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Vom Rheinland in den Vatikan
Die Politikerin und Diplomatin Annette Schavan

Landesministerin, Bundesministerin, Rücktritt nach Plagiatsvorwürfen und nun deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl. Annette Schavan kann auf viele Stationen blicken. Im Zeitzeugengespräch berichtet die rheinische Katholikin und Freundin von Kanzlerin Angela Merkel über ihr Leben.

Annette Schavan im Gespräch mit Stephan Detjen |
    Bildungsministerin Annette Schavan (CDU) steht am 09.02.2013 im Bundeskanzleramt in Berlin bei einem Pressestatement, um den Rücktritt als Bildungsministerin bekanntzugeben.
    Annette Schavan am 9.2.2013 bei der Bekanntgabe ihres Rücktritts als Bundesbildungsministerin. (Michael Kappeler, dpa picture-alliance)
    Annette Schavan kennt die katholische Kirche so gut, dass man sie Äbtissin nannte, als sie noch Ministerin war. Seit Juli 2014 ist sie Botschafterin Deutschlands beim Heiligen Stuhl. Diplomat im Vatikan ist nicht der bedeutendste, aber ein begehrter Posten, und die gläubige Katholikin ist die erste Frau in diesem Amt.
    1955 in Jüchen am Niederrhein geboren, tritt Schavan bereits als 18-Jährige der CDU bei. Sie ist Abteilungsleiterin beim Generalvikariat in Aachen, Bundesgeschäftsführerin der Frauenunion, Geschäftsführerin bei der bischöflichen Studienförderung beim Cusanuswerk. 1995 dann der Wechsel in die Politik. Sie wird Kultusministerin in Baden-Württemberg. Zehn Jahre später übernimmt sie das Bundesministerium für Bildung und Forschung in Berlin.
    Hightech-Strategie, Exzellenzinitiative, Hochschulpakt, Pakt für Forschung und Innovation – Schavan greift Themen auf, die ihr für die Wissenschaftslandschaft bedeutsam schienen. Sie gilt als enge Vertraute von Angela Merkel, mehr noch: es ist echte Freundschaft, die sie mit der Bundeskanzlerin verbindet. Im Februar 2013, als Schavan über eine Plagiatsaffäre ihren Doktortitel und das Ministeramt verlor, stand die Duz-Freundin an ihrer Seite, was Bundeskanzler bei Rücktrittserklärungen eigentlich nie tun.
    "Die Debatte über würdiges Sterben, der Ausbau der Palliativmedizin, der Hospizbewegung, im deutschen Bundestag, stößt hier auf großes Interesse"
    Stephan Detjen: Frau Schavan, wie geht es dem Papst?
    Schavan: Die Begegnungen, gerade auch der letzten Wochen, zeigen einen Mann voller Tatkraft, ein Mann mit großer Aufmerksamkeit für Menschen, und die spüren das, und deshalb ist ja auch seine Ausstrahlung längst weit über die katholische Welt hinaus.
    Detjen: Das ist ja eine Frage, wie geht es dem Papst, die müssen Sie sozusagen auch von Berufs wegen beantworten als Botschafterin der Bundesrepublik beim Heiligen Stuhl, so ist der offizielle Titel als Botschafterin, so hat man das früher gesagt, kabelt man dann Berichte ans Auswärtige Amt – was berichten Sie da, was kabeln Sie, und was interessiert im Auswärtigen Amt aus dem Vatikan?
    Schavan: Ja, zunächst ist der internationalen Politik, das heißt auch den Außenministerien in Europa, ja in den letzten Monaten deutlich geworden, wie stark Religion und Religionsvertreter öffentlich präsent sind und internationale Politik ohne Verständnis für das, was da sich entwickelt, was an neuer Präsenz entsteht, schwerlich möglich ist. Von daher gibt es Interesse, weil mancher hat am Anfang auch zu mir gesagt, ob die sich jemals interessieren für irgendeinen Bericht aus dem Vatikan, muss man mal offen lassen – nein, da ist ein neues Verständnis auch entstanden, immer mehr Religionsführer wissen, es gibt keinen Frieden in der Welt ohne den Frieden der Religionen.
    Deutsche Interessen und der Vatikan
    Detjen: Ja, Sie sagen, es gibt Interesse. Gibt es auch Interessen, deutsche Interessen, die Sie hier als Botschafterin vertreten?
    Schavan: Die Interessen Deutschlands sind am ehesten zu beschreiben als Wege, Verständnis zu wecken für Entscheidungen, die wir treffen. Die Debatte über würdiges Sterben, der Ausbau der Palliativmedizin, der Hospizbewegung, im deutschen Bundestag, stößt hier auf großes Interesse. Da möchte man Genaueres wissen, und umgekehrt ist es für ein deutsches Parlament, einer deutschen Regierung interessant, zu vermitteln, was für Werte und Grundhaltungen sind damit verbunden, in welche Tradition stellen wir uns, und welche Rolle sind wir auch bereit, in Europa zu übernehmen – ethische Frage, kulturelle Fragen, aber natürlich auch die Frage der Friedens- und Flüchtlingspolitik sind bei beiden Partnern gerade ganz oben auf der Tagesordnung, wie man so schön sagt. Da gibt es viel Austausch.
    Detjen: Das deutet darauf hin, diese Kirche ist eine Weltkirche, sie ist auch immer gewesen eine globale Macht, auch diplomatisch, es gibt eine legendäre vatikanische Diplomatie bis in unsere Zeit. Der Vatikan hat zum Beispiel bei der Annäherung der USA und Kubas eine große diplomatische Rolle gespielt. Wie nehmen Sie das wahr, den Vatikan als politische, als diplomatische Macht?
    Diplomatie der langen Linien
    Schavan: Das ist Diplomatie der langen Linien. Wenn Sie USA und Kuba ansprechen, dann haben wir uns ja, als es dann soweit war, erinnert, dass schon Papst Johannes Paul II. in Havanna war, damals die große Rede gehalten hat über das Verhältnis von Religion und Staat, diesen zentralen Satz gesagt hat, weder mit dem Atheismus noch mit einer Religion lässt sich Politik machen, es braucht Raum für die Religion, es braucht ein soziales Klima, das der Zivilgesellschaft Möglichkeiten der Gestaltung gibt, und dann über viele Jahre gibt es Gespräche, Verhandlungen. Da wird nicht auf Schnelligkeit gesetzt, da wird nicht auf Publizität gesetzt, sondern auf lange Linien, auf die Kontinuität von Prozessen.
    Detjen: Wie nimmt man das als Diplomatin hier wahr, also wie informiert man sich da in diesem Vatikan? Geht man da hin in den Papstpalast? Wo betreibt man da Diplomatie, am Sonntag nach der Messe, in der Osteria, am Rande der Vatikanstadt?
    Schavan: Nun, das ist vermutlich nicht viel anders wie in jeder Botschaft. Wir suchen das Gespräch. Da kommen Akteure in die Residenz, man trifft sich ganz bewusst zu bestimmten Themen, um sich auszutauschen, weil besser als jedes Papier ist das unmittelbare Gespräch, oder ich fahre in den Vatikan, in die verschiedenen Behörden, führe dort Gespräche, stelle meine Fragen oder berichte auch über das, was sich bei uns tut, und es gibt die päpstliche Akademie, es gibt eine Reihe päpstlicher Universitäten in Rom. Auch da finden immer wieder Foren statt, in denen deutlich wird, das ist ein internationaler Partner, das ist ein Partner, der den internationalen Austausch pflegt, das Gegenüber ist immer Weltkirche.
    Der Papst als Erneuerer
    Detjen: Aber eben auch in ihrer ganzen Vielfältigkeit. Manche Leute sagen auch, das ist ein rechter Intrigantenstadl, dieser Vatikan, der Papst hat Gegner – nehmen Sie auch das wahr, diese Seite des Vatikans?
    Schavan: Wer verändern will, wer eine Institution in Bewegung versetzen will, hat natürlich Gegner. Da geht es dem Papst nicht anders wie jedem führenden Menschen in einem Unternehmen oder in der Politik. Ja, die andere Seite ist aber auch, er hat glühende Unterstützer, er hat in der Kurie Mitarbeiter mit viel internationaler Erfahrung. Wer da Kardinalstaatssekretär oder eben Außenminister oder Präsident des Rates für den interreligiösen Dialog ist, das sind Priester, die ihr Leben in der Welt verbracht haben, auf allen Kontinenten und nun mit einem Erfahrungsschatz zurückkommen, den wir uns kaum vorstellen können aus dem, was wir aus der nationalen Politik kennen.
    Papst Franziskus spricht beim Weltjugendtag in Krakau 2016.
    Papst Franziskus, nicht zuletzt mit seinem Wirken setzt sich Annette Schavan als Botschafterin im Vatikan auseinander. (picture alliance/dpa - Daniel Dal Zennaro)
    Detjen: Was ist es, was sich unter dem neuen Papst, nach Ihrer Wahrnehmung, verändert hat im Vatikan?
    Schavan: Papst Franziskus hat schon vor seiner Wahl in Vorkonklave eine Rede gehalten, in der er sehr kritisch auf die Kirche geschaut hat. Er hat von theologischem Narzissmus gesprochen. Er hat klar gemacht, wenn ihr mich wählt, dann beginnt ihr mit mir einen Weg der Veränderung dieser Kirche, auf dass sie sensibler, aufmerksamer für das wird, was sich in der Welt tut. Wir halten uns nicht auf in den Milieus, in denen es vor Wohlstand und Stabilität strotzt, sondern Kirche muss da sein, wo die ganze Fragilität des Lebens, wo Gefährdung, wo Not präsent ist, und wir sind diejenigen – das Christentum, die Kirche –, die Antworten finden muss auf die Not der Menschen. Wenn ich es in einem Satz sagen sollte: Auch in der Theologie, in der christlichen Ethik sprechen wir viel über das Verhältnis von Wirklichkeit und Idee. Wie oft diskutieren wir darüber, ob die Wirklichkeit sich irgendwie mit der Idee in Verbindung bringen lässt. Der Papst, seit seinen ersten Veröffentlichungen, fragt immer wieder, und zwar die Institution, aber auch jeden einzelnen Christen, wie steht eigentlich die Idee im Verhältnis zur Wirklichkeit, also bewähren sich unsere Ideen, bewähren sich unsere Überzeugungen im Blick auf die Wirklichkeit der Welt, wie sie heute ist.
    Detjen: Diese Haltung, diese Einstellung, auch diese Veränderungsdynamik, die von dem Papst Franziskus ausgeht, die beunruhigt viele Menschen, auch in Deutschland. Sie waren neulich zu Gast in Ihrer Heimat, in Neuss, glaube ich, war das, bei einer Veranstaltung, die unter der beunruhigten Frage stand, wie links ist der neue Papst – was haben Sie geantwortet?
    Schavan: Das ist keine Kategorie, unsere politischen Unterscheidungen von rechts und links. Nein, dieser Papst steht über diesen Kategorien. Manche sagen, er ist radikal. Ich sage, er ist konsequent. Er lässt uns nicht durchgehen, dass wir eine wunderbare Rhetorik entwickeln über unsere Überzeugungen. Er will, dass das, wovon wir überzeugt sind, sich klärt im Blick auf die Wirklichkeit, die Wirklichkeit uns interessiert und nicht, wie wir die Idee vor der Wirklichkeit schützen können.
    Besuche beim emeritierten Papst Benedikt
    Detjen: Haben Sie Kontakt zum emeritierten Papst?
    Schavan: Ich besuche ihn hin und wieder. Manchmal gehe ich auch mit Gästen aus Deutschland zu ihm. Er lebt ja in den vatikanischen Gärten, und es sind immer wieder inspirierende Begegnungen.
    Detjen: Wie geht es Benedikt?
    Schavan: Ich denke, es geht ihm gut. Er ist nun 89 Jahre, und wenn man mit ihm ins Gespräch kommt, dann spürt man, er ist nach wie vor ganz präsent und erinnert einen dann an viele Details, die man selbst vielleicht gar nicht mehr so präsent hatte.
    "Manche werfen ihm eine gewisse Leichtigkeit vor – das mögen die Rheinländer überhaupt nicht, weil das, was leicht wirkt, ziemlich schwer sein kann"
    Detjen: Frau Schavan, Sie sind die zweite deutsche Spitzenpolitikerin, die nach einem Rücktritt von einem hohen Amt in der Bundesrepublik deutsche Botschafterin beim Heiligen Stuhl wird hier in Rom. Vor Ihnen war das der ehemalige Bundesminister und Bundestagspräsident Philipp Jenninger – ist dies hier, diese schöne Residenz in Rom, in der wir hier gerade sitzen, ein Ort, an dem alte Verwundungen und Verletzungen gut ausheilen können?
    Schavan: Rom und dieses Amt und die damit verbundenen Aufgaben sind sehr geeignet, Abstand zu finden, neue Lebensphasen zu beginnen, gleichzeitig Erfahrung einzubringen. Ich glaube, das ist hier ein Amt, in dem politische Erfahrung, in dem überhaupt Erfahrung mit dem, was an Entwicklungen sich über Jahrzehnte ereignet, jedenfalls wertvoll ist.
    Detjen: Sie sind ja Botschafterin, weil Sie nach Plagiatsvorwürfen gegen Ihre Dissertationsschrift zurückgetreten sind. Darüber werden wir vielleicht noch später sprechen, aber lassen Sie uns jetzt einfach mal die Zeit ein ganzes Stück weiter zurückgehen. Als diese Vorwürfe Ende 2012 laut wurden, haben Sie sich noch mal in diese frühe Dissertationsschrift aus dem Jahr 1980 vertieft. Sie haben – das haben Sie erzählt – alte Notizen, Zettelkästen, Manuskripte wieder herausgekramt. Das war ja auch eine Wiederbegegnung mit einer jungen Annette Schavan im Jahr 1980, einer damals 25-jährigen Doktorandin. Was haben Sie da über sich selber wiederentdeckt?
    Der rheinische Katholizismus
    Schavan: Ich habe nachlesen können, wie mich schon damals Fragen interessiert haben, die mich mein ganzes berufliches Leben begleitet haben. Die Frage nach der Gewissenhaftigkeit und die Frage, wie Erziehung zu Gewissenhaftigkeit oder Begleitung junger Menschen möglich ist, sodass sie aufmerksam für die Fähigkeit ihres Gewissens werden. Auch die Frage, wie Menschen ihre Freiheit wahrnehmen, Freiheit mit Verantwortungsbewusstsein verbinden, und das hat in meinem ganzen beruflichen Leben zunächst im Cusanuswerk, in der kirchlichen Bildungsarbeit, der kirchlichen Begabtenförderung, und später in der Politik eine Rolle gespielt. Ich habe viel Kontinuität entdeckt, auch wenn ich das damals anders formuliert habe, aber es hat für mich eine Rolle gespielt, wie ist das möglich, dass Menschen, das, was in ihnen steckt, dass Menschen ihre Talente, ihre Kräfte entdecken, damit verantwortungsbewusst umgehen und sich orientieren an einem inneren Kompass, den wir Gewissen nennen.
    Detjen: Diese Prägungen entstanden, haben vermutlich etwas mit Ihrer Heimat zu tun. Sie sind in Neuss geboren und aufgewachsen. Das ist die Region, die man mit dem Begriff des rheinischen Katholizismus in Verbindung bringt, und man kann diese Bundesrepublik, die alte Bundesrepublik, wahrscheinlich gar nicht verstehen, wenn man nicht versteht, was dieser rheinische Katholizismus, der am Anfang der Bundesrepublik Adenauer so prägend war, was dieser rheinische Katholizismus ist. Was ist es, wie würden Sie es erklären?
    Schavan: Der rheinische Katholizismus meiner Jugend – ich bin Jahrgang 55, das heißt, bewusst wahrgenommen habe ich diesen Katholizismus vor allem im Anschluss an das zweite vatikanische Konzil – wollte kulturprägend sein, hat immer Interesse für das Öffentlich gezeigt. Manche werfen ihm eine gewisse Leichtigkeit vor – das mögen die Rheinländer überhaupt nicht, weil das, was leicht wirkt, ziemlich schwer sein kann. Der rheinische Katholik hat nicht zunächst eine dogmatische Ausstrahlung. Er hat …
    Detjen: Er ist ein Pragmatiker.
    Schavan: So nennen es die einen. Die anderen sagen, das ist Verantwortungsethik: sie wägen ab, sie haben viel Verständnis für den Menschen und die vielen Lebenslagen, die hochkompliziert sind, vor allem aber damals in der Zeit der jungen Jahre der Bundesrepublik ist von diesem rheinischen Katholizismus eine große Gestaltungskraft ausgegangen.
    Detjen: Gibt es Figuren im Raum dieses rheinischen Katholizismus, die Sie besonders geprägt haben, die Sie besonders damit in Verbindung bringen?
    Schavan: Es sind für mich vor allen Dingen Priester gewesen, der Pastor meiner Gemeinde, der Jugendkaplan, die später große Verantwortung im Erzbistum übernommen haben, das war der späte Norbert Feldhoff, der spätere Generalvikar und Dompropst, Heinz Werner Ketzer, der Dompropst. Also das sind Figuren meiner Kindheit und Jugend, von denen ich noch sehr genau in Erinnerung habe, dass deren Vorstellung nicht eine Kirche war als Gegenwelt, sondern eine Gemeinde, eine Kirche, die Interesse zeigt an der Gestaltung des Gemeinwesens. Vergessen wir nicht, das war ja auch eine Zeit schon weit vor dem Konzil, in der etwa ein Katholik wie Heinrich Böll, der wahrlich nicht zu den CDU-Mitstreitern gehörte, gesagt hat, mir ist die schlechteste christliche Welt lieber als eine heidnische, weil die christliche Welt Raum gibt für die Armen und Kranken und Alten, damals die Krüppel, die aus dem Krieg kamen, da ist Raum für sie, da ist Liebe, und das ist eine tragende Kraft für unsere Zivilgesellschaft. Es gab so einen unausgesprochenen Konsens: keine Kraft ist so stark gegen alles Totalitäre wie das Christentum, und das war spürbar, nicht nur im Rheinland, aber der rheinische Katholizismus hat es doch immer wieder sehr stark auch formuliert.
    Der Schriftsteller Heinrich Böll in seiner Wohnung in Köln, Dezember 1977. Böll gehörte zu den bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Im Jahr 1972 erhielt er den Literatur-Nobelpreis.
    Der Schriftsteller Heinrich Böll, hier im Dezember 1977 in Köln - auch ihn verbindet Annette Schavan mit dem rheinischen Katholizismus. (picture alliance / dpa / Heinz Wieseler)
    Detjen: Also der rheinische Katholizismus, wenn man das so auf den kurzen Satz bringen kann, ist ein Katholizismus, eine Kirche, ein Glauben, der ausgesprochen in der Welt steht. Was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie den Papst Benedikt am Ende des Deutschlandbesuchs in der Freiburger Universität gehört haben bei seiner Rede, als er eine Entweltlichung der Kirche gefordert hat – da müssen Sie eigentlich als rheinische Katholikin in dem Sinne ziemlich zusammengezuckt sein.
    Schavan: Ja, rheinische Katholiken mögen die Welt, sie stehen mitten in der Welt, das stimmt schon, aber sie wissen natürlich auch von der Aussage in der Welt, aber nicht von der Welt, und die Entweltlichungsthese von Benedikt ist ja keine Erfindung von ihm, sie ist eine These, die schon Bultmann formuliert hat, die übrigens auch der jetzige Papst aufgreift. Ja, daran reiben sich rheinische Katholiken. Als ich es damals hörte, war ich erst ein bisschen entsetzt, weil der Saal voller aktiver Katholiken war, Katholiken engagiert im öffentlichen Leben, aber wie das manchmal so ist, es ist natürlich schon ein Stachel: Wie wirken wir in der Welt, ohne uns von den Gesetzen abhängig zu machen. Wie sind wir wirksam, ohne dass es eine Wirksamkeit wird, die nur daraus entsteht, dass ich irgendeinem Trend folge.
    "Wir haben voneinander gelernt: sie, was das ausmacht für eine christlich-demokratische Union, wenn 75 Prozent der Mitglieder katholisch sind."
    Detjen: Irgendwann Anfang der 90er-Jahre trifft die rheinische Katholikin Annette Schavan auf die ostdeutsche Protestantin Angela Merkel, und aus dieser Begegnung ist dann eine politische, aber auch eine persönliche, freundschaftliche Beziehung – das haben Sie beide oft gesagt – geworden. Ich vermute, dass diese Beziehung auch für Angela Merkel besonders wichtig ist, weil Sie ihr ein Stück über diese Prägung der alten Bundesrepublik erklären, mitteilen konnten. Was, würden Sie sagen, hat Angela Merkel, konnte Angela Merkel von Ihnen lernen?
    Schavan: Wir sind uns bewusst 1996 begegnet bei einem Bundesparteitag in Leipzig. Angela Merkel hat über die Erfahrungen mit der deutschen Wiedervereinigung aus ostdeutscher Perspektive gesprochen, und ich hatte den Part aus westdeutscher Perspektive. So, das ist gleichsam der Beginn einer bewussten Wahrnehmung. Wir haben voneinander gelernt: sie, was das ausmacht für eine christlich-demokratische Union, wenn 75 Prozent der Mitglieder katholisch sind. Das ist die Verfassung der CDU, über Jahrzehnte gewesen. Manche haben dann gesagt, spätestens mit der Wiedervereinigung wird es sich ändern, aber natürlich hat es nachgewirkt, was gehört zum Kern dieser katholischen Welt, wo äußert sich das Katholische im Politischen, wo sind aus der katholischen Soziallehre zentrale Grundhaltungen und Werte in die Gründungsgeschichte der CDU eingeflossen. Über solche Fragen wir viel gesprochen. Auch darüber – das fand ich immer einen faszinierenden Gedanken –, dass die CDU bei aller katholischen Prägung anfangs doch vor allem ein ökumenisches Projekt gewesen ist. Wir haben uns viel ausgetauscht über diese Frage, wie setzt man dieses ökumenische Projekt fort, was bedeutet das dann jetzt im 21. Jahrhundert.
    Die CDU und das "C"
    Detjen: Was ist die Antwort darauf in einer Situation, wenn Sie auf das 21. Jahrhundert ansprechen, dann heißt das ja für eine christlich geprägte Partei, christliche Partei, zu sein in einer Zeit, in der die Bedeutung des Christentums abnimmt?
    Schavan: Na ja, ich bin geneigt, zu sagen, dieses ökumenische Projekt war nie so wertvoll wie heute, denn ich sage es mal in drei Phasen: die erste Phase war die, die ich eben geschildert habe, am Beispiel Heinrich Böll, Die, die CDU gegründet haben, waren davon überzeugt, keine geistige Kraft ist so stark gegen alles Totalitäre wie das Christentum. Dann gab es aber auch eine lange Zeit, in der uns immer wieder gesagt wurde, ihr müsst euch jetzt verabschieden vom C. Das ist ja interessant, das beschreibt den Glauben von Menschen, das wird aber dauerhaft nicht politisch relevant sein.
    Vor dem Bundesparteitag: In Karlsruhe wehen CDU-Fahnen im Wind.
    Vor dem Bundesparteitag: In Karlsruhe wehen CDU-Fahnen im Wind. (picture-alliance / dpa / Michael Kappeler)
    Detjen: Es gibt ja viele, die sagen, die CDU hat sich unter Merkel, und manche sagen dann hinzu unter Schavan, auch vom C verabschiedet.
    Schavan: Das sind diejenigen vor allem, die mit der einen oder anderen Entscheidung nicht einverstanden sind oder aber davon überzeugt, dass christlich gleich konservativ ist. Ich sage, christlich heißt, auf dem Weg bleiben, sich bewegen, sich verändern, nicht so tun, als hätten wir in dem, was bislang geschehen ist, schon die ganze Wahrheit aufgegriffen. Das ist eine heftige Diskussion, immer wieder gewesen: wie viel Veränderung verträgt das C.
    Detjen: Darf ich noch mal fragen, lagen dann die oder liegen diejenigen falsch, die sagen, die CDU ist nicht deswegen eine konservative Partei, weil sie christlich konservativ ist, sondern sie ist eine christliche und eine konservative Partei?
    Schavan: Ich formuliere es so: Sie ist vor allem eine christdemokratische Partei, und das Moment des Konservativen oder die Grundhaltung des Konservativen ergibt sich daraus, dass wir um den Wert von Traditionen wissen, nicht so schnell einfach hin und her springen, gleichwohl aber Zeichen der Zeit erkennen müssen. Das macht sozusagen das Lebenselixier dieser Volkspartei aus, dass sie gerade jetzt in der Zeit von Angela Merkel als Parteivorsitzender sich dieser Aufgabe gestellt hat, nicht stehen zu bleiben, Zeichen der Zeit zu erkennen, zu reagieren, wohl wissend, dass damit auch Widerstand verbunden ist. Das ist im Christentum so: seit den ersten Tagen des Christentums gibt es dagegen Widerstand. Immer gab es Situationen, in denen das Christentum angeeckt ist, in denen Menschen, die eine bewahrende Grundhaltung vor allem haben, die im Bewahrenden auch den Wert auch ihrer Überzeugungen zum Ausdruck bringen, irritierend fanden, was da von Christen geschieht. Die Benediktiner haben Europa kultiviert – das war mit Veränderungen verbunden.
    Entwicklungen im Parteiensystem
    Detjen: Aber nun ist ja das … wenn man es wirklich jetzt ganz parteipolitisch anschaut das Phänomen, dass es nicht nur Kritik gibt, sondern es gibt Abspaltungen, die CDU erlebt in Teilen das, was die SPD nach den Agendareformen von Schröder erlebt hat, sozusagen die AfD ist die Quittung, die die CDU jetzt bekommt, dafür, dass sie auch in der eigenen Anhängerschaft viele nicht mitnehmen konnte.
    Schavan: Ich sehe die AfD nicht als Quittung für die CDU, weil sie Stimmen aus allen Parteien bekommt. Da ist eine Veränderung in der politischen Kultur, die jetzt angenommen werden muss. Im Blick auf Wahlen ist das ein ziemlich ungemütliche Situation, aber sie steckt voller Chancen, zu sagen, wofür wir stehen, worauf wir nicht verzichten, und das mit Ausdauer und Geduld.
    Detjen: Voller Chancen, sagen Sie, aber natürlich auch voller Risiken. Wir reden hier in Rom miteinander, in Italien sind Parteien, auch die christliche Partei in Italien, große Tradition – die sind einfach von der politischen Bühne verschwunden. Kann das in Deutschland auch passieren?
    Schavan: Niemand von uns weiß, was alles möglich ist, aber Tatsache ist ja, dass die CDU in den Augen vieler, auch solcher, die die Parteienlandschaft besprechen, nach wie vor in einer Weise Volkspartei ist, wie keine andere, und das ist die Chance dieser Stunde. Das ist der beste Schutz gegen Zerfallsgeschichten, sich nicht auf dieses oder jenes Milieu zu konzentrieren, sondern deutlich zu machen, jetzt gerade bewahrheitet sich, dass das Christentum keinerlei Merkmale von identitären Bewegungen hat, sondern eine universale Angelegenheit ist, und wenn ich das dann auf einen zentralen Punkt konzentrieren muss, dann ist doch die zentrale Botschaft des Christentums die Größe des Menschen, seine Würde, seine Freiheit, und die Aufgabe der Politik, Sorge dafür zu tragen, dass seine Würde, seine Freiheit, seine Größe gewahrt wird und nicht kleingemacht wird, nicht unterdrückt wird.
    "Gott im Haus der Wissenschaft – das ist nicht so abwegig, wie manche glauben"
    Detjen: Lassen Sie uns, Frau Schavan, noch mal auf Ihre Biografie zu sprechen kommen: Wir haben eben über Ihr Verhältnis zu Angela Merkel gesprochen. Welche Rolle hat es für Sie, aber auch für Sie beide für Ihr Verhältnis gespielt, dass Sie sich beide in einer ja lange sehr männerdominierten Partei und politischen Landschaft überhaupt durchsetzen mussten?
    Schavan: Na ja, ich kam ja auch noch aus beruflichen Phasen in der katholischen Kirche, wo das auch nicht viel besser war als in der CDU. Darüber haben wir interessanterweise nie …
    Detjen: Da ist die CDU inzwischen weiter als die katholische Kirche.
    Schavan: Das ist so. Darüber haben wir nie viel gesprochen, aber wir wussten, das verändert man nicht durch Debatten, sondern das ändert sich nur durch Ermutigung von Frauen für die Politik, für prägende Aufgaben, dazu muss man gute Personalpolitik machen, und es muss deutlich werden, das ist eine Partei, eine Volkspartei, die die Lebenswirklichkeit von Frauen und Männern gleichermaßen wahrnimmt.
    Frauen in der Politik
    Detjen: Sie sagen, Sie haben da nicht viel drüber gesprochen mit Merkel, das ist kein Thema für Sie gewesen, über das man explizit gesprochen hat, dass Sie es da mit Männerbündnissen, mit Beamtenpack zu tun hatten, dass Sie es zum Teil mit ausgesprochen machistischem Verhalten zu tun hatten?
    Schavan: Na ja, die Wiedervereinigung hat ja die Pläne bisheriger Männerbünde ziemlich rasch verändert. Es hat konkrete Situationen gegeben, natürlich, in denen es eine Rolle spielte, aber das vorrangige Thema ist doch immer gewesen, wie in so einer neuen Konstellation deutscher und europäischer Wiedervereinigung und angesichts der vielen Debatten, die ja geführt worden, ob das jetzt mit dem C überhaupt noch zukunftsfähig ist und ob eine Volkspartei zukunftsfähig ist, das waren die Fragen, und Angela Merkel hat ja nie große Reden gehalten darüber, dass da eine Frau die Vorsitzende ist, eine Frau Bundeskanzlerin ist. Manchmal hat sie ja auch so den Eindruck erweckt, das hat jetzt eigentlich gar keine Rolle gespielt. Ob das nun wirklich so ist, lasse ich mal dahingestellt sein, es hat jedenfalls der CDU eine riesengroße Chance gegeben, diesen Schritt zu tun.
    Detjen: Haben Frauennetzwerke für Sie eine Rolle gespielt in Ihrer Karriere, spezifische Frauennetzwerke?
    Schavan: Nein, Frauen haben in meiner Generation noch nicht wirklich Netzwerke gehabt. Es waren wenige …
    Detjen: Ist das ein Fortschritt, dass es das heute gibt, dass sich Frauen anders, besser vernetzen miteinander?
    Schavan: Das ist für junge Frauen ein ganz wichtiger Punkt, dass es sie jetzt gibt, dass man auch dazu steht, denn die Frage, welche Beziehung entwickeln zu einer Volkspartei, zum politischen Alltag, hat ganz wesentlich vor allen Dingen jetzt in der jungen Generation damit zu tun, wirklich auch zu erkennen, was für Möglichkeiten, was für Kraft in politischer Kultur stecken kann.
    Die Wissenschaftspolitikerin Annette Schavan
    Detjen: Lassen Sie uns über Wissenschaft, über die Wissenschaftspolitikerin Annette Schavan sprechen. Sie haben mal in einer Rede den schönen Satz gesagt, der Glaube braucht das Denken, um sich treu zu bleiben. Das sagt was über die Wissenschaftspolitikerin Annette Schavan aus. Lag Ihnen als Kultusministerin in Baden-Württemberg, als Wissenschaftsministerin in Berlin, die Theologie deswegen besonders am Herzen?
    Schavan: Ja, das ist für die Religionen existentiell bedeutsam: Wege der Klärung und Aufklärung über die Theologie. Die Theologie der Religionen ist ein hohes Gut, das Religion auch davor bewahrt, vereinnahmt zu werden für anderes, für Machtansprüche, für Gewalt, für Terror. Deshalb fand ich immer, dass die theologischen Fakultäten in Deutschland ein hohes Gut sind. Deshalb habe ich die Institute für islamische Theologie an fünf Universitäten eingerichtet oder habe angeboten, dass wir das fördern. Schon heute gibt es in Münster an diesem Institut für islamische Theologie tausend Studierende, und wir werden es bald erleben, wie sich das Interesse an den unterschiedlichen Theologien entwickelt. Das ist eine in wenigen Jahren unglaublich erfolgreiche Geschichte geworden. Ja, Gott im Haus der Wissenschaft – das ist nicht so …
    Detjen: Auch der Titel eines Vortrags von Ihnen.
    Schavan: Das ist nicht so abwegig, wie manche glauben, und deshalb hoffe ich, dass das gelingt, nicht nur in Deutschland, sondern Europa ist der Kontinent – davon bin ich überzeugt –, der ja eine lange Tradition hat mit der Theologie. Das ist ein Grundpfeiler gewesen in der Tradition der europäischen Universität.
    Detjen: Gott im Haus der Wissenschaften heißt, auch vor dem Hintergrund, von dem Sie gerade geschildert haben, es ist eben nicht der christliche Gott, es ist – jedenfalls da, wo das Gottesverständnis in der Wissenschaft wächst –, ist es der islamische Gott, der muslimische Gott, auch der jüdische, aber nicht der christliche. Die Zahl der Studierenden an den christlichen Fakultäten geht ja zurück.
    Schavan: Über 80 Prozent der Menschen, die heute leben, sagen von sich, sie seien glaubende Menschen. Das ist eine Realität, und dahinter steht eine große Bandbreite dessen, was sie glauben. Daran kann niemand vorbeigehen, der im öffentlichen Leben steht, und weil das so ist, deshalb wird die Theologie weiter an Bedeutung gewinnen. Sie muss sich allerdings dann auch verstehen nicht einfach als Ort, um für bestimmte Berufe in den Kirchen oder Religionsgemeinschaften auszubilden – das ist eine Aufgabe –, aber es ist eine Facette, aber die Theologie wird immer mehr Gesprächspartner werden für andere Fakultäten – nehmen Sie die Lebenswissenschaften, die Kulturwissenschaften –, und sie wird eine größere Rolle spielen im Gespräch mit politischer Kultur, weil wir ja an vielen Stellen erst beginnen zu verstehen, was sich zum Beispiel in den letzten Jahrzehnten in der islamischen Welt entwickelt hat. Wir stehen bei manchem Thema am Beginn unserer Erkenntnis, und die Theologie kann helfen zu verstehen.
    Detjen: Und Sie sprechen da jetzt, wenn Sie von Theologie sprechen, immer gleichermaßen von christlicher, jüdischer und islamischer Theologie. Wie nehmen Sie dann die Diskussionen darüber wahr, die in Deutschland geführt wird über den Satz der Islam gehört zu Deutschland und Leuten, die sagen, der Islam gehört eben nicht zu Deutschland?
    Schavan: Ich habe die Rede von Christian Wulff damals gehört, deshalb kenne ich die Sätze davor und danach. Wenn man diesen einen Satz herausgreift, dann kann man immer lange darüber reden, wo der jetzt stimmt oder wo der nicht stimmt. Wenn über drei Millionen Menschen muslimischen Glaubens in Deutschland leben, dann ist deren Glaube und das, was damit an Grundhaltungen und Werten und Erwartungen verbunden ist, in der Zivilgesellschaft verankert. Die, die sich über diesen Satz immer aufregen, sagen, ja, aber die Scharia kann doch nicht zu Deutschland gehören. Das, was an ungeklärter Geschichte im Verhältnis Politik und Religion da ist, kann doch nicht zu Deutschland gehören. Auch das stimmt. Das sind die Klärungsprozesse, die in einer Islamkonferenz und an vielen Stellen geführt werden, aber ich kann oder ich finde, es ist ein hohes Maß an Ignoranz, wenn wir den Glauben und die damit verbundenen Überzeugungen von Millionen Menschen in einer Gesellschaft schlicht ignorieren und sagen, eigentlich gehört es nicht dazu. Ich kann ja auch sagen, angesichts der wenigen Katholiken in Berlin, der Katholizismus gehört eigentlich irgendwie nicht zu Berlin und nicht zu Preußen. Das würde uns ziemlich aufregen, und dafür hätte kein Mensch Verständnis.
    "Warum hätte ich meine Doktorvater und meine Fakultät täuschen sollen? Was wäre denn das Motiv gewesen?"
    Detjen: Frau Schavan, Sie beten regelmäßig, das haben Sie auch öffentlich gesagt in Interviews. Hat Ihnen das Gebet in der Politik geholfen?
    Schavan: Ja, eindeutig, das ist in vielerlei Hinsicht wichtig für mich. Zum einen kann ich ja nicht von meinem Glauben sprechen, der immer ja auch in Bewegung ist, den man ja auch nicht in Händen hält als etwas Fertiges, er entwickelt sich, er entwickelt sich weiter, ohne dass ich mir Zeit nehme dafür, und zu dem, was in dieser Zeit geschieht, gehört das Gebet, diese besondere Weise, das eigene Leben zu reflektieren, vor Gott zu bringen und sich hineinzustellen in das Gebet der Kirche, das Stundengebet. Das ist ja das, worüber bei einem oder anderem Interview mal gesprochen worden ist. Ich bin Teil einer weltweiten Gemeinschaft von glaubenden Menschen, die in einer Tradition stehen und diese Tradition auch zum Ausdruck bringen.
    Die Doktorarbeit von Annette Schavan
    Die Doktorarbeit von Annette Schavan (dpa/picture alliance/Daniel Naupold)
    Detjen: Als Ihnen 2013, Frau Schavan, der Doktortitel von Ihrer Universität, Ihrer Alma Mater aberkannt worden ist, da haben Sie den Vorwurf, der damit verbunden war, Sie hätten getäuscht, vehement zurückgewiesen. Sie haben das Ministeramt aufgegeben, um gegen Ihre Universität klagen zu können. Was haben Sie damals empfunden?
    Schavan: Das ist der einzige Satz, den ich zu diesem Thema sage: Ich habe in meinem Leben niemanden getäuscht, und warum hätte ich meinen Doktorvater und meine Fakultät täuschen sollen. Was wäre denn das Motiv gewesen, zumal wenn es um meinen Text und meine Arbeit, um mehrjährige Beschäftigung mit dem Gewissen geht.
    Detjen: Mir geht es eigentlich nicht um die Arbeit, sondern um diesen wichtigen, spektakulären, dramatischen Moment, diese Zäsur in Ihrem Leben 2013, dieses Gefühl, das Sie da zum Ausdruck gebracht haben, ungerecht behandelt zu werden. Das kann Menschen völlig aus der Bahn werfen. Was ist Ihnen in dieser Zeit wichtig gewesen, und was ist Ihnen vielleicht wichtiger geworden als es vorher war?
    Schavan: Ich habe über meine innere Verfassung ja nie öffentlich gesprochen, und das werde ich auch in Zukunft nicht tun. Das kann sich jeder so vorstellen, es muss sich jeder einfach fragen, wie würde ich mich eigentlich in einer solchen Situation fühlen. Ich habe versucht, ziemlich schnell Selbstmitleid zu vermeiden und es als eine geistliche Aufgabe anzunehmen. Nirgends steht geschrieben, dass es immer einem gerecht wiederfährt, und es hat ja anscheinend auch diejenigen gegeben, die fanden, das ist richtig und gerecht.
    Detjen: Sie haben damals geklagt, Sie haben den Prozess in der ersten Instanz vor dem Verwaltungsgericht verloren. Sie hätten weitergehen können, Sie hätten in Berufung gehen können. Viele hätten das getan – warum haben Sie es nicht getan?
    Schavan: Weil ich mich nicht noch fünf Jahre mit dem Thema beschäftigen wollte und auch alle sagen, dieser juristische Weg ist auch nicht tauglich dafür, das ist eine wissenschaftsinterne Geschichte. Nein, ich fand, es ist jetzt gut, das ist kein Thema, mit dem ich die nächsten fünf Jahre beschäftigen möchte, und einige Jahre später bin ich froh, so entschieden zu haben.
    Der Rücktritt
    Detjen: Ihr Rücktritt, Ihre Rücktrittserklärung war auch politisch, auch menschlich ein besonderer Moment. Deswegen auch besonders, weil Angela Merkel in dem Moment an Ihrer Seite stand, was die Kanzler sonst nicht tun, wenn Minister zurücktreten. Ein Kollege meinte, damals beobachtet zu haben, Merkel habe zumindest einen feuchten Schleier in den Augen gehabt. Da wurde Freundschaft zum Ausdruck gebracht. Welche Erinnerung haben Sie an diesen gemeinsamen Auftritt?
    Schavan: So ein Tag ist schwer. Ich habe Freundschaft und in den Tagen danach ungewöhnlich viel Sympathie erfahren, und ich weiß, dass ich ganz sicher war, das politische Amt ist nicht das, was Freundschaft begründet, ist auch nicht ausschließlich das, was begründet, eine Weise des Arbeitens, der Gestaltung, die mir wichtig ist. Natürlich gibt es an einem solchen Tag Momente, an denen ich den Eindruck hatte, da bricht alles zusammen, was bislang dir wichtig war, aber das sind Momente geblieben, und es haben viele Menschen, übrigens auch in der Politik weit über Parteigrenzen hinweg, mir sehr geholfen, nicht mich in diesen Momenten zu vergraben. Es wird ja immer wieder gesagt, in der Politik gibt es keine Freundschaft, in der Politik gibt es auch keine Solidarität. Das habe ich, vor allem in dieser Situation, völlig anders erfahren, und das ist auch ein Grund gewesen, warum ich dann auch die Pflicht sah oder mir klar war, jetzt darf ich mich nicht in so eine Situation hineingraben, in der man dann vor allen Dingen mit sich beschäftigt ist, sondern einmal tief durchatmen und versuchen, da Sinnvolles zu tun, wo das möglich ist.
    Annette Schavan (CDU) spricht 25.06.2014 im Bundestag in Berlin. Im Hintergrund sitzt Bundeskanzlerin Angela Merkel. Die ehemalige Wissenschaftsministerin geht als neue Botschafterin im Vatikan nach Rom und hielt ihre letzte Rede im Bundestag. 
    Enge Vertraute: Annette Schavan und Angela Merkel. (picture alliance /dpa - Maurizio Gambarini)
    Mehr Beobachtung, nicht unmittelbares Gestalten
    Detjen: Frau Schavan, letzte Frage: Es kommen viele Politiker zu Ihnen hier in dieses Haus, in die Botschaft beim Heiligen Stuhl, Sie begleiten deutsche Politiker, wenn sie Audienzen beim Papst haben im Vatikan. Was geht Ihnen dann, wenn Ihnen da sozusagen noch mal der Hauch der alten politischen Welt aus Berlin entgegenweht, durch den Kopf? Sind Sie da froh, da draußen zu sein, weht Sie da Wehmut manchmal an?
    Schavan: Ich habe meine Aufgaben in der Politik gerne wahrgenommen. Deshalb schaue ich da jetzt auch nicht drauf mit der Grundhaltung, gut, dass ich da raus bin. Manche sagen, du hast es ja jetzt viel schöner. Ich habe großen Respekt vor Politik und vor denen, die jetzt politisch tätig sind. Die Zeiten sind augenscheinlich komplizierter geworden. Manchmal ertappe ich mich auch dabei, dass ich denke, wie würde ich jetzt eigentlich reagieren in dieser oder jener Situation, aber gleichzeitig habe ich daran gearbeitet, dass diese Lebensphase beendet ist, eine neue begonnen hat, in der Politik eine andere Rolle spielt, viel mehr Beobachtung, nicht unmittelbares Gestalten. Nein, das ist ein gutes Kapitel in meinem Leben, und jetzt stehe ich in einem anderen Kapitel.
    Detjen: Vielen Dank für Ihre Zeit, Frau Schavan!
    Schavan: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.