Das vormals blinkende Neonherz erinnerte also die Prager bis vor kurzem eher an einen Nachtclub als an ihren Präsidenten und war daher Anlass für Kopfschütteln und hämische Witze. Havel selbst brachte das Herzchen ausgerechnet mit dem Nato-Gipfel in Zusammenhang, der Ende November in Prag über die Bühne ging und der von den Staatsoberhäuptern der westlichen Welt zum Anlass genommen wurde, den scheidenden Präsidenten zu verabschieden. Für Vaclav Havel war dieser Nato-Gipfel in Prag - der erste hinter dem ehemaligen Eisernen Vorhang - der krönende Abschluss seiner Amtszeit. Hier beschloss das Bündnis seine Ost-Erweiterung um sieben weitere Länder. Und Vaclav Havel war es, der dieser Erweiterung des westlichen Militärbündnisses in einer Ansprache historische Bedeutung verlieh:
Die Erweiterung ist ein ganz klares Zeichen, dass die Allianz nicht nur ein Klub von Veteranen des Kalten Krieges ist, die mit leichtem Entsetzen das rätselhafte Geschehen in den postkommunistischen Ländern betrachten, sondern dass sie wirklich eine den ganzen euro-amerikanischen Kulturraum umspannende Organisation sein will. Europa ist nicht mehr geteilt und darf nicht mehr über die Köpfe seiner Bewohner hinweg und gegen ihren Willen in Interessens oder Einflusssphären aufgeteilt werden.
Die Erweiterung der Nato und der Europäischen Union - für Havel sind dies weit mehr als nur Prozesse, die von militärischen bzw. wirtschaftlichen Interessen geleitet sind. Nein, für Vaclav Havel ist das alles nicht weniger als die Vereinigung des geschundenen Kontinents Europa zu einer Gemeinschaft von Völkern mit gemeinsamen Werten.
Der Dichterpräsident Vaclav Havel - umgeben von Staatschefs wie Georg W. Bush oder Jacques Chirac - dieses Bild erschien auch im November 2002 noch immer merkwürdig, nicht zuletzt wegen des blinkenden Neonherzchens über der Szenerie. Bis zuletzt wirkt Havel etwas unbeholfen in der Rolle des Staatsmanns und Politikers. Eine Rolle allerdings, in die er sich bereits vor der Wende gedrängt sah. Im Oktober 1989, als er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten sollte, verweigerte das Regime ihm die Ausreise.
"In Wahrheit leben" das war Havels Motto. Moralisch, kompromisslos, sein Verständnis von Politik wurde in den Zeiten des Widerstands gegen die Kommunisten geprägt. Vaclav Havel im Juli 1989:
Die Erfahrung, die wir in diesem System machen, lehrt uns nachdrücklicher als die in einer offenen Gesellschaft, dass der einzig richtige und sinnvolle Ausgangspunkt jeder Politik die Moral ist. Politik ist eine Form praktizierter Moral. Auch der Protest gegen ein System, das schlecht ist, weil es die Menschenwürde verletzt, muss von einer moralischen Revolution ausgehen. Das heißt jeder, muss bei sich selbst anfangen, muss sich bemühen, sich von der allgemeinen Schizophrenie zu befreien, muss aufhören zu lügen, nur weil es bequem ist, muss sich wahrhaftig verhalten.
Für die Samtene Revolution im November 1989 wurde Vaclav Havel zur Symbolfigur. Das oppositionelle Bürgerforum wählte ihn zum Vorsitzenden. Immer öfter war er jetzt als Redner nicht nur im kleinen Kreis politischer Freunde, sondern etwa auf dem Prager Wenzelsplatz zu hören:
Unsere friedliche Revolution entstand aus dem Widerstand der Studenten und zuletzt auch der ganzen Nation gegen Gewalt, Schmutz, Intrigen, Unrecht, Mafia-Strukturen, Privilegien und Verfolgungen. Bewahren wir ihre Freiheit, Friedlichkeit, ihren liebevollen und heiter-freundlichen Charakter. Sorgen wir dafür, dass diese Werte auch weiter blühen. Lassen wir nicht zu, dass - wer auch immer - auf irgendeine Weise dieses schöne Antlitz unserer friedlichen Revolution beschmutzt. Wahrheit und Liebe müssen siegen über Lüge und Hass.
"Havel na hrad" - der Ruf verbreitete sich schnell: Havel auf die Burg. Was nur wenige Wochen zuvor undenkbar erschien: am 29. Dezember 1989 wurde der Schriftsteller und langjährige Gegner des kommunistischen Regimes, Vaclav Havel, zum Präsidenten der Tschechoslowakei gewählt.
Mühsam nur passte Havel sich an, musste sich von Jeans und Lederjacke trennen, in die für ihn schwierige Kostümierung des Staatsmanns schlüpfen. Er umgab sich weiter mit Freunden aus Dissidententagen, Rockmusikern, Filmemachern, Dichtern. Und er entfernte sich vom alltäglichen Leben der Menschen, das sich rasant zu wandeln begann. Was er sah, beim Blick hinab von der Prager Burg, dem Hradschin, erfreute ihn immer weniger.
Die gerade erst beschworen Ideale der "Samtenen Revolution", die friedliche Stimmung über dem Land - sie schien unterzugehen in den Machtkämpfen der sich formierenden politischen Parteien, in einem die gesamte Gesellschaft verschlingenden Sumpf aus Konkurrenz, Kälte und Korruption. Vaclav Havel sah die Ideale, den moralischen Anspruch der Wendetage bedroht und sein Land am Scheideweg.
Werden wir eine wirklich zivile und offene Gesellschaft sein, die es allen ermöglicht, auf verschiedenen Ebenen und auf verschiedene Weise ihr Schicksal zu beeinflussen und sich am politischen Leben im weitesten Sinne des Wortes zu beteiligen? Oder wird unser Gesellschaftssystem sich langsam und unumkehrbar so abschließen, so dass am Ende über das Wesentliche nur noch die gleiche kleine Bruderschaft entscheidet, in deren Händen sich die ökonomische, politische und mediale Macht konzentriert und die noch nicht mal vor den Grenzen zur Kriminalität zurückschreckt?
So zum Beispiel Havels Kassandra-Ruf in der Neujahrsansprache 2002. Ohne Namen zu nennen zielte er mit seiner Kritik auf die damals beherrschenden politischen Köpfe: den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Milos Zeman und den Chef der Bürgerpartei ODS, Vaclav Klaus, die sich über vier Jahre in einem so genannten "Oppositionsvertrag" verbündet hatten und die politische Macht unter sich aufteilten. Havels tiefes Misstrauen gegen Parteien und Parlamente, gegen die Institutionen der parlamentarischen Demokratie, wurde durch das Machtkartell Zeman-Klaus scheinbar bestätigt.
Havel sprach von einem sich ausbreitenden "Mafia-Kapitalismus" mit Verbindungen bis zu den politischen Spitzen und wählte dann eine der schlimmsten Beschimpfungen - in dem er die tschechische Gegenwart mit der Zeit der propagandistisch so genannten "Normalisierung" verglich, jener Phase der kommunistischen Herrschaft nach der Niederschlagung des Prager Frühlings.
Es gibt unter uns moderne und kultivierte Normalisatoren die am liebsten überall in jeder Sphäre die Strippen ziehen würden - angefangen bei den großen Unternehmen über Fernsehen und Presse bis hin zu unseren Vertretungsorganen.
Harte Worte, mit denen Havel offen jene oppositionellen Bewegungen in Tschechien unterstützte, die 1999 den Abtritt der gesamten herrschenden politischen Klasse forderten. "Wir danken und jetzt verschwindet!", hieß die Parole Genau ein Jahrzehnt nach der Samtenen Revolution verliehen so einige der Akteure von damals ihrer Enttäuschung darüber Ausdruck, dass die hart erkämpfte Demokratie scheinbar nicht mehr bedeutet, als alle vier Jahre seine Stimme abzugeben und ansonsten dem unwürdigen Gezerre und Gemauschel von korrupten Parteipolitikern zuzuschauen. Havel sympathisierte offen mit diesen Bewegungen. Er und seine politischen Freunde setzten gegen die Institutionen Parteien und Parlament den utopischen Begriff von der Zivilgesellschaft, der aber immer unscharf blieb.
Enttäuschungen für Havel gab es auch auf anderem Gebiet und schon sehr früh. Im slowakischen Teil der Tschechoslowakischen Föderation wurden bald nach der Wende Forderungen nach Souveränität und nationaler Unabhängigkeit laut. Die Republik sollte sich entlang einer ethnisch definierten Grenze spalten. Vaclav Havel drohte im Frühsommer 1992 mit Rücktritt, sollten die Spaltungspläne Wirklichkeit werden.
Die Teilung der Föderation nicht aufhalten zu können, das war wohl Vaclav Havels dramatischste Niederlage.
Nicht als Niederlage, sondern eher als Korrektur naiver Vorstellungen aus alten Zeiten sieht Havel den Abschied von seinen pazifistischen Illusionen.
Nicht nur alle Militärbündnisse wollte Havel einst auflösen, auch die Waffenproduktion der Tschechoslowakei hätte er damals gerne vollständig gestoppt. Wo gab es schon je einen Präsidenten mit solchen Plänen?
Doch schon bald nach der Amtsübernahme schwenkte Havel voll auf Nato-Kurs ein und leistete im Februar 1991 sogar Abbitte im Hauptquartier der Allianz in Brüssel:
Von klein auf habe ich von allen offiziellen Stellen und Medien meines Landes über die nordatlantische Allianz nur eines gehört: nämlich dass sie eine Bastion des Imperialismus sei, eine Verkörperung des Teufels selbst, der den Frieden bedroht und der uns vernichten will. Und ich bin glücklich, dass ich heute an dieser Stelle die Wahrheit sagen kann: Die Nordatlantische Allianz war und ist eine demokratische Verteidigungsgemeinschaft, die bedeutendend dazu beigetragen hat, dass unser Kontinent fast ein halbes Jahrhundert keine Kriegsleiden gekannt hat und dass sein größter Teil vor dem Totalitarismus geschützt wurde.
1999 trat Tschechien zusammen mit Ungarn und Polen der Nato bei, die Allianz hatte damit die Grenze zum ehemaligen Warschauer Pakt überschritten. Seither engagierte sich Havel persönlich dafür, den ganz großen Erweiterungsgipfel der Nato 2002 nach Prag zu holen. Hier sollte noch einmal Geschichte geschrieben werden.
Eigentliches Thema des Prager Nato-Gipfels wurde jedoch in Folge des 11. September der mögliche Krieg gegen den Irak. Auch für solche Pläne kann Havel mit historischen Vergleichen Pate stehen.
Unser Land hat in der Zeit meines Lebens zwei Erfahrungen gemacht, beide mit unübersehbaren, tiefen und langfristigen Folgen: Die erste war die Münchener Kapitulation, als die zwei europäischen Demokratien - angeblich im Interesse des Friedens - Hitlers Druck gewichen sind und ihm erlaubten, die damalige Tschechoslowakei zu verstümmeln. Sie haben dadurch selbstverständlich den Frieden nicht retten können. Im Gegenteil: Hitler hat gerade ihr Handeln in München als letztes Zeichen verstanden, dass er einen blutigen Weltkrieg entfachen kann. Ich glaube, dass nicht nur ich, sondern auch die meisten meiner Mitbürger diese Erfahrung als ein Argument dafür verstehen, sich dem Bösen von Anfang an zu widersetzen.
Vaclav Havel ist immer für eine Überraschung gut. Seine Reden, an denen der Schriftsteller lange arbeitet, sind nicht nur von literarischer Qualität, sie enthalten meist auch äußerst unbequeme Anstöße - vor allem in Richtung der eigenen Landsleute.
Mehrfach zum Beispiel hat Havel die Vertreibung der Sudeten- deutschen aus ihren Jahrhunderte alten Siedlungsgebieten durch Tschechen nach dem Zweiten Weltkrieg verurteilt und sich damit zuhause unbeliebt gemacht. Die völkerrechtswidrige Vertreibung, bei der über 200.000 Todesopfer zu beklagen waren, wird nämlich in Tschechien bis heute von einem großen Teil der tschechischen Bevölkerung und des politischen Establishments in Prag gerechtfertigt. Schon bald nach seinem Amtsantritt erklärte Havel zur Deutschen-Vertreibung:
Das war keine Strafe, sondern Rache. Außerdem haben wird die Deutschen nicht auf Grund einer erwiesenen Schuld vertrieben, sondern einfach als Angehöriger einer Nation. Und so haben wir - in der Meinung, der historischen Gerechtigkeit freien Lauf zu geben - vielen unschuldigen Menschen Unrecht getan - vor allem Frauen und Kindern.
Der Aussöhnungsprozess mit Deutschland, der Freundschafts- vertrag 1992 und die deutsch-tschechische Erklärung 1997 wären ohne den sanften Druck von Havel auf die politische Szene seines Landes so nicht möglich gewesen.
In der Frage der Benes-Dekrete aber blieb auch Havel zurückhaltend. Jene Präsidentendekrete, die nach dem Krieg die Enteignung und Ausbürgerung der deutschen Minderheit verfügten - diese Dekrete sind bis heute offiziell Teil der tschechischen Rechtsordnung - vor allem, weil Prag Entschädigungsforderungen von Sudetendeutschen fürchtet, falls die Dekrete aufgehoben würden. Die offiziell-diplomatische aber nichtssagende Prager Sprachregelung, die Dekrete seien "erloschen", hat auch Havel nie in Frage gestellt.
Mit klaren Worten hingegen reagierte Havel auf die neue Vergangenheitsdebatte, die vor einem Jahr der damalige tschechische Ministerpräsident Milos Zeman vom Zaun brach, als er die Sudetendeutschen als "Landesverräter" und ihre Vertreibung als "relativ milde Behandlung" bezeichnet hatte. Vaclav Havel sagte damals im ARD-Bericht aus Berlin:
Das Bewusstsein, dass die Abschiebung die einzige Möglichkeit war, unvermeidlich, eine heilige Sache, unantastbar, nicht kritisierbar - dieses Bewusstsein wurde jahrzehntlang in diesem Land gepflegt. Es war ein Tabu, man konnte nichts kritisches dagegen sagen. Viele Leute wurden wohl durch die Wahlkampf-Zeit verführt, sich an diese stereotypen Gedanken anzulehnen, die in der Gesellschaft verwurzelt sind.
Vaclav Havel: Im Ausland hoch respektiert, eine Symbolfigur für den anti-kommunistischen Widerstand in Osteuropa, für die Überwindung alter Grenzen in Europa, aber auch für intellektuelle Redlichkeit im höchsten Staatsamt. Ein Präsident und Repräsentant seines Landes, der nicht zu ersetzen sein wird.
In Tschechien selbst aber wird Havel seit langem wesentlich kritischer gesehen - aus ganz verschiedenen Gründen: - Nach dem Tod seiner bodenständigen und populären Frau Olga 1996 heiratete Havel - viel zu schnell, wie manche meinten - die 17 Jahre jüngere Schauspielerin Dagmar Veskrnova, was ihn deutlich Sympathien kostete.
Dann kam die Serie lebensbedrohlicher Erkrankungen und schwerer Operationen, die aus Havel einen körperlich geschwächten, permanent anfälligen Mann machten.
Seine moralischen Interventionen wurden zum Teil nicht nur deshalb abgelehnt, weil Havel der öffentlichen Meinung weit voraus, weil er unbequem war. Zum Teil wurde die permanent moralisierende und mahnende Haltung des Präsidenten - wohl auch zu Recht - als Zumutung empfunden. Seine Kritik an einzelnen Politikern erschien immer öfter als Teil einer wahnhaft hasserfüllten Privat-Fehde.
Und schließlich hat sich Havel in den mehr als 13 Jahren seiner Amtszeit so weit vom Alltag der Menschen entfernt, das er ihre Probleme oft nicht mehr verstand oder gar nicht erst wahrnahm.
Letzteres übrigens weiß Vaclav Havel auch und leidet selbst wohl am meisten darunter. Und dies dürfte ein Grund dafür sein, dass ihm die Selbstsicherheit im moralischen Urteil, die er in seinen Reden ausstrahlt, mehr und mehr abhanden gekommen ist, so dass er dies auch öffentlich thematisiert. Seine "intellektuelle Rastlosigkeit, die ihn einst gezwungen habe gegen die Kommunisten aufzustehen und dafür ins Gefängnis zu gehen, diese Rastlosigkeit verursache ihm heute tiefe Zweifel an seiner eigenen Arbeit."
Ich bin bei weitem nicht der einzige, der sich zuweilen über die ihn umgebende Welt wundert, den das Gefühl überfällt, dass er aufhört, diese Welt zu begreifen, und der am guten Sinn vieler Dinge, die ihren Gang bestimmen, zweifelt. Wenn Sie erlauben, versuche ich, Sie und mich an einige Sicherheiten zu erinnern, an denen man sich immer wieder festhalten kann: offensichtlich gute und deshalb hoffnungsvolle Punkte in dieser etwas unübersichtlichen, rauen und verrückten Welt. Vor allem meine ich, dass schon allein die Fähigkeit, sich zu wundern und unvoreingenommen zu zweifeln sehr nützlich ist - besonders in Fällen, wo die Mehrheit den Zweifel nicht teilt oder wo er etwas betrifft, was als unzweifelhaft angesehen wird. Denn was sonst als der Zweifel daran, ob etwas gut ist, und die Verwunderung darüber, was alles möglich ist, sind die Quellen des Bemühens um einen besseren Zustand?