Michael Köhler: Josef Kraus ist Leiter eines Gymnasium in Bayern und ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbands, wir wollen über die Thesen des Pädagogen Bernhard Bueb sprechen, der drei Jahrzehnte das Elite - Internat Salem leitete. Er sagt und findet Gehör, Disziplin in Schule und Unterricht seien das Tor zum Glück.
Wir wollen nicht über Alkohol- und Urintests an Schulen sprechen, sondern darüber, ob in Zeiten von Pisaschock und OECD-Warnungen etwas daran ist, Furcht und Autorität in den Mittelpunkt von Erziehung zu setzen. "Lob der Disziplin" heißt das Buch des Pädagogen Bueb. Mangelt es Schule, Lehrern, Eltern und Schülern daran?
Josef Kraus: Also ich bin nicht so ganz glücklich über diese These, die ja auch zum Buchtitel erhoben wurde. "Disziplin" heißt ja im Wesentlichen - so steht es ja auch im "Brockhaus" - "Einordnung", "Unterordnung". Ich glaube, da sind wir längst hinaus. Was mir auch nicht gefällt an den Thesen des Kollegen, ist, dass er einen Gegensatz herstellt zwischen Liebe und Disziplin, so nach dem Motto: Wir haben zu lange nach dem Prinzip Liebe erzogen und jetzt wird es Zeit, dass wir nach dem Prinzip Disziplin erziehen. Also wenn er hier einen Gegensatz herstellt, dann müsste er sagen: Wir haben vielleicht ein bisschen zu lange die Kinder verwöhnt. Aber Verwöhnung und Liebe sind zwei Paar Stiefel. Also da müsste er begrifflich ein bisschen sauberer sein. Nun gut, eines ist richtig: Es hat natürlich die viel zitierte und viel geschmähte 68er Pädagogik gewisse Spuren hinterlassen und natürlich hat ...
Köhler: ... eine so genannte Kuschelpädagogik, die mehr auf Partnerschaft Wert legte als auf Erziehung?
Kraus: Ja gut, "Partnerschaft" ist auch wieder so ein Begriff. Da muss man aufpassen. Also ich möchte schon, dass wir heute eine Erziehung haben, die partnerschaftlich stattfindet, wo natürlich auch wechselseitig anerkannt wird, wer welche Rolle zu spielen hat. Also ich würde den Begriff "partnerschaftlich" jetzt nicht da kritisch bewerten wollen. Aber natürlich ist in den letzten 30 Jahren eine gewisse erzieherische Verunsicherung in Deutschland durch die Lande gegangen. Die Eltern sind verunsichert worden, weil ihnen gesagt wurde, Erziehung ist Herrschaftsausübung, ist Unterdrückung. Und die Lehrer sind verunsichert gewesen und zum Teil hat ihnen ja auch die Schulpolitik und hat ihnen das Schulrecht, die Schulexekutive manche erzieherischen Instrumente aus der Hand genommen.
Köhler: Fehlt es an Führung?
Kraus: Natürlich ist der Begriff "Führung" belastet. Aber ich würde nicht auf ihn verzichten wollen. Ich würde überhaupt Erziehung definieren als die ständige, neu zu bestimmende Suche zwischen Führen und Wachsen-Lassen. So ist es ja auch in der Definition des berühmten Pädagogen Theodor Litt, der immer gesagt hat: Erziehung ist Führen und Wachsen-Lassen.
Köhler: Ein Reformpädagoge vom Anfang letzten Jahrhunderts.
Kraus: Wir haben vielleicht jahrzehntelang in Deutschland das Führen, die Disziplin überbewertet. Wir haben vielleicht ein paar Jahrzehnte das Wachsen-Lassen, das Nicht-Eingreifen, das Geschehen-Lassen, ich könnte auch sagen: eine gewisse Beliebigkeit in der Pädagogik, praktiziert und jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung aus. Also ich halte das nicht für sehr hilfreich. Wir waren auf einem guten Mittelweg zwischen Führen und Wachsen-Lassen und ich glaube nicht, dass die Thesen des Herrn Bueb jetzt sehr hilfreich sind, weil sie letztendlich vernünftige, auch zugreifende Pädagogik in Misskredit bringen.
Köhler: Aber sie fallen in ein Klima, in dem das leicht erscheint, ihm zuzustimmen.
Kraus: Ja nun, das ist natürlich typisch deutsch. Ob jetzt PISA-Diskussion oder Schuldiskussion, die Deutschen lassen sich gerne berauschen von Schlagworten, von Patentrezepten und von extremen Vorstellungen.
Köhler: Es gab mal einen Buchtitel des Philosophen Theodor Adorno, der hieß "Erziehung zur Mündigkeit". Ist das immer noch ein Begriff, der taugt?
Kraus: Als Begriff taugt er. Es ist dann die Frage, wie man es definiert. Man hat es jahrelang so definiert, dass man gemeint hat, das Kind, auch das 6-jährige, das 8-jährige, das 12-jährige Kind weiß selbst, was für es am besten ist. Aber ich würde es als Erziehungsziel nach wie vor gelten lassen, wenn an der Seite steht: auch Akzeptanz von Regeln, Akzeptanz von Gesetzen, Akzeptanz von begründeter, verantworteter Autorität. Aber ich möchte schon auch den mündigen Staatsbürger.
Und das beginnt meinetwegen auch damit, dass man Schülern von Jahr zu Jahr mehr gewisse Rechte zugesteht. Ich bin also nicht der Meinung wie Bueb, dass Schülermitverantwortung, Mitgestaltung von Schule durch Schüler ein Irrweg war oder - wie er an einer Stelle mal sagt - Gewerkschaftsmentalität fördere. Aus dieser Schülermitverantwortung entstehen auch ganz tolle Projekte im sozialen Bereich, im ökologischen Bereich, im Bereich von Profilierung von Schule. Also das gehört mit zum Hineinwachsen in die Mündigkeit; das gehört mit dazu, dass die jungen Leute einfach das, was um sie herum ist, auch differenziert und kritisch sehen.
Wir wollen nicht über Alkohol- und Urintests an Schulen sprechen, sondern darüber, ob in Zeiten von Pisaschock und OECD-Warnungen etwas daran ist, Furcht und Autorität in den Mittelpunkt von Erziehung zu setzen. "Lob der Disziplin" heißt das Buch des Pädagogen Bueb. Mangelt es Schule, Lehrern, Eltern und Schülern daran?
Josef Kraus: Also ich bin nicht so ganz glücklich über diese These, die ja auch zum Buchtitel erhoben wurde. "Disziplin" heißt ja im Wesentlichen - so steht es ja auch im "Brockhaus" - "Einordnung", "Unterordnung". Ich glaube, da sind wir längst hinaus. Was mir auch nicht gefällt an den Thesen des Kollegen, ist, dass er einen Gegensatz herstellt zwischen Liebe und Disziplin, so nach dem Motto: Wir haben zu lange nach dem Prinzip Liebe erzogen und jetzt wird es Zeit, dass wir nach dem Prinzip Disziplin erziehen. Also wenn er hier einen Gegensatz herstellt, dann müsste er sagen: Wir haben vielleicht ein bisschen zu lange die Kinder verwöhnt. Aber Verwöhnung und Liebe sind zwei Paar Stiefel. Also da müsste er begrifflich ein bisschen sauberer sein. Nun gut, eines ist richtig: Es hat natürlich die viel zitierte und viel geschmähte 68er Pädagogik gewisse Spuren hinterlassen und natürlich hat ...
Köhler: ... eine so genannte Kuschelpädagogik, die mehr auf Partnerschaft Wert legte als auf Erziehung?
Kraus: Ja gut, "Partnerschaft" ist auch wieder so ein Begriff. Da muss man aufpassen. Also ich möchte schon, dass wir heute eine Erziehung haben, die partnerschaftlich stattfindet, wo natürlich auch wechselseitig anerkannt wird, wer welche Rolle zu spielen hat. Also ich würde den Begriff "partnerschaftlich" jetzt nicht da kritisch bewerten wollen. Aber natürlich ist in den letzten 30 Jahren eine gewisse erzieherische Verunsicherung in Deutschland durch die Lande gegangen. Die Eltern sind verunsichert worden, weil ihnen gesagt wurde, Erziehung ist Herrschaftsausübung, ist Unterdrückung. Und die Lehrer sind verunsichert gewesen und zum Teil hat ihnen ja auch die Schulpolitik und hat ihnen das Schulrecht, die Schulexekutive manche erzieherischen Instrumente aus der Hand genommen.
Köhler: Fehlt es an Führung?
Kraus: Natürlich ist der Begriff "Führung" belastet. Aber ich würde nicht auf ihn verzichten wollen. Ich würde überhaupt Erziehung definieren als die ständige, neu zu bestimmende Suche zwischen Führen und Wachsen-Lassen. So ist es ja auch in der Definition des berühmten Pädagogen Theodor Litt, der immer gesagt hat: Erziehung ist Führen und Wachsen-Lassen.
Köhler: Ein Reformpädagoge vom Anfang letzten Jahrhunderts.
Kraus: Wir haben vielleicht jahrzehntelang in Deutschland das Führen, die Disziplin überbewertet. Wir haben vielleicht ein paar Jahrzehnte das Wachsen-Lassen, das Nicht-Eingreifen, das Geschehen-Lassen, ich könnte auch sagen: eine gewisse Beliebigkeit in der Pädagogik, praktiziert und jetzt schlägt das Pendel in die andere Richtung aus. Also ich halte das nicht für sehr hilfreich. Wir waren auf einem guten Mittelweg zwischen Führen und Wachsen-Lassen und ich glaube nicht, dass die Thesen des Herrn Bueb jetzt sehr hilfreich sind, weil sie letztendlich vernünftige, auch zugreifende Pädagogik in Misskredit bringen.
Köhler: Aber sie fallen in ein Klima, in dem das leicht erscheint, ihm zuzustimmen.
Kraus: Ja nun, das ist natürlich typisch deutsch. Ob jetzt PISA-Diskussion oder Schuldiskussion, die Deutschen lassen sich gerne berauschen von Schlagworten, von Patentrezepten und von extremen Vorstellungen.
Köhler: Es gab mal einen Buchtitel des Philosophen Theodor Adorno, der hieß "Erziehung zur Mündigkeit". Ist das immer noch ein Begriff, der taugt?
Kraus: Als Begriff taugt er. Es ist dann die Frage, wie man es definiert. Man hat es jahrelang so definiert, dass man gemeint hat, das Kind, auch das 6-jährige, das 8-jährige, das 12-jährige Kind weiß selbst, was für es am besten ist. Aber ich würde es als Erziehungsziel nach wie vor gelten lassen, wenn an der Seite steht: auch Akzeptanz von Regeln, Akzeptanz von Gesetzen, Akzeptanz von begründeter, verantworteter Autorität. Aber ich möchte schon auch den mündigen Staatsbürger.
Und das beginnt meinetwegen auch damit, dass man Schülern von Jahr zu Jahr mehr gewisse Rechte zugesteht. Ich bin also nicht der Meinung wie Bueb, dass Schülermitverantwortung, Mitgestaltung von Schule durch Schüler ein Irrweg war oder - wie er an einer Stelle mal sagt - Gewerkschaftsmentalität fördere. Aus dieser Schülermitverantwortung entstehen auch ganz tolle Projekte im sozialen Bereich, im ökologischen Bereich, im Bereich von Profilierung von Schule. Also das gehört mit zum Hineinwachsen in die Mündigkeit; das gehört mit dazu, dass die jungen Leute einfach das, was um sie herum ist, auch differenziert und kritisch sehen.