Claus Leggewie: Du bist nicht jüdisch aufgewachsen, oder der Religion …
Daniel Cohn-Bendit: Komplizierter.
Leggewie: Ja, sag's.
Cohn-Bendit: Ich bin geboren in Südfrankreich, weil meine Eltern fliehen mussten. Sie mussten sich am Ende des Krieges verstecken. Meine Mutter kam dann zurück nach dem Krieg und wurde sagen wir Wirtschaftsleiterin eines jüdischen Gymnasiums. Und da war ich natürlich sehr oft. Meine Mutter war sehr beliebt bei den Schülern, und Feiertage hat sie dort gefeiert –
Leggewie: Religiöse Feste …
Cohn-Bendit: Ja, mehr oder weniger religiöse. Auf alle Fälle habe ich immer permanent da hineingeschnuppert. Ich wollte dann meine Bar-Mizwa nicht machen …
Leggewie: Warum nicht?
Cohn-Bendit: Weil ich mich nicht als Religiöser gefühlt habe. Ich war auch sehr beeinflusst von meinem Bruder, der neun Jahre älter ist, der sehr früh Kommunist war. Der war dann Kommunist, dann Trotzkist. Dann ist der mal rausgeflogen, dass er auch bei den Libertären landete. Und deswegen kann man nicht sagen, ich bin – ich habe schon einen jüdischen Humus, aber dieser jüdische Humus ist kein religiöser. Das ist erst mal die Tatsache, dass meine Eltern politisch und als Juden fliehen mussten und sich verstecken mussten. Und das bleibt. Deswegen kann ich mich dem nicht entziehen. Ich hab es lange gemacht, ich hab lange so einfach postuliert, ich bin Jude im Sinne von Sartre: Solange es Antisemiten gibt, bin ich Jude, und wenn es keine Antisemiten mehr gibt, bin ich kein Jude. Ich glaube, um den Sprung viel schneller zu machen, ich bin heute – ich habe eine subkutane, eine pränatale jüdische Identität. Die Frage für mich ist, dass ich mir irgendwann immer gesagt habe, was wäre gewesen, wenn ich älter gewesen wäre, oder wenn dein Bruder im Krieg festgenommen worden wäre. Er ist '36 geboren, das heißt, mit acht oder neun hätte er festgenommen werden können. Und dieses Bild des Jungen, der aus dem Warschauer Ghetto rausgeht mit erhobenen Händen, das hätte ich sein können, wenn ich früher geboren worden wäre. Das prägt, da kann man sich nicht – irgendwann kann man sich dem nicht mehr entziehen. Und dann heißt das für mich, dass ich sage okay, ich bin das, was man einen Juden der Diaspora nennt. Das prägt auch meine multikulturelle Identität. Ich kann Jude in Frankreich, in Deutschland, in den Vereinigten Staaten sein.
'68 und die Notstandsgesetze
Leggewie: Aber nicht in Israel.
Cohn-Bendit: Genau. Weil für mich, um es mal ganz krass zu sagen, Israel das Ende des Judentums ist. Das sind Israelis, die haben eine nationalstaatliche Identität. Das ist ihr gutes Recht, aber es ist was anderes. Wenn ich mich – bin ich in Israel, dann bin ich ein Israeli und habe mehr oder weniger die jüdische Religion – aber das prägt den Staat Israel. Ich bin nicht im Staat Israel. Ich bin ein Jude, der in Montreal oder in New York oder in Toronto oder in Paris, Berlin, wo auch immer leben will, London – und das ist total unterschiedlich für mich. Was erstaunlich ist, ist ja, dass in bestimmten Bewegungen du eine überproportionale jüdische Teilnahme feststellen kannst, auch übrigens im amerikanischen SDS. Und es hat was – also, Juden können sich unterschiedlich entwickeln – das ist jetzt keine deterministische Erklärung – können. Aber es hat was mit der Vorstellung, vielleicht sogar, wenn man weiterdenkt, mit einer messianischen Vorstellung einer anderen Welt zu tun, und die Rolle, die Juden spielen sollen, können, müssen, dürfen, um die Welt anders zu machen. Und ein Teil dieser jungen Juden, meistens Mittelstandsjuden, haben sich dann in diesen linken Bewegungen wiedergefunden, und später vielleicht auch in bestimmten bolschewistischen Organisationen. Das ist erst mal eine Feststellung. Wie man das alles dann erklären kann, ist manchmal überkomplex.
Leggewie: Hängt vom Einzelfall ab, könnten wir mal sagen. Um mal vorzugreifen dem späteren Europaabgeordneten und Chef der Grünen-Fraktion im Europäischen Parlament: Wenn wir jetzt zurückdenken an 1967/68, welche Bedeutung hatte damals Europa? Und ich meine jetzt nicht nur eine Idee von Europa oder einen europäischen Kommunikationsraum, wo man von Paris nach Berlin und wieder zurück fuhr, sondern auch die europäischen Institutionen. Damals hieß es ja noch Europäische Gemeinschaft, EG, gemeinsamer Markt. Was hatte das für eine Bedeutung um diese Zeit?
Cohn-Bendit: Keine. Absolut keine. Es gibt bestimmte Dinge, die sehr merkwürdig sind oder über die man nachdenken muss. Ich gebe mehrere Beispiele. 1966/67 waren einer der zentralen Inhalte der Revolte, der Kritik an der deutschen Politik und Gesellschaft, die Notstandsgesetze. Diejenigen, die die Notstandsgesetze wollten, waren irre. Die brauchte man nicht. Diejenigen, die gesagt haben, wenn die beschlossen werden, ist das das Ende der Demokratie …
Leggewie: "Das ist der Faschismus" haben sie gesagt…
Cohn-Bendit: "Das ist der Faschismus" ist auch unsinnig. Das heißt, plötzlich hat sich etwas zugespitzt über etwas, was Nonsens war, absoluter Nonsens.
Leggewie: Mit einer kleinen ironischen Pointe, dass in den Notstandsgesetzen das Widerstandsrecht des deutschen Volkes mit verankert wurde. Das ist ja auch interessant. Wenn sozusagen alle Stricke reißen, dann hat das Volk ein Recht auf Widerstand gegen eine kriminelle Regierung.
Cohn-Bendit: Oder eine fremde Macht.
Leggewie: Oder eine fremde Macht, ja.
Cohn-Bendit: Und gleichzeitig gab es damals zwei Millionen Migranten, mindestens. Hat irgendjemand – weil man hat ja immer über die Verfasstheit Deutschlands – hat irgendjemand über das Staatsbürgerrecht geredet? Was Jahrzehnte später zu zentralen Auseinandersetzungen – Ius soli, Ius sanguinis – '67/'68 kein Thema.
Leggewie: Und die Türken kamen in Betracht mit dem großen Türkenstreik 1973 bei Ford, als dann plötzlich, angeleitet durch Maoisten, die Betriebsarbeit gemacht haben, die Türken einen wilden Streik inszenierten, gegen die Gewerkschaft IG Metall. Aber sie kamen als Arbeitnehmer, nicht als Türken.
Cohn-Bendit: Genau. Aber das ganze Ding, auch die ganze Geschichte der Arbeitsmigration, die im Grunde genommen – der Vater der multikulturellen Gesellschaft ist Ludwig Erhardt. Er, durch die Anwerbung, hat ja diese Basis der multikulturellen Gesellschaften geschaffen. Die haben gesagt, Gastarbeiter würden gehen, aber die bleiben, und so weiter. Das heißt, es gibt so Dinge, die man historisch in dem Moment gar nicht sieht. Und so war es natürlich – also wir haben überhaupt nicht nachgedacht – für, gegen –, sondern zum Teil war die Bewegungsfreiheit, die langsam anfing, eine Selbstverständlichkeit, aber ansonsten war diese Idee, die Verbrüderung zwischen Deutschland und Frankreich – es hat uns nicht so beschäftigt, weil wir waren für die Verbrüderung der Revolutionären in Ost und West oder in Frankreich und so weiter.
Leggewie: Michel Rocard, der ja 1968/69 noch einer kleinen linkssozialistischen Splitterpartei vorstand –
Cohn-Bendit: Der du nahestandst …
Leggewie: Der ich nahestand, PSU, der hat damals in '73, also etwas später, ein Buch geschrieben, das hieß "Der gemeinsame Markt gegen Europa. Gegenüber der Herausforderung der Multinationalen - wird der Sozialismus europäisch sein oder nicht". Das war gewissermaßen schon so ein –
Cohn-Bendit: Es war der Erste, die erste Hinwendung, zu verstehen, dass Europa auch eine Überwindung eines überkommenen Nationalstaatsgedankens – und das hat aber lange gedauert.
Leggewie: Wenn wir noch mal nachdenken über die Forderung der 68er – wir haben schon drüber gesprochen –, ein anderes Verhältnis zu Kindern, ein anderes Verhältnis zwischen Mann und Frau, überhaupt eine ganz andere Art, sein Leben zu organisieren und so weiter, und so weiter. Da würde man heute sagen, das ist alles identity politics, Identitätspolitik. Da werden Vitas konstruiert, die mit dem, was damals die Revolutionäre gefordert hatten, nämlich einer sozialistischen Revolutionsauffassung eher sekundär waren. Also man würde damals gesagt haben, es gibt Haupt- und Nebenwidersprüche, und ihr beschäftigt euch mit den Nebenwidersprüchen. Der Hauptwiderspruch ist Kapital/ Arbeit. Du hast einer Gruppe angehört, die "Revolutionärer Kampf" hieß, und von denen ein Teil dann auch in die Opel-Werke nach Rüsselsheim ging, um dort – ja, was eigentlich? – Betriebsarbeit zu machen, den Sozialismus von unten aufzubauen. Was war der Sinn dieses revolutionären Kampfes? Ich glaube, das ging so '69, '70 los.
Cohn-Bendit: Thomas Schmid hat mal geschrieben – der spätere Chefredakteur der "Welt", der bei uns war –, das war eine bessere soziologische, empirische Arbeit in den Betrieben, also Industriesoziologie. Wir wollten eigentlich nicht eine Partei gründen, sondern wir wollten neue Bündnisse mit Arbeitern schließen, eruieren, wie das geht. Also neue Netze stricken, das war die Idee. Und zum Teil haben wir auch sehr gute Erfahrungen gemacht darüber, haben viel gelernt. Das war die Idee. Wir haben viel gelernt, und wir haben auch zum ersten Mal gelernt, welches Potenzial auch Migranten, Arbeitsmigranten in den Betrieben haben. Mehr war es nicht, aber für die, die das miterlebt haben, ein sehr wichtiger Lebensabschnitt.
"Sozialismus ist Austern für alle"
Leggewie: Joschka Fischer.
Cohn-Bendit: Joschka Fischer, alles Mögliche, ja.
Leggewie: Wir waren, ohne dass wir uns dort berührt hätten, gemeinsam '74/'75 in Portugal als Revolutionstouristen. Und du mit einer Meute von Spontis, ich mit meiner Kleinfamilie, drei Personen. Du nach meiner Beobachtung immer im Rudel, immer mit vielen, mittendrin, ob das jetzt Volleyball oder Fußball oder Revolution bei irgendwelchen linksradikalen Gruppen in Lissabon war. Ich glaube, dieses Leben im Rudel, also in der Horde, diese Gemeinschaftsexistenz, ich glaube, das ist typisch '68, oder?
Cohn-Bendit: Ja, und das war typisch für uns '68 in Nanterre. Wir haben diese ganze Revolte, die Libertären, die Anarchisten waren ein Rudel. Und wir haben stark und nachts gelebt, und haben auch von März bis Ende Mai diese Tage so zusammen verbracht. Das ist diese Suche nach einer solidarischen Gemeinschaft, das Sprengen von kleinen Strukturen – das ist richtig.
Leggewie: Es gibt drei Dinge, die man, sagen wir mal, um '68 herum auf keinen Fall tun durfte, wenn man links war. Erstens wählen gehen und in eine Partei, eine bürgerliche Partei eintreten. Luxuriös essen gehen, also zum Beispiel Austern. Und heiraten. Alles drei hast du gemacht.
Cohn-Bendit: '68 … ich weiß noch, als ich hier zurück nach Deutschland kam, also zurück, ausgewiesen wurde und nach Deutschland kam, hat mich irgendjemand gefragt, was ist für dich Sozialismus? Und dann habe ich '68 gesagt: Das ist Austern für alle. Da waren die im SDS empört – wie kann man nur, und so weiter. Das habe ich sehr früh gemacht. Ich hab dann irgendwann auch mich in einer engen Zweierbeziehung wiedergefunden, und 15 Jahre nach dem Beginn dieser Zweierbeziehung habe ich auch geheiratet. Da war unser Sohn schon sieben Jahre alt. Und das Dritte war, die Partei – das hat lange gedauert. Das erste Mal, wo ich in meinem Leben gewählt habe, war, als ich 40 war. Das war hier in Deutschland, das erste Mal Grüne Liste Hessen, glaube ich. Und dann die Grünen. Ja, irgendwann war mir und uns klar, dass die sozialen Bewegungen, die Revolten, die sind so wie Ebbe und Flut. Das steigt und steigt, aber mit genau der gleichen Regelmäßigkeit wie Ebbe und Flut geht es wieder zurück. Und in diesem Moment des Zurückgehens ist Katerstimmung.
Leggewie: Und dann sind institutionelle Strukturen wie Parteien unglaublich wichtig.
Cohn-Bendit: Ja, weil am Ende die Veränderungen, die man will, müssen in Parlamenten vollzogen werden. Und da muss man, kann man dabei sein oder nicht. Und das war die Hinwendung
Cohn-Bendit: Ja, weil am Ende die Veränderungen, die man will, müssen in Parlamenten vollzogen werden. Und da muss man, kann man dabei sein oder nicht. Und das war die Hinwendung dann zur Partei, zu den Grünen, mit all den schmerzhaften Auseinandersetzungen, die das bedeutet hat.
Leggewie: Die wir alle noch in Erinnerung haben. Du hast eben gesagt, du warst immer der Gute, du hattest auch so eine, wie du es selbst nennst, zentristische Position. Obwohl du ein polarisierender Mensch sein kannst, kannst du auch die Leute wieder zusammenbringen und gewissermaßen in einem guten Sinn versöhnen. Du warst einmal nicht der Gute. Das betraf diesen berühmten Pädophilie-Vorwurf, der sich an das Buch "Der große Basar" gerichtet hat, wo du über deine Zeit als Kindergartenpädagoge in Frankfurt nachgesonnen hast. Da habe ich dich eine Zeit lang verstummen sehen. Das hat dich schwer getroffen.
Cohn-Bendit: Es ist sehr schwierig, wenn ein medialer Shitstorm über dich her geht, und du schaffst es nicht, oder ich schaffe es nicht, rational mit Medien oder in der Öffentlichkeit darüber zu reden. Dieses Buch, es sind zwei Seiten, du hast dreimal den "Großen Basar", ich spreche übers Judentum, was nicht alles. Die Geschichte ist ja wirklich einfach: Das Buch entstand Mitte der 70er-Jahre, ich glaube, vor 20 Jahre ist das Buch erschienen, wurde in "Le Monde" besprochen, war gut, nicht gut, ist egal. In Deutschland auch. Und 20 Jahre später bin ich der Pädophile, wegen zwei Seiten, wo ich – diese zwei Seiten sind auch dumm geschrieben, absolut dumm geschrieben. Es ging um die Erfahrung der Kinderladen-Bewegung, und wie setzt man die Anerkennung einer kindlichen Sexualität durch. Es fehlen zwei Zeilen in diesem Buch. Natürlich hat eine kindliche Sexualität, egal, wie die Kinder spielen wollen, mit einer erwachsenen Sexualität nichts zu tun. Diese zwei Seiten fehlen …
Leggewie: Diese zwei Zeilen …
Cohn-Bendit: Diese zwei Zeilen von zwei Seiten. Weil sie fehlen, und das ist dumm, wurde immer dieser Vorwurf, das ist die Begründung der Pädophilie, wie das da hingeschrieben ist. Auch sehr provokativ, sehr kindlich provokativ geschrieben. Und dann, obwohl ja sich niemand meldet – du kannst ja sagen, irgendwann meldet sich jemand, ein Kind oder die Eltern und sagen, hier, ja, genau. Sondern im Gegenteil, alle sagen sie, komm, vergiss das doch, da war nichts – ist es nicht mehr aufzuhalten. Und dann verstummt man. Was soll man sagen?
Leggewie: Ein Kapitel, das viele für unerledigt halten, ist die Sache mit den Hausbesetzungen, also die Joschka-Fischer-Erinnerung, die aufgerufen wurde, als er Minister wurde, wo eben gesagt wurde, das waren doch Gewalttäter. Es ist immer wieder die Nähe des SDS oder der Studentenbewegung insgesamt zu terroristischen Gruppen, ihre gleiche Ursprünglichkeit mit der RAF oder sonst was benannt worden. Gibt es da überhaupt Leichen im Keller, die man noch heben müsste? Ist da noch was aufzuarbeiten? Haben wir da als Generation der 68er auch irgendeine Vergangenheit aufzuarbeiten, oder ist das im Grunde genommen geklärt?
Cohn-Bendit: Das Problem ist nicht Leichen im Keller. Wir haben eine politische Verantwortung. Natürlich konnte man aus den ideologischen Versatzstücken, von der Studentenbewegung den Guerilla-Mythos herausarbeiten. Und einige haben das so spielerisch mitgetragen. Wenn Rudi Dutschke beim Vietnam-Kongress schreibt "Bring the war home", gibt es zwei Möglichkeiten. Das heißt, viele Demonstrationen hier machen, oder das heißt, was die RAF dann gesagt hat, ernsthaft die Waffen nehmen.
Leggewie: Stadtguerilla …
Cohn-Bendit: Stadtguerilla oder andere. Wenn du das aber so formulierst, hast du eine politische Verantwortung. Du kannst nicht immer hier in Deutschland sagen, die Konservativen haben eine politische Verantwortung für den Nationalsozialismus, aber wir haben für nichts eine Verantwortung. Das geht nicht. Da muss man schon sehen, wie die Verselbstständigung einer Theorie zu was führen kann. Nicht muss, sondern kann. Und so ist es auch mit den Autonomen, so ist es auch mit denen, die hier, sagen wir, Straßenkampf geführt haben. Das ist nicht nur ein Spiel, sondern einige nehmen das anders ernst und machen was anderes draus. Und deswegen würde ich sagen, das ist aber ausgetragen worden. Ergebnis war dann, dass man zu den Grünen ging, dieses verlassen hat und eine ganz andere politische Ebene.
"Trump hält es fünf Minuten aus, mit dir zu diskutieren"
Leggewie: Also man hat das gelernt …
Cohn-Bendit: Einige haben gesagt, wenn der Fischer damals so war, dann ist er untragbar. Das ist genauso dumm wie auf der anderen Seite, ein ganz berühmter Fall, Hanns-Martin Schleyer. Hanns-Martin Schleyer war SS-Mann in Prag. Wäre er mit Heydrich in Prag von dem tschechischen Widerstand damals umgebracht worden, hätten die Geschichtsbücher geschrieben, so war es. Er wurde aber nicht. Dann kam er zurück. Dann wurde er ein anderer Mensch. Er wurde ein anderer Mensch und war ein mehr oder weniger sozialer Chef der Arbeitgeber. Und als er von der RAF ermordet wurde, war er das Opfer, und die RAF waren die für mich faschistoiden Täter. So kompliziert ist das Leben.
Leggewie: Ich hab den Eindruck, dass du dich in letzter Zeit nicht nur häufiger in Frankreich, sondern auch lieber in Frankreich aufhältst. Liegt das nur an dem Präsidenten dieser Republik, oder liegt das daran, dass es schon auch so eine sagen wir mal spontane oder langwierige Beheimatung dort gibt.
Cohn-Bendit: Was mich an dem Präsidenten fasziniert, ist, das ist eine der ersten politisch handelnden Personen auf dieser Ebene, mit der es sich lohnt, zu diskutieren. Wir haben drei Stunden diskutiert über alles, von Drogen über Godard bis natürlich Einwanderung, was wir gut, schlecht finden. Wir haben gestritten. Es geht immer sehr direkt, und das finde ich sehr spannend bei ihm. Das ist einer, der ein irres Selbstvertrauen hat, und der aber, wenn er in jemand Vertrauen hat, auch akzeptiert, dass man ihn in Frage stellt. Dann streitet er sich. Das finde ich bei ihm faszinierend. In Deutschland werde ich gemocht, und hier in Frankfurt ist meine Familie, mein Leben …
Leggewie: … mein Fußballverein …
Cohn-Bendit: Mein Fußballverein – wobei ich trotzdem noch immer für Frankreich immer bin gegen Deutschland und so weiter.
Leggewie: Darüber reden wir ja gerade.
Cohn-Bendit: Aber natürlich ist es in Frankreich unfassbar. Ich war neulich in einem Restaurant mit zwei "Le Monde"-Journalisten, und da haben wir diskutiert, die wollten wissen, wie ich die Sache einschätze. Da kamen immer Leute zu mir und sagten, wir wollten nur Danke sagen. Das passiert mir oft auf der Straße, und das ist natürlich erhaben. Und ich bin ein Mythos – und das ist angenehm.
Leggewie: Kann ich mal eine ganz provokante Frage stellen: Jemand wie du, der im besten Sinne ein Narziss ist, also einer, ein benevolenter Narziss – du bezeichnest dich selbst als Narziss in deinen Büchern, und es ist auch unbestreitbar – der also sein Ego durchaus pflegt, der damit aber Dinge ermöglicht, der Leute zusammenbringt und so weiter, das haben wir gerade schon besprochen. Kann so jemand mal einen malignen Narzissten wie Donald Trump erklären.
Cohn-Bendit: Warum wir Donald Trump nicht verstehen, ist, es ist ein Mensch, der hält es aus, mit dir zu diskutieren fünf Minuten …
Leggewie: Wenn überhaupt.
Cohn-Bendit: Nein, fünf Minuten schafft er gerade. Aber der schafft es nicht, transitionelle Gedankengänge zu gehen. Also, wenn du mit ihm diskutierst über Iran, und warum es unsinnig ist, diesen Vertrag aufzukündigen, auch wenn man was anderes, und was die Iraner, was nicht genügt – das versteht er nicht. Das ist ja schon zu komplex. Aber, und das ist sehr amerikanisch, er hat eine emotionale direkte Art, Leute, seine Leute anzusprechen. Im Grunde genommen mag er nicht die Leute, die er mobilisieren will. Er mag eh niemanden.
Leggewie: Außer sich selbst.
Cohn-Bendit: Außer sich selbst. Ich bin in Frankreich Mister Europa. Ich bin die Verkörperung einer europäischen Idee. Und dieser Bogen gibt mir eine unheimliche Möglichkeit. Ich hab ja einen Film gemacht jetzt –
Leggewie: Der heißt "La Traversée".
Cohn-Bendit: "La Traversée" mit einem Freund, Romain Goupil, und wir haben also wirklich 50 Begegnungen. Was interessant ist, ist, alle Leute sind freundlich. Es gibt ein Abendessen mit 25 Leuten vom Front National, und es gibt Imame und Leute in Betrieben und Bauern und alles Mögliche. Und die wollen alle mit mir reden. Die wollen mir was erklären. Das ist das, was mir in Frankreich gefällt.
Leggewie: Wann wird dieser Film zu sehen sein?
Cohn-Bendit: Der wird im Mai in Frankreich zu sehen sein.
Leggewie: Man muss auch über das Buch sprechen, das du gerade gemacht hast. Das heißt "Unter den Stollen" – damit sind Fußballstollen gemeint – "der Strand". Da würde nun ein autoritär-traditionalistischer 68er sagen, das ist ja ein unglaubliches Sakrileg. Es hieß damals "Unter dem Pflaster der Strand". Das war eben der utopische Spruch von '68, der ja um die Welt gegangen ist. Und jetzt kommt der nur noch mit Fußball. Was ist mit dem los? Der Cohn-Bendit schreibt ein Buch über die Geschichte des Fußballs von …
Neues Buch: "Lebensbiografie, die am Fußball sich abarbeitet"
Cohn-Bendit: Nein, über meine, nicht die Geschichte. Nein, nein. Es ist meine Geschichte, es ist rein persönlich, wie ich vom sechsten Lebensjahr bis heute den Fußball durchlebt habe, mit Höhen und Tiefen, und warum ich immer für Frankreich, gegen Deutschland bin. Und so weiter. Ich habe eine unheimliche – nicht Angst, aber ich – vor diesen 50 Jahren '68. Du hast ein irrsinniges Glück gehabt, dass du mich kennst, dass ich gesagt hab, okay, mit dir mach ich es noch mal, darüber zu reden. Aber ich will und nehme an nichts teil über '68. Und um das zu untermauern, habe ich zwei Projekte dann in Angriff genommen. Eines ist dieser Film, aber der geht über Frankreich heute. Zwei Altachtundsechziger schauen sich das Frankreich von heute an, und nicht, was war damals und so. Wir reden gar nicht über '68, außer eine kleine Episode, sondern wir reden über und zeigen, wie wir Frankreich durchquert haben heute. Und das Zweite war ein Buch über Fußball. Und um den Leuten zu sagen "ätsch-bätsch" – es ist, diesen Titel zu verdrehen. Und es ist eine Art Biografie. Es ist eine Lebensbiografie, die am Fußball sich abarbeitet. Und vielleicht werde ich ein Nächstes schreiben über das Judentum, mein Judentum, die immer auch als eine Lebensbiografie sich am Judentum abarbeitet. Und deswegen finde ich es witzig. Ich bin mal gespannt, wie die Medien, denn die wollen alle, dass ich jetzt zu Diskussionen zu '68, da sage ich immer Nein, wie sie das machen, wenn das Buch jetzt im April herauskommt. Die werden alle versuchen, mich auf '68 festzunageln. Ich werde über das Buch und Fußball reden. Wollen wir mal sehen, was da rauskommt.
Leggewie: Ich hätte noch zwei Themen am Schluss. Eigentlich war das jetzt ein sehr schön optimistischer Schluss, der total gut zu '68 passt, und der ja auch irgendwie zeigt, dass es irgendwie falsch ist, ohne solche soziale Utopien zu leben. Wir brauchen welche, es ist nötig. Der Mensch braucht so etwas zum Leben auch. Und deswegen muss man immer wieder Realist sein und das Unmögliche fordern. Zwei Sachen noch: Ein Buch von '88 hieß "Die letzte Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wusste". Man könnte auch einsetzen "die nichts vom Klimawandel wusste". Was '68 und die Akteure von damals, egal, wo sie jetzt standen, sehr stark mit der Gesellschaft verbunden hat, gegen die sich auflehnten, war die Verankerung in der industriellen Moderne. Da gab es keine ökologische Schäden, da war man noch für Atomkraftwerke, weil die die Produktivkräfte stärkten. Das würde auch das Sozialismusbild, das man heute sich vorstellen könnte, wenn man noch so weit käme, verändern.
Cohn-Bendit: Ja, das war noch in der Tradition von Karl Marx. Das heißt, der Kapitalismus begrenzt, fesselt die Entwicklung, und die Revolution entfesselt die Entwicklung. Und deswegen, ja, wir haben sehr – es war der Kommunismus, oder die Vorstellungen waren sehr produktivistisch. Im Grunde genommen gab es unterschiedliche Utopien in dieser Zeit. Wir haben ja über diese maoistische, trotzkistische – es gab eine Utopie, die die Libertären und Teile der Linkssozialisten, die Utopie der Selbstverwaltung, die dann im Grunde genommen ein Denker herausgearbeitet hat, André Gorz, der die Verbindung von Sozialismus und Ökologie mit als Erster formuliert hat. Zum Teil als Journalist, Michel Bosquet, "Nouvel Observateur", und als Schriftsteller. Und das war die Post-68-Entwicklung, richtig. Diese Utopie der Selbstverwaltung, das heißt, einer anderen Gleichheit, ist meiner Meinung nach – und das fehlt einem Macron zum Beispiel total – ist in der Marktwirtschaft nur zu realisieren. Das heißt, man kann sich, und der Übergang zwischen Selbstverwaltung und Mitbestimmung – das ist ja eine Idee, und ich finde, dass 50 Jahre nach '68 die IG Metall diesen Tarifabschluss geschlossen hat, ist sensationell. Denn das ist, diese Idee, die persönliche Freiheit, die persönliche Autonomie, das heißt die Flexibilität ist nicht eine von den Betrieben aufgezwungene Flexibilität, sondern es ist ein Wunsch der, sagen wir, Lohnabhängigen, der arbeitenden Menschen, selbst zu bestimmen, wann sie welche Flexibilität sich wünschen für ihre Arbeit. Ob sie mal zwei Jahre 28 Stunden oder diese … auch was die mit beschlossen haben, das heißt, bestimmte Prämien, 1.200 Euro im Monat, dass sie die nicht nehmen für acht Tage mehr Ferien im Jahr, ist auch sensationell. Das ist der Beginn, der Einstieg im 21. Jahrhundert. Die Flexibilität als ein Recht, als ein Menschenrecht derjenigen, die arbeiten. Das finde ich sensationell. Und es ist, wenn man richtig guckt, eine Vollendung dessen, was angedacht wurde '68 und danach.
Leggewie: Danke!
Cohn-Bendit: Bitte!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Hinweis
Die erste Hälfte des Gesprächs wurde am 15.04.2018 in der Sendung "Essay und Diskurs" ausgestrahlt. Dort finden Sie ebenfalls ein Transkript sowie beide Teile zum Nachhören im Ganzen für ein halbes Jahr nach Sendetermin.
Die erste Hälfte des Gesprächs wurde am 15.04.2018 in der Sendung "Essay und Diskurs" ausgestrahlt. Dort finden Sie ebenfalls ein Transkript sowie beide Teile zum Nachhören im Ganzen für ein halbes Jahr nach Sendetermin.