Bilder zu betrachten heißt, sich ihrer Wirkung auszusetzen. Dann ist es so, als würden die Bilder zurückschauen und ihrerseits den Betrachter in den Blick nehmen. „Das Foto schaute mich an“ nennt Katja Petrowskaja deshalb ihre gesammelten Foto-Kolumnen aus den Jahren 2015 bis 2021, die von der Erfahrung des Gesehen- und Erfasstwerdens ausgehen.
Diese Blickumkehr wird gleich in der ersten Kolumne eingeübt. Das Foto zeigt einen Bergmann aus dem Donbass. Er hat einen roten Helm auf dem Kopf und eine Zigarette im Mund, in deren Rauch er sich aufzulösen scheint. Nur die sehr weißen Augen sind dahinter in seinem rußgeschwärzten Gesicht zu erkennen. Der Ort, in dem er lebt, heißt auf Russisch „Glück“, wie die 1970 in Kiew geborene und also zunächst in der Sowjetunion aufgewachsene Katja Petrowskaja weiß. Der Donbass war aber auch für sie so fern, dass sie nie dort gewesen ist. Doch die Augen des Bergmanns holen die ferne Gegend ganz nah heran. Oder vielmehr: Sie ziehen die Betrachterin zu sich herüber:
"Der Bergmann ist schwarz, und seine Augen sind weiß, aber er ist nicht blind, ich bin es, mit meinem Unwissen, mit meiner Ignoranz, gegenüber dieser Region, gegenüber diesen Menschen. Die Erkenntnis war schwarzweiß, aber das Foto war farbig, daraus blickte mir meine eigene Blindheit, meine eigene Ohnmacht entgegen."
Schauen als Akt des Waffenstillstands
Das sind Sätze aus dem Jahr 2015, Sätze aus und über eine Wirklichkeit, die sich seither dramatisch verändert hat. Schon damals aber kam es Katja Petrowskaja so vor, als wäre ihr Schauen ein „Akt des Waffenstillstands“, als würde nicht geschossen, solange sie hinsah. Das gilt auch für viele andere Bilder und Texte dieses Kolumnenbandes, der den Krieg schon in der Zeit zu fassen und zu beschreiben sucht, als er hierzulande nur ein fernes Gerücht gewesen ist.
Ein anderes Foto zeigt den Majdan in Kiew im Jahr 1943. Historische Spurensuche: Keines der da zu erkennenden Gebäude hat den Krieg überstanden. Petrowskaja knüpft daran eine Kindheitserinnerung ihrer Mutter, die miterlebte, wie deutsche Kriegsverbrecher dort öffentlich gehängt wurden. Wieder ein anderes Bild zeigt Radrennfahrer auf der „Friedensfahrt“ – dem osteuropäischen Pendant zur „Tour de France“ –, die 1986 in Kiew begann. Kurz zuvor ereignete sich die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl. Doch davon wissen die Menschen, die die Straßenränder säumen, nichts, weil man es ihnen verschwiegen hat. So handelt dieses Foto von dem, was nicht zu sehen ist: Von der Bedrohung, von der Ignoranz, von der Skrupellosigkeit der sowjetischen Machthaber. Immer wieder gelingt es Katja Petrowskaja, den Moment, den ein Bild konserviert, zu öffnen und die Zeit zu weiten, so auch hier, wenn sie sich auf der Straße des Radrennens an ein Türmchen mit einer großen Uhr erinnert, die in der Melodie der Kiewer Stadthymne läutete.
"Das Haus mit der Uhr ist hier vom Laub verdeckt. Diese Uhr hat Tschernobyl, Perestrojka und alle anderen Zeiten überlebt und verbrannte 2014 beim Kampf um den Majdan. Seitdem gibt es keine Uhr und keine Zeit über dieser Straße."
Daumenkino aus Augenblicken
Viele, doch längst nicht alle Bilder des Bandes richten den Blick auf die Ukraine. Doch immer geht es Katja Petrowskaja um das Flüchtige, Vergängliche, Zerbrechliche. Jedes Foto ist ein stillgestellter Augenblick, der aus dem Kontinuum der Zeit herausgeschnitten wurde. Das gilt für den Hobbyfotografen, der Gesichter von berühmten Schauspielerinnen aus dem Fernseher abfotografierte ebenso wie für den traurigen alten Mann, der 1968 in Prag, nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen, vor einem zerschossenen Haus steht.
Anders ist das nur bei den wunderbaren Porträtserien der Daumenkinos von Volker Gerling, denen auch eine Kolumne gewidmet ist. Gerling wandert durchs Land und fotografiert Menschen, denen er begegnet, doch nicht als Einzelbild, sondern als Serie fürs Daumenkino. Das Erstaunen und dann das begreifende Lachen ist den Porträtierten anzusehen. In Petrowskaja lösen diese Bildfolgen das Gefühl aus, die Zeit selbst in Händen zu halten und ihren Ablauf bestimmen zu können.
Die Dinge schauen auf uns zurück
Äußere Anlässe ihrer Kolumnen sind Bildbände, Ausstellungen, Veranstaltungen, aber auch Familienfotos, Kindheitsbilder oder ein LP-Cover, einmal sogar ein selbstgemachtes Foto von einer kleinen Wolke im Himmel über Berlin, wo Katja Petrowskaja seit 1999 lebt. Aber dann ist es doch wieder die Ukraine: ein brennendes Haus, so wie es ein deutscher Soldat auf dem Vormarsch 1941 gesehen hat. Auch von dort schauen die Dinge „mit leeren Augenhöhlen auf uns zurück“. Petroskajas eindrucksvolle Kolumnen verstärken die Blicke, die aus der Geschichte heraus in die Gegenwart ragen.
Katja Petrowskaja: „Das Foto schaute mich an“
Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2022
256 Seiten, 25 Euro
Bibliothek Suhrkamp, Berlin 2022
256 Seiten, 25 Euro