Archiv


Vom Schrei zur Sprache

Vom ersten Schrei über das erste Wort bis zum ersten Satz, alle Eltern verfolgen fasziniert, wie ihr Kind die Sprache erobert. Schon mit wenigen Wochen reagieren die Babys auf die Sprachmelodie, gleichzeitig ist in ihrem Schreien eben diese Melodie wiederzuerkennen. Sprachverstehen und eigene Äußerungen werden nach und nach immer differenzierter. Diesen Prozess will die deutsche Sprachentwicklungsstudie an der Kinderklinik Lindenhof in Berlin genau nachzeichnen. "In dieser Form" betont der Sprecher der Studie, Prof. Jürgen Weissenborn, "das heißt, wir haben vor, 250 Kinder von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr zu untersuchen und dann auch mit sehr unterschiedlichen Methoden in sehr unterschiedlichen Bereichen, ich denke das ist besonders wichtig, weil die Sprachentwicklung sich nicht isoliert vollzieht, sondern im Zusammenhang mit Entwicklungen in anderen Bereichen, z.B. der allgemeinen geistigen Entwicklung, auch der motorischen Entwicklung, der biologischen Entwicklung, dass man also diese verschiedenen Entwicklungsstränge gleichzeitig untersucht, in dieser Detailliertheit, das ist zur Zeit wohl international auch einmalig".

Volkart Wildermuth |
    Schon in der ersten Lebenswoche besuchen die Forscher die Babys zuhause und nehmen ihre ersten Schreie auf. Sie kommen regelmäßig wieder, um das Lallen, Babbeln, die ersten Worte und Sätze zu dokumentieren und später zu analysieren. Im Sprachlabor verfolgen sie, wie Babys und Kleinkinder auf akustische Reize reagieren, messen Hirnströme und werten psychologische Experimente aus. Noch nie wurde der Spracherwerb so genau untersucht. Das ist wissenschaftlich hoch spannend aber auch von praktischer Bedeutung. Von den Ergebnissen erhoffen die Forscher Hinweise auf die Ursache von Sprachentwicklungsstörungen.

    Mehr Informationen unter: www.glad-study.de

    Das Manuskript zur Sendung

    Ein Kind ist zur Welt gekommen. Die Mutter wird sich immer an dieser Moment, an diesen Schrei erinnern. Er ist noch geprägt vom Schock der Geburt. Doch schnell wird das Baby kommunizieren.

    Sein Schreien ist mehr als nur Gebrüll. Ich bin hungrig, ich bin durstig, lass mich nicht allein signalisieren diese Laute. Sie sind noch keine Sprache, aber sie haben schon eine ganz bestimmte Form, einen Bogen in Lautstärke und Klang, den jedes Baby beherrscht. Schon eine Woche später kombiniert es zwei dieser Bögen. Rasch folgen weitere Versuche. Irgendwann im dritten Monat erfolgt ein großer Sprung nach vorn in der Lautentwicklung. Die Kinder beginnen mit sprachlichen Fingerübungen, fangen an zu Babbeln und zu Lallen. Kein Wunder, dass es nun heißt, er oder sie spricht! Und dann ist es so weit: die Laute erhalten Bedeutungen.

    Kein Zweifel, die Kleine ist dem Geheimnis der Sprache auf der Spur. Mit dem ersten Geburtstag erklingen die ersten Worte. Die Eroberung des Lexikons und der Grammatik geht zunächst langsam voran. In der zweiten Hälfte des zweiten Lebensjahrs kommt es aber zu einer wahren Sprachexplosion. Neue Begriffe fliegen dem Kind nur so zu, die Sätze werden schnell immer komplexer. Endlich kann das Kind alles sagen, was es will. Jede Mutter und jeder Vater verfolgt fasziniert diesen Weg vom ersten Schrei zum ersten Wort, zum ersten Satz. Doch nur wenige Eltern halten mit dem Tonband fest, wie der Sprössling langsam aber sicher mit ihnen ins Gespräch kommt. Allzu schnell verblassen die Erinnerungen. In Berlin bietet jetzt eine wissenschaftliche Studie die Chance, den sprachlichen Werdegang des eigenen Kindes in allen Details dokumentiert zu bekommen.

    Im Nordosten Berlins liegt die Kinderklinik Lindenhof. Hier in zwei Plattenbauten inmitten des weitläufigen, baumbestandenen Geländes hat sich ein Team von Kinderärzten, Ohrenspezialisten, Psychologen und Hirnforschern eingemietet. Sie wollen den Weg zur Sprache von der Geburt an kartieren und feststellen, wo Stolpersteine liegen, die zu Sprachstörungen führen können. Schon seit Monaten kommen Tanja Junge, Marie Müller und Sabine Schmiedeskamp regelmäßig mit ihren Kindern in den Lindenhof. Junge:

    Ich bin zu unserem Gesundheitsamt zum Wiegen und Messen und habe da das Plakat gesehen. Da stand halt: Gibt es in ihrer Familie Lese- und Rechtschreibschwäche? Und da mein Mann Legastheniker ist, dachte ich, das wäre vielleicht was für uns, rief hier an, habe dann auch gesagt, dass meine große Tochter mit drei so gut wie gar nicht spricht, und so sind wir dann halt hierher gekommen.

    Müller: Ich bin genau am Entbindungstermin am 20. Januar in die Klinik gekommen mit Wehen, und das hat noch eine Weile gedauert, und in der Zeit hat man viel Zeit zum Lesen, und da lag Infomaterial von der Sprachstudie aus, das hat mich gleich sehr interessiert. Hier habe ich den Überblick, wie fähig ist meine Tochter und wann fängt das Lernen der Sprache an und sie wird ja immer noch unabhängig ärztlich untersucht, das finde ich auch ganz wichtig.

    Schmiedeskamp: Ich hab eine siebenjährige Tochter die zu 50 Prozent sprachbehindert ist, und ich würde gerne wissen, warum sich so etwas entwickeln kann.

    Der geistige Vater der deutschen Sprachentwicklungsstudie ist Professor Jürgen Weissenborn von der Universität Potsdam. Seit langem erforscht er das Grenzgebiet zwischen Sprachwissenschaft und Psychologie. Seine Leitfrage lautet: Wie kommt die Sprache in den Kopf? Um sie endlich umfassend und von vielen Blickwinkeln aus angehen zu können, hat er ein psychologisches Großprojekt ins Leben gerufen. Weissenborn:

    Wir haben vor, 250 Kinder von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr zu untersuchen, mit sehr unterschiedlichen Methoden in sehr unterschiedlichen Bereichen. Ich denke, das ist besonders wichtig, weil sich die Sprachentwicklung nicht isoliert vollzieht, sondern im Zusammenhang mit Entwicklungen in anderen Bereichen, beispielsweise der allgemeinen geistigen Entwicklung, auch der motorischen Entwicklung, der biologischen Entwicklung. Dass man also diese verschiedenen Entwicklungsstränge gleichzeitig untersucht, in dieser Detailliertheit, das ist zur Zeit wohl international einmalig.

    Forscher aus der ganzen Republik beteiligen sich an der deutschen Sprachentwicklungsstudie. Die Hirnforscherin Professor Angela Friederici war von Anfang an dabei. Die Direktorin am Max Planck Institut für neuropsychologische Forschung in Leipzig ist begeistert von der Möglichkeit, die Entwicklung von Kindern über drei, wenn die Finanzierung weiter läuft, sogar über sechs Jahre verfolgen zu können:

    Das Ziel des Vorhabens ist eigentlich zweierlei. Zum einen wollen wir eine normale Sprachentwicklung von Kindern verfolgen, von dem Moment an, wo sie auf die Welt kommen bis zu dem Moment wo sie die Kompetenz haben zu sprechen und zu verstehen Denn auch dass wissen wir heute noch nicht, wie so etwas Baustein auf Baustein sich aufbaut. Das Zweite, was auch hier im Vordergrund steh in dieser Studie ist die Untersuchung von Sprachentwicklungsstörungen. Viele Kinder die heute in die Schule kommen haben solche Störungen, die Prozentzahl ist heute 6 Prozent und bei Kinder die aus Familien kommen, die eine Sprachstörung entweder bei Geschwistern oder bei den Eltern registriert haben, da sind es bis zu 70 Prozent. Das heißt dieses Problem muss angegangen werden, denn wer die Sprachkompetenz nicht hat, der wird nachher auch in der sozialen Entwicklung immer Probleme haben.

    Schon kurz nach der Geburt machen die Mitarbeiter der Sprachentwicklungsstudie Hausbesuche. Mit dem Mikrophon wollen sie die ersten Laute der Kinder aufzeichnen. Allerdings sind die oft gar nicht willig, im Dienste der Forschung zu schreien und zu lallen, erinnern sich Tanja Müller, Stefanie Küster und Sabine Schmiedeskamp.

    Müller:

    Bei uns kommt ein junger Student namens Markus, und die beiden haben sich ganz schnell miteinander angefreundet. Wenn das regelmäßig einmal die Woche ist, dann kann sich das kleine Kind daran gewöhnen. In letzter Zeit muss man da schon nachhelfen, denn dann lacht sie das Mikrophon nur an. Da sie sich ja jetzt sowieso auf den Bauch legt, haben wir sie auf den Bauch gelegt, bis sie anfing zu erzählen.

    Küster:

    Ich hab da so meine Tricks, wenn ich ihm was in die Hand drücke, bestimmte Sachen, dann kuckt er sich die Sachen an und redet mit diesen Sachen, und dann weiß ich, er babbelt jetzt halt. Aber an manchen Tagen da liegt er einfach nur und grinst oder läuft weg, und dann müssen sie mit dem Mikro hinterher. Es ist manchmal kompliziert, da etwas zum Babbeln herauszukriegen. Aber vorgestern war die Dame wieder da, und da hat er wieder 20 Minuten geplaudert wie ein Wasserfall.

    Schmiedskamp:

    Ich konnte zum Beispiel nicht verstehen, warum Schreien aufgenommen wird, provoziertes Schreien, denn die schreien ja nicht, wenn sie gerade kommen zum Aufnehmen, sondern man provoziert sie, indem man sie auf den Bauch legt oder mit den Waschlappen wäscht, sodass sie schreit. Daraus filtern sie etwas raus, das kann ich irgendwie nicht so nachvollziehen, aber die sind der Meinung, sie können dann schon etwas herausfinden.

    Die Sprachentwicklung folgt einem genau festgelegten Plan. Einbogenschrei, Doppelbogenschrei, komplexere Schreie, Sprachspiel, marginales Lallen, kanonisches Lallen, erste Worte. Diese Weg zum ersten Wort haben Wissenschaftler schon bei einigen Kindern genau verfolgt. Die deutsche Sprachentwicklungsstudie wird aber erstmals statistisch abgesicherte Daten über die Abfolge und die Länge der einzelnen Schritte liefern. Professor Zvi Penner von der Universität Konstanz hat zusammen mit seinen Mitarbeitern das Frequenzmuster jeden Schreis und jedes Lallens genau untersucht. Überraschende Erkenntnis: Schon die ersten Laute sind eindeutig von der Sprachumgebung der Babys geprägt. Penner:

    Es sieht so aus, aufgrund der aktuellen Befunde, die wir haben, dass generell die frühe Lautierung von Kindern sehr stark strukturiert ist. Das heißt, wir gehen davon aus, dass die Kinder in der frühen Lautierug im Schreien im Lallen und so weiter - das fängt alles sehr früh an - nicht nur eine Struktur haben, sondern die Struktur haben, die wir praktisch in der Zielsprache haben, das macht diese Lautierung für uns relativ angenehm. Also ich versuche das einmal nachzumachen: Das deutsche Kind würde so etwas machen wie "Dada Dada" und das französische Kind "daDA daDA". Einfach steigend, anstatt fallend am Schluss.

    Und das entspricht der typischen Betonung im Französischen beziehungsweise im Deutschen. Schon bei den Doppelbogenschreien der drei Tage alten deutschen Babys ist der erste Bogen lauter.

    In Frankreich dürfte das andersherum sein. Offenbar haben die Kinder schon vor der Geburt etwas über ihre Muttersprache herausgefunden. In der 25. oder 26. Woche der Schwangerschaft bildet sich der auditive Trakt des Fetus, er kann hören. Im Bauch der Mutter klingen die Laute allerdings stark gedämpft und gefiltert. Etwa so, wie unter Wasser in der Badewanne, die einzelnen Worte sind kaum zu verstehen, die Sprachmelodie aber bleibt erkennbar. Der Fetus lernt seine Sprachumgebung also schon vor der Geburt kennen, meint Zvi Penner:

    Das ist sicher eine Kontinuität, weil die Kinder die großen Entdeckungen wahrscheinlich schon vorgeburtlich machen. Was die Kinder wahrscheinlich nicht machen, das sind Fehler, sie denken zum Beispiel nicht, ich lerne jetzt Französisch und nach zwei Monaten denken sie, oh, falsch, ich lerne eigentlich Englisch oder Deutsch, und das hat eine ganz andere Struktur und ich korrigiere meine Daten. Nein, was die Kinder machen: Sie fangen richtig an, von Anfang an zielorientiert und diese Wissen wird immer besser spezifiziert.

    Inzwischen sind die ältesten Kinder in der deutschen Sprachentwicklungsstudie anderthalb Jahre alt. Sie haben schon einen ersten Wortschatz angesammelt. Zunächst spreche sie Hauptwörter aus, die konkrete Dinge in der Welt bezeichnen. Danach äußern sie die ersten Tätigkeitswörter. Von der Logik her wäre zu erwarten, dass die Kinder als erstes Verben für wichtige Handlungen wie Essen oder Schlafen aussprechen sollten. Doch die Sprachaufnahmen zeigen etwas anderes, berichtet Penner:

    Wir haben die Beobachtung gemacht, dass Kinder, wenn sie anfangen, Verben zu produzieren, also Wörter die nicht Gegenstände, sondern Ereignisse bezeichnen, dann haben die Kinder eigentlich eine sehr starke Tendenz, die so genannten resultative oder resultatsorientierten Verbteile zu benutzen, wie: auf, aufmachen, wegmachen, anmachen, zumachen. Das hat sich jetzt als ein sehr stabiles Entwicklungsmerkmal erwiesen. Verben, die wir früher als selbstverständlich erachtet haben, wie essen, trinken, malen, putzen und so weiter, kommen auch früh, aber später als diese Resultatsverben.

    Zvi Penner erklärt das mit Hilfe der Lerntheorie. Der Sprung von den Hauptwörtern zu den Handlungswörtern ist für die Kleinkinder offenbar zu groß. Die Resultatsverben ermöglichen ihnen einen Zwischenschritt. Sie bezeichnen Handlungen, die einen eindeutigen Endzustand haben. Wird ein Kasten aufgemacht, ist er offen. Wenn das Kind also verkürzt "auf" sagt, kann es den geöffneten Kasten bezeichnen und zugleich die gewünschte Handlung. Ein Verb wie "essen" hat dagegen keinen eindeutigen Endzustand, das Kind isst, aber es isst nicht unbedingt den ganzen Teller leer. Die Bedeutung von "essen" erschließt sich dem Kind deshalb nicht von einem konkreten, wahrnehmbaren Zustand her. Mit Hilfe der Resultatsverben kann das Kind eine Brücke bauen von den Dingen, etwa dem offenen Kasten, zu den Handlungen, wie öffnen und sich so die neue grammatische Kategorie der Verben langsam erarbeiten. Der Spracherwerb folgt weniger den Regeln der Linguistik als denen des einfachsten Lernweges.

    Stefanie Küster sitzt mit dem fünf Monate alten Tim auf dem Schoß in einer schalldichten Kabine. Während Mutter und Kind in der schon vertrauten Umgebung geduldig warten, startet draußen die wissenschaftliche Mitarbeiterin Sonja Bartels das Testprogramm. Aus Lautsprechern links und rechts von Tim ertönen Sprachproben. Gleichzeitig blinken Lämpchen, die seine Aufmerksamkeit auf die Schallquellen richten sollen. Stefanie Küster bekommt von dem eigentlichen Experiment nicht mit. Damit sie ihren Sohn nicht beeinflusst, hört sie über Kopfhörer klassische Musik.

    Küster:

    Ich hab Tim auf dem Schoß, und dann sehe ich natürlich Tim und die Lämpchen, und wenn die Lämpchen leuchten, dann sehe ich, wie sein Kopf immer nur hin und her geht und die Lämpchen sucht. Eben hat es doch noch links geleuchtet, wieso leuchtet es jetzt nicht mehr, und er sucht dann immer nur links, wo ist denn jetzt das Lämpchen, das jetzt leuchtet, dabei leuchtet die ganze Zeit schon rechts eins.

    Bartels:

    In diesem Test geht es um die Betonung, das heißt, wir spielen den Kindern zweisilbige Wörter vor, mit unterschiedlicher Betonung - einmal Baba und baBA - und schauen dann, ob die Kinder da einen Unterschied erkennen können. Ich sehe jetzt auf dem Bildschirm das Kind, und ich beobachte einfach, wohin das Kind hin guckt, ob das Kind auf die Lampe schaut, die blinkt, und wenn das der Fall ist, starte ich den Stimulus. Sobald es weg guckt, drücke ich eine andere Taste, und dann bricht der Durchgang ab.

    Küster:

    Der Kopf geht wirklich wie eine Rundumleuchte ewig hin und her. Da muss ich wirklich richtig lachen und mich wirklich zusammenreißen, dass er das dann anständig durchzieht.

    Bartels:

    Gemessen wird die Blickdauer des Kindes, das heißt, wie lange blickt das Kind zum Lautsprecher hin, das ist für uns ein Hinweis, wie lange es zuhört und unsere Hypothese ist halt, das es bei neuen Sachen länger zuhört, als bei Sachen, die ihm schon bekannt vorkommen. Wenn es jetzt signifikante Unterschiede in der Blickdauer gibt, ist das für uns ein Zeichen, dass die Kinder die Stimuli unterscheiden können.

    Mit der Kopfdrehungsmethode will Jürgen Weissenborn herausfinden, auf welche Aspekte der Sprache die Babys als erstes reagieren. Worte sind es sicher nicht, denn für die Kinder ist die Sprache zunächst eine unstrukturierte Folge von Lauten, erklärt er:

    Das erste Problem, das das Kind zu lösen hat, ist es, den kontinuierlichen Sprachstrom in einzelne Einheiten zu segmentieren, die dann potenzielle Wörter seiner Sprache sind. Stellen Sie sich vor, das Kind kommt auf die Welt und dann klingt alles etwa so wie: "Mähenäbteheu" also "Mähen Äbte Heu? Nein, Äbte mähen kein Heu." Also das was für uns überhaupt gar kein Problem darstellt, dieses Problem das muss das Kind zunächst lösen.

    Welche Orientierungspunkte nutzen die Kinder. Pausen, bestimmte Lautfolgen, Betonungen? Alles ein bisschen, zeigen die Untersuchungen am Lindenhof, die zentrale Rolle spielen aber die Betonungen. Weissenborn:

    Diese rhythmischen Eigenschaften scheinen es dem Kind zu erlauben, den kontinuierlichen Sprachstrom aufzuspalten, zu segmentieren in einzelne lautliche Einheiten, zum Beispiel in Einheiten, die aus zwei Silben bestehen, zum Beispiel einer anfänglichen initialen Betonten und einer darauf folgenden unbetonten Silbe also noch einmal so etwas wie "Baba, Baba" oder denken sie an "Mama, Mama" oder "Papa, Papa", und dann verfügt das Kind über Lautmuster, die es mit einer Bedeutung verbinden kann.

    Die Experimente zeigen, dass schon wenige Wochen alte Babys auf Betonungsmuster reagieren. Wenn sie eine Weile gehört haben, schauen sie gelangweilt weg vom Lautsprecher. Erst das umgekehrte Betonungsmuster kann ihre Aufmerksamkeit erneut fesseln. Die Babys nehmen aber nicht nur die Betonungsunterschiede wahr, sie zeigen schon bald eine deutliche Vorliebe für die anfangsbetonte, die typisch deutsche Silbe. Weissenborn:

    Also, man kann vermutlich sagen, wenn die Effekte robust bleiben, bei unseren Untersuchungen, dass die Kinder im rhythmischen Bereich schon im Alter von vier Monaten eine Präferenz für die rhythmischen Strukturen ihrer Muttersprache zeigen. Das scheint früher zu liegen, sogar möglicherweise einige Monate früher zu liegen, als entsprechende Befunde im Englischen.

    Auch in der Sprachproduktion im Rhythmus ihrer Muttersprache haben deutsche Kinder die Nase vorn. Ein verblüffender Befund der Sprachentwicklungsstudie, für den es vorerst noch keine Erklärung gibt.

    Stefanie Küster und zwei Forscherinnen versuchen gemeinsam dem kleinen Tim eine Haube mit zwei Dutzend Elektroden aufzusetzen, ohne dass er den bunten Zopf aus Kabeln gleich wieder abreißt.

    So, das war bis hier der einfache Teil, und jetzt kommt der Teil mit der Elektrodenhaube. Jetzt kriegst du eine schicke Mütze, Mama hat's erlaubt. Jetzt siehst Du aber schick aus, jetzt grinst sie wieder. Vorne sitzt sie gut. Mann, das ist aber einen tolle Mütze, schmückt dich. Kuck mal da in den Spiegel, so toll sieht du aus, so schick, jetzt verstecken wir schnell die Kabel, weil die Kleinen da rein greifen. Kuckuck, da ist sie wieder.

    Bloß die Laune nicht verderben, damit Tim nicht strampelt und die Messung verdirbt. Letztlich hilft nur Bestechung mit Spielzeug. Wenn dann alles sitzt, quetschen sich Mutter und Kind in eine kleine Kabine. Während drinnen Silben ertönen, sieht die Psychologin Ann Pannekamp draußen viele zackige Linien über den Bildschirm laufen, Abbild der elektrischen Aktivität des Gehirns. Küster:

    Das sah natürlich sehr abenteuerlich aus, die fröhliche Badekappe mit den Kabeln da dran, und so ein kleines Kind sieht da ganz übel drunter aus. Dann haben die mich beruhigt und gesagt, das ist nichts von Bedeutung, das ist wirklich nur Gehirnströme messen. Wenn das Baba und Dada kommt, ob er das unterscheiden kann, das sieht man dann an den Gehirnströmen.

    Wenn er sowieso ruhig ist und da drin sitzt, dann ist alles in Ordnung, dann hört er das Geplänkel an, und das war's. Dann sind die 40 Minuten auch vorbei.

    Pannekamp:

    Wir beobachten online die EEG Aktivität und sehen hier zum Beispiel: Die oberen beiden Linien wären die Augenaktivität, dann kommen die Elektroden, je paralleler sie laufen, desto ruhiger ist das Kind, diese wild laufenden Zacken sind meistens Muskelaktivität, Armbewegungen, Beinbewegungen, Schreien, Reden, was auch immer. Man sieht im Prinzip, ob sie schlafen, inwieweit sie sich bewegen. Mittlerweile können wir sehr gut sehen, ob ein Kind nuckelt, das sieht man dann auch im EEG an dieser Muskelbewegung.

    Küster:

    Wenn er sowieso unruhig ist, und ich sitze dann mit ihm auf dem Schoß, er hat die ganzen Strippen, dann ist es ja auch so, dass er die loswerden will, wenn es ihm unwohl ist. Dann zieht er ewig an den Kabeln, und dann sind die Kontakte unterbrochen. Es muss also wieder jemand rein kommen, wieder alles herrichten, neues Gel an die Kontakte machen und so weiter.

    Tim hört nicht nur den Messtönen zu, sein Gehirn beschäftigt sich gleichzeitig mit vielen anderen Dinge, steuert Bewegungen, reguliert die Atmung, träumt vielleicht. Das alles spiegelt sich in den wild zuckenden Linien auf dem Bildschirm wieder, der Anteil der Sprachverarbeitung lässt sich nicht erkennen. Erst wenn viele hundert Einzelmessungen zu immer dem selben Sprachreiz gemeinsam analysiert werden, tritt ein spezifisches Signal aus dem Hintergrundsrauschen hervor.

    Schon seit Jahren verfolgt Angela Friederici am Max Planck Institut für neuropsychologische Forschung in Leipzig anhand der Hirnströme, wie Erwachsene Sprache verstehen. Vereinfacht dargestellt reagiert zuerst die rechte Gehirnhälfte auf die Sprachmelodie und zerlegt so den Sprachfluss in einzelne Einheiten. Als nächstes erfolgt in der linken Hirnhälfte eine schnelle Analyse der Grammatik. Dabei wird festgelegt, welche Worte wie zusammengehören. Erst ganz zum Schluss verknüpft die linke Gehirnhälfte den Wortklang mit den Bedeutungen. Dabei fängt die Analyse eines Satzes an, lange bevor das letzte Wort gesagt ist. Um mit dem schnellen Tempo der gesprochenen Sprache mitzuhalten muss das Gehirn mit Hypothesen arbeiten. Werden diese Erwartungen verletzt, reagiert es mit einer ganz bestimmten Welle im EEG, die man Hoppla-Potential nennen könnte. Am Lindenhof konnte das Team von Angela Friederici auch bei Babys ein solches Hoppla-Potential nachweisen, wenn nach einer langen, eintönigen Folge von erst betonten Silben plötzlich eine zweit betonte ertönt. Friederici:

    Wir haben die Kinder am Ende des ersten Monats, am Ende des zweiten Monats untersucht und am Ende des zweiten Monats ist es in der tat so, dass Kinder deutlich eine Erstbetonung von einer zweit betonten Doppelsilbe unterscheiden können. Zu mindestens die Kinder, die eine normale Sprachentwicklung nehmen werden, wie wir glauben.

    Damit steht ihnen schon ganz früh das Ausgangsmaterial für die Analyse der Sprache zur Verfügung. Ob dafür, wie beim Erwachsenen, spezialisierte Hirnzentren zuständig sind, kann Angela Friederici nicht feststellen. Die wenigen Elektroden, die auf den Schädel eines Babys passen, erlauben nur eine grobe räumliche Einordnung der Hirnaktivität. Dennoch zeigt sich, dass das Gehirn von Kinder aus Familien mit bekannten Sprachstörungen anders auf Sprachreize reagiert. Friederici:

    Kinder, die aus Risikofamilien kommen, zeigen zum Teil ein ähnliches Potential, was sich aber anders über die Kopfoberfläche verteilt, und da wir annehmen, dass sich linke und rechte Hemisphäre gerade während des Spracherwerbs, wenn man so will, auf ihre spezifischen Aufgaben ausrichten müssen, die sie zu leisten haben, gehen wir ja davon aus, dass gerade diese Unterschiede in der Verteilung des Potentials über den Oberkopf letztendlich Hinweis dafür ist, dass da letztendlich andere Organisationen der verschiedenen Hirnfunktionen vorliegen.

    Um möglichst viel über Sprachentwicklungsstörungen herausfinden zu können, soll die Hälfte der Studienkinder aus Familien stammen, in denen schon ein Geschwister oder ein Elternteil Probleme mit der Sprache hat. Noch ist dieser Anteil nicht erreicht, die Wissenschafter hoffen aber, dass sich noch mehr betroffene Familien melden. So wie Tanja Junge, die mit ihrem kleinen Sohn Niklas an der Studie teilnimmt. Seine große Schwester hat mit drei Jahren noch nicht richtig sprechen gelernt, erzählt Tanja Junge:

    Sie fing erst mit anderthalb an, "Mama, Papa" zu sagen, also sie brauchte relativ lange, und verständlich machen kann sie sich nur bei mir und meiner Mutter. Der Vater versteht sie nicht, in der Kita hat sie arge Probleme, weil sie halt keinen Grundwortschatz hat, und jetzt kommen so mit drei Jahren langsam die ersten Wörter, mit denen man auch etwas anfangen kann. Sie versucht halt nicht, die Wörter zu sprechen, sondern die Geräusche dazu zu nachzuahmen. Wasser war eine ganze Weile Hiuuu, weil es so komisch rauschte, Pferd ist Hoppehei. Auch wenn sie jetzt anfängt, Wörter zu sprechen, sie lässt Laute richtig ausfallen. Die anderen Kinder wollen mit ihr nichts zu tun haben, weil sie sie nicht verstehen, es sind wenige, die so langsam nach einem halben Jahr auf sie eingehen. Sie selber schafft sich aber lieber imaginäre Freunde, denn mit denen kann man in ihrer Sprache sprechen, ohne dass es Probleme gibt. Die Erzieher verstehen sie nicht, die stehen teilweise da und sagen: 'Schön, was du uns erzählst, aber wir haben keinen Ton verstanden.' Man merkt, dass es für sie ziemlich frustrierend ist.

    Bruder Niklas ist 5 Monate alt, er babbelt fröhlich wie jedes andere Kleinkind. Noch zeigen weder er noch die anderen Kinder in der Sprachentwicklungsstudie Anzeichen für ernsthafte Probleme. Die Kinder sind allerdings alle noch unter zwei Jahren alt und damit zu jung für die klassische Diagnose einer Sprachentwicklungsstörung.

    Wenn ein Kind Probleme mit dem Sprechen hat, dann heißt es zunächst meist, das wächst sich aus, das ist halt ein Spätentwickler. Wenn sich dann doch nichts bessert, kommen die Kinder zur Logopädin, die mit ihnen die Aussprache oder auch das Sprachverstehen trainiert. Die Erfolge sind von Kind zu Kind sehr unterschiedlich. Eines scheint aber klar zu sein, je früher die Therapie beginnt und je gezielter sie die besonderen Schwächen der Kinder angeht, desto wirkungsvoller ist sie. Eine schnelle und verlässlicher Diagnose ist deshalb entscheidend und genau hier will die deutsche Sprachentwicklungsstudie ansetzten. Sobald sich bei den untersuchten Kindern Schwierigkeiten beim Spracherwerb zeigen, wollen die Wissenschaftler die Daten dieser Kinder noch einmal analysieren, um nach eventuell vorhandenen Frühwarnzeichen zu suchen. Für die Orientierung im Lautfluss der Sprache ist die Sprachmelodie von herausragender Bedeutung. In ihren Hirnstrommessungen sieht Angela Friederici, dass manche Kinder Schwierigkeiten beim Wahrnehmen von Betonungen haben:

    Es gibt einzelne Kinder, besonders Kinder, die aus so genannten Risikofamilien kommen, also Familien, wo zum Beispiel die Geschwister schon Sprachstörungen haben, wo wir diesen deutlichen Unterscheidungserfolg zwischen diesen beiden Silbentypen, also erste Betonung versus zweite Betonung nicht sehen. Wir glauben, dass wir damit einen frühen Marker gefunden haben, der es uns erlaubt, vielleicht schon ganz früh festzustellen, ob eine normale Sprachentwicklung durchlaufen wird oder ob das Kind vielleicht später eines der Kinder sein wird, die in der Sprachentwicklung Probleme haben werden.

    Noch ist es zu früh zu sagen, ob sich ein auffälliges EEG wirklich dafür eignet, um bei Kindern aus Risikofamilien einer eventuellen Sprachstörung schneller auf die Spur zu kommen. Wahrscheinlich wird erst die Kombination mehrere Auffälligkeiten eine sichere Früherkennung ermöglichen. Auch in der Sprachproduktion gibt es Anzeichen für künftige Probleme. Nicht nur im Lallen, schon im Schreien gibt es Abweichungen hat das Team um Zvi Penner festgestellt:

    Es gibt eigentlich schon Evidenz dafür, dass die ersten Anzeichen für Sprachstörungen sichtbar beziehungsweise in der frühen Lautierung hörbar sind, und das betrifft einerseits die Befunde aus der Schreianalyse, dass Kinder, die zum Beispiel nicht gut hören, anders schreien, als Kinder die gut hören, da ist die sogenannte Grundfrequenz höher. Was zum Beispiel das Lallen anbelangt, also die silbische Produktion, stellen wir fest, das viele Kinder, die mit der Sprachentwicklung Schwierigkeiten haben und die Silbenstruktur nicht so spezifizieren können, dass die nicht mit acht oder neun Monaten eine perfekte Silbe bilden können. Sie sagen nicht "Da, Da" mit einer schnellen Öffnung des Mundes, sondern sie sprechen das irgendwie undeutlich, kaugummiartig aus.

    Friederici:

    Die Idee ist natürlich, dass man bei einer frühen Diagnose auch eine Frühtherapie ansetzen kann. Es gibt erste Arbeiten dazu. Bei uns im Team ist Privatdozent Dr. Penner, der solche ersten Untersuchungen schon mit Erfolg gemacht hat. Das heißt, Kinder, die im Grunde genommen Schwierigkeiten haben, die Betonung zunächst wahrzunehmen, werden in einem besonderen Training, in dem man Wörter einfach überbetont, darauf aufmerksam gemacht, dass das wichtige Informationen sind. Die Hoffnung ist natürlich, dass, wenn die Kinder dann durch diese Überbetonung lernen, auch aus der normalen Betonung die wichtigen Informationen herauszuholen, dass es die dann später auch selber nutzen können.

    Angela Friederici kennt noch eine Reihe anderer Ansätzen zu einer Frühtherapie für Sprachentwicklungsstörungen, die in verschiedenen Ländern mit ersten Erfolgen erprobt werden. Für sie alle ist aber entscheidend, dass die Störung früh erkannt wird, solange das Gehirn der Kinder sich noch leicht durch neue Erfahrungen formen lässt. Die deutsche Sprachentwicklungsstudie wird hier auch international erstmals verlässliche Daten liefern. In Zukunft, so hoffen Tanja Junge und Sabine Schmiedeskamp, die beide Töchter mit Sprachproblemen haben, kann dann anderen Kindern geholfen werden. Tanja Junge:

    Für mich selber vielleicht ein paar Tipps, dass wir das bei ihm eventuell früher feststellen, dass er halt Schwierigkeiten hat. Aber worauf es mir am meisten ankommt, ist, dass meine Kinder bei ihren eigenen Kindern besser Bescheid wissen und dass man bessere Methoden hat, es frühzeitig zu erkennen und den Kindern zu helfen.