglichkeiten für den Katastrophenfall getestet, etwa Sirenen, Durchsagen per Lautsprecher, Mitteilungen über soziale Medien und Warn-Apps, aber auch Informationen in Fernseh- und Radioprogrammen wie hier im Deutschlandfunk."
Es war nur ein Test am 10. September 2020 mit dieser Nachrichtenmeldung im Deutschlandfunk. So ähnlich aber könnte es klingen, wenn tatsächlich mal die Bundesregierung oder eine Landesregierung über einen akuten Gefahrenfall informieren will. Dann sollen Radiohörer eine solche Nachricht nicht nur hören können, wenn sie ihr Gerät sowieso eingeschaltet haben – sondern auch, wenn es aus ist oder sie ein anderes Programm hören, erklärt Olaf Korte vom Fraunhofer-Institut:
"DAB plus ist ja rein digital, das heißt, wir können nicht nur Audio übertragen, sondern auch viele Zusatzinformationen. Und unter anderem können wir auch Einschaltbefehle mit verschicken. Das ist ähnlich zu sehen, wie man das vom Autoradio seit Jahrzehnten kennt mit dem Verkehrsfunk, wo ein Radio automatisch auf den Verkehrsfunkkanal schaltet, wenn eine Meldung kommt."
Radio kann sich im Notfall selbst einschalten
Möglich macht das die sogenannten Emergency Warning Functionality, also Notfallwarnfunktion EWF, die UKW-Radios nicht haben, die aber in einigen Jahren in DAB+-Radios Pflicht sein soll. Dann sind die Radioprogramme der ARD und des Deutschlandradios aufgefordert oder sogar verpflichtet, Informationen weiterzuleiten – je nach Ausmaß der Gefahrenlage.
Der Text kommt bei einem sogenannten Spannungs- oder Verteidigungsfall vom Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe, bei Chemieunfällen, Naturkatastrophen oder atomaren Zwischenfällen von Behörden der Bundesländer. Dieses Recht hat sich die Exekutive bei allen öffentlich-rechtlichen Radiosendern in Deutschland einräumen lassen, also auch bei ARD-Anstalten. Auch die SPD-Medienpolitikerin Heike Raab setzt auf DAB+:
"Mit Radio erreichen Sie schnell Millionen von Menschen, und das muss auch sichergestellt werden. Denken Sie daran, dass es auch schon mal Ereignisse gegeben hat wie Tschernobyl oder wie andere Dinge oder einen Amoklauf, dass man flächendeckend die Bevölkerung warnen müsste."
DAB+ funktioniert auch bei Internetausfall
Politikerinnen wie Heike Raab setzen darauf, bei aller Zersplitterung in der Mediennutzung weiter eine terrestrische Infrastruktur zu haben, die auch bei einem Ausfall von Telefon- und Internetnetz noch funktioniert. Wenn die UKW-Sender abgeschaltet worden sind, soll das jetzt schon bestehende DAB+-Netz diese Rolle übernehmen. Durch die Notfallfunktion EWF würden wichtige Informationen sogar noch schneller verbreitet, was der Katastrophenforscher Martin Voss von der FU Berlin begrüßt:
"Wenn es eben die Selbst-einschalten-Funktion hat, kann man darüber eben alle, die die entsprechenden Empfangsgeräte auch haben, zusätzlich noch erreichen. Aber es ist ganz sicher nicht so in diesem komplexen Themenfeld, dass wir mit einer Lösung dann die bestehenden Probleme als solche auch abdeckt."
Nur wenige Geräte haben die Notfallfunktion
Denn Katastrophenschutz setzt nicht allein auf einen Weg, um die Bevölkerung zu warnen. Und: Für eine effektivere Warnung als bisher in UKW müssten Gerätehersteller die EWF-Funktion künftig verpflichtend in DAB+-Radiogeräten verbauen, was im Moment noch nicht der Fall ist - und mehr Hörer müssten diese Geräte kaufen. Bisher sind von den 150 Millionen Radiogeräten in deutschen Haushalten nur 20 Millionen vom Typ DAB+. Fast keins hat diese Notfallfunktion, so dass auch diese 20 Millionen Geräte irgendwann ersetzt werden müssten.
Wie Verbraucherinnen und Verbraucher davon überzeugt werden können mitzuziehen, zeigen zwei Länder in Europa, die sich schon für die UKW-Abschaltung entschieden haben.
Die Vorreiter: Was wir von der Schweiz und Norwegen lernen können
"Ich bin Dabsy. Meine Aufgabe ist es, die Menschen über die Vorteile von DAB+ und die UKW-Abschaltung zu informieren." Ein kleines rotes Radio mit zwei großen Drehknöpfen als Augen stand im Zentrum der Schweizer Kampagne zur UKW-Abschaltung – auf Plakaten, in Fernsehspots und natürlich in Radiowerbung.
Seit einem halben Jahr steht fest: Die öffentlich-rechtlichen Sender in der Schweiz strahlen ihre Programme nur noch bis Mitte nächsten Jahres [*] über UKW-Frequenzen aus. Sechs Monate später, im Januar 2023 [*], stellen auch die Privatradios komplett auf DAB+ um – ihre alten UKW-Geräte können die Schweizerinnen und Schweizer danach entsorgen.
Norwegen hat UKW schon 2017 größtenteils abgeschaltet
Die Eidgenossen sind nicht die ersten, die diesen Entschluss gefasst haben. Norwegen hat sich schon 2017 fast vollständig von der Ultrakurzwelle verabschiedet: Dort haben inzwischen drei Viertel der norwegischen Haushalte ein DAB+-Gerät. Die Hörerzahlen gingen nach dem Umstieg auf Digitalradio zwar erst einmal zurück, sind inzwischen aber wieder auf dem alten Niveau angekommen. Trotzdem sind die Umsätze der Sender zurückgegangen – auch, weil sich die etablierten Stationen ihre Hörerschaft nun mit einer Reihe von neuen Programmen teilen müssen.
Ein Radio mit Digitalempfang steht am 09.05.2016 auf dem Medientreffpunkt Mitteldeutschland in Leipzig (Sachsen).
Digitalradio in Norwegen
Als erstes Land überhaupt hat Norwegen sich vom UKW-Radio verabschiedet. Anderthalb Jahre später schlagen einige Kritiker Alarm: Die Hörerzahlen seien nach der Umstellung auf DAB drastisch gesunken. Aber stimmt das?
Die norwegischen Sender hatten keine Wahl: Das Parlament traf die Entscheidung, UKW abzuschalten. In der Schweiz habe sich die Radiobranche hingegen selbst auf den Umstieg geeinigt, sagt Iso Rechsteiner. Er leitet die zuständige Arbeitsgruppe Digitale Migration:
"Es war ein langer Findungsprozess. Diese Arbeitsgruppe Digitale Migration wurde 2014 gegründet und darin eingeschlossen ist die gesamte Branche, also der öffentlich-rechtliche Rundfunk, die privaten Radios, die nichtkommerziellen Radios. Und über die Zeit hat sich diese Gruppe verfestigt und gemeinsam diesen Weg beschritten. Und nun sind wir so weit, dass wir ein gemeinsames Abschaltdatum definiert haben."
Öffentliche Zuschüsse für den Umstieg
Ganz freiwillig fiel diese Entscheidung nicht. Mehrere Jahre lang bekamen die Sender Zuschüsse, um DAB+ und UKW parallel zu betreiben. Nun gehen die Fördergelder zur Neige.
Der Medienunternehmer und Radiopionier Roger Schawinski hat allerdings schon angekündigt, gegen die UKW-Abschaltung juristisch vorzugehen. DAB+ sei eine "alte Zwischentechnologie", die Zukunft heiße 5G, sagte Schawinski in einem Interview.
5G könnte DAB+ irgendwann ablösen
Tatsächlich verweisen manche schon auf die nächste Technologie: Irgendwann könnten Video- und Audioinhalte über 5G übertragen werden – nicht in Form einzelner, energieintensiver Streams, sondern in einem speziellen Rundfunkmodus. Das ist allerdings noch Zukunftsmusik: Es gibt bislang weder konkrete Pläne noch eine geeignete Infrastruktur, außerdem steht im Zentrum der Überlegungen derzeit vor allem die Fernsehübertragung via 5G. Ob über die geplanten Netze irgendwann auch Radio gesendet werden kann und ob dafür jemals ein flächendeckendes 5G-Rundfunknetz aufgebaut wird, ist offen.
Die Erfolgschancen von Schawinskis Beschwerde schätzt Lukas Weiss gering ein. Weiss hat als ehemaliger Präsident des Branchenverbands UNIKOM in den Verhandlungen zum UKW-Ausstieg die nicht-gewinnorientierten Lokalsender vertreten. Für Weiss ist in der Diskussion über das Digitalradio vor allem eines entscheidend gewesen: dass sich alle auf ein festes UKW-Abschaltdatum geeinigt haben:
"Das ist von überragender Wichtigkeit. Solange nicht diese Abschaltung diskutiert wird, wie man so sagt, solange man den Stier nicht bei den Hörnern packen, da geht's einfach nicht vorwärts"
DAB+ muss sich noch beweisen
In der deutschen Debatte um DAB+ ist das Gegenteil der Fall: Alle Beteiligten haben sich darauf geeinigt, erst einmal kein Abschaltdatum für die Ultrakurzwelle UKW zu nennen. Für die Hörerinnen und Hörer fehlt somit der Druck, sich ein neues Gerät zuzulegen - sie müssen stattdessen mit guten Argumenten überzeugt werden.
Den Verantwortlichen bleibt dafür nicht mehr viel Zeit. Programme sowohl über UKW als auch über DAB+ auszustrahlen ist eine teure Doppellösung. Und vor allem die Jüngeren, die Zielgruppen der Zukunft, hören immer mehr Audio-Inhalte online. Noch spielt der lückenhafte Ausbau des mobilen Internets dem Digitalradio in die Karten. In der Zukunft muss DAB+ beweisen, dass es Sinn ergibt, eine stromsparende und krisensichere Infrastruktur für terrestrischen Rundfunk aufrecht zu erhalten.
* Die ursprünglich im Text enthaltenen falschen Zeitangaben haben wir korrigiert.