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Vom Sinn des Opfers

Der Begriff "Opfer" ist im Deutschen doppeldeutig. Er verweist auf das Heilige und das Säkulare, auf den Opferstock in den Kirchen und auf das profane Unfallopfer. Andere Sprachen, zum Beispiel das Englische, trennen das sakrale "sacrifice" vom weltlichen "victim". Doch auch Letzteres hat eine religiöse Wurzel, denn das lateinische "victima" bedeutet "Opfertier". Allen Bedeutungen des Wortes Opfer ist gemeinsam, dass die Geopferten als unschuldig angesehen werden. Wir stellen Opfer automatisch auf die Seite der Guten. Dabei sind sie das nicht immer, vor allem aber ist das Opfern kein unschuldiger Akt.

Von Ute Scheub |
    Es gibt nicht wenige Gelehrte, die annehmen, das geheime Zentrum der Religionen sei das Opfer. Der Totemismus sei die Urform aller Religionen, vertrat der französische Soziologe Emile Durkheim in seinem 1912 erschienenen Buch "Die elementaren Formen des religiösen Lebens". Das Totem war das Wappentier eines Clans, es galt der Sippe als "heilig" im ursprünglichen Sinne von unberührbar, ausgesondert, tabu. Wer das Tier tötete, mordete den Clan. Das Totemtier als gottähnliches Wesen forderte vom Clan zivilisatorische Verhaltensregeln, damit das Zusammenleben der Menschen nicht in Gewalt endete. Die Clanmitglieder lebten ihre mörderische Wut auf dieses domestizierende Wesen in regelmäßigen, streng ritualisierten Festen aus. Dabei schlachteten sie das Wappentier und aßen es gemeinsam auf, in einer Art Kommunion, die Tod und Wiederauferstehung des ganzen Clans symbolisierte. Diese Rituale, glaubt Durkheim, befähigten unsere Vorfahren, Urformen von Moral und Recht zu entwickeln.

    Die Hominiden in der afrikanischen Steppe waren selbst jahrtausendelang Opfer von wilden Bestien - von dieser These geht die US-Publizistin Barbara Ehrenreich in ihrem Buch "Blutrituale" aus. Ständig waren die Vormenschen auf der Flucht vor gefährlichen Löwen, Hyänen oder Säbelzahntigern. Um die Gruppe zu retten, kamen sie irgendwann auf die Idee, einen der ihren zu opfern: einer für alle. In unzähligen Kulturen wird dieses Urtrauma in immer neuen Variationen dargestellt: Menschen werden weiblichen und männlichen Raubtiergöttern zum Fraß vorgeworfen. Die unangenehme Erfahrung, nur ein leckerer Happen zu sein, ist wohl die Ursache für die menschliche Angewohnheit, Gewalt zu sakralisieren und das Blutopfer zu heiligen.

    Verständlicherweise fanden es schon die Urmenschen nicht so attraktiv, als Mittagessen eines Säbelzahntigers zu dienen. Einer der wichtigsten Schritte in der Menschheitsgeschichte bestand deshalb darin, den Bratspieß umzudrehen und selbst zum Jäger zu werden, zur Bestie, die die tierische Bestie zum Schnitzel macht. Abzulesen ist diese revolutionäre Wende in der Änderung der religiösen Kulte vom Menschenopfer zum Tieropfer. Damit feierten die Menschen ihren Sieg über die Tiere. Tieropferkulte finden sich in fast allen Kulturen, ob bei den alten Ägyptern, Hebräern, Griechen, Persern, Römern oder anderen.

    Das Opfer wird zur Verhinderung von Gewalt getötet. Doch sein Leiden, seine brutale Instrumentalisierung, sein Tod kann damit nicht ungeschehen gemacht werden. Gegen seinen eigenen Willen heiligt es die Gewalt und sorgt für deren Tradierung. Das Opfer schafft weitere Opfer, der Gewaltzyklus setzt sich fort. Fleischhungrige Priester dürfen weiter Messer wetzen. Übrig bleiben ein Haufen Knochen, jede Menge Schuldgefühle und tiefe Angst vor der Rache der Opfer.

    Vor ihrem Auszug aus Ägypten praktizierten auch die alten Hebräer das Menschenopfer. Ihr Gott fordert sie an mehreren Stellen des Alten Testamentes dazu auf. Abraham, verlangt er, solle seinen geliebten Erstgeborenen Isaak opfern. Erst als dieser das Messer am Hals des Sohnes ansetzt, schiebt ihm Gott ein Opfertier unter. Nun dürfen es Tiere sein, und sie können auch als "Sündenböcke" in die Wüste gejagt werden.

    Noch später ersetzt das Gesetz das Opfer, wenn auch leider nicht konsequent. Die Juden schließen einen Bund mit Gott, in dem sie auf Opfer verzichten und die Befolgung der göttlichen zehn Gebote geloben. Die religiöse Pflicht zu täglichen Gebeten, guten Werken und dem Studium der Tora werden zu symbolischen Ersatzhandlungen für das Opfer. Zuerst Tieropfer anstelle von Menschenopfern, dann Rituale anstelle von Tieropfern: Das sind eindeutige Fortschritte in der Menschheitsgeschichte. Endlich muss kein Blut mehr fließen.

    Aber das Christentum setzt das Menschenopfer wieder neu in Szene. Der Sündenbock wird zum Lamm Gottes, das am Kreuz alle Sünden auf sich nimmt. Und wer im gemeinsamen Abendmahl von Christi Leib kostet und von seinem Blut trinkt, der ist - nein, kein Kannibale, sondern von allen Sünden erlöst. Der Psychoanalytiker Ernst Simmel kommentierte, ich zitiere: "Das Christentum führte symbolisch die Totemfeste der Urzeit wieder ein."

    Im Koran findet sich fast die gleiche Opfergeschichte wie im Alten Testament. Abraham, der gemeinsame Urvater der Juden, Christen und Moslems, nennt sich hier Ibrahim, und sein Sohn heißt Ismail. Diesmal ist er nicht der Sohn Sarahs, sondern der von Abrahams zweiter Frau Hagar, und er ist mit seiner Opferung sogar einverstanden. In einer zeitgenössischen Interpretation dieser Koranstelle heißt es, ich zitiere: "Die Wahl Ibrahims war das Opfern, die von Ismail Aufopferung, das Martyrium, die Schahada."

    Aber Ibrahims Messer schneidet nicht, Allah schickt einen Widder als Ersatz und rettet Ismail. An die heldenhafte Opferbereitschaft dieser beiden, sagen islamische Gläubige, erinnere noch heute das Opferfest zum Ende der alljährlichen Pilgerfahrt nach Mekka. Jeder gute Moslem ist verpflichtet, an diesem Tag ein Tier zu opfern und das Fleisch mit Verwandten und Bekannten zu teilen. Vor diesem Hintergrund kam der gute Moslem und irakische Ministerpräsident Nuri al Maliki auf die unglückselige Idee, an diesem Tag einen Menschen zu opfern und gewissermaßen sein Fleisch mit allen Irakern zu teilen. Saddam Hussein wurde am Morgengrauen des Opferfestes gehängt.

    Bei den Schiiten wird das Opfern durch eine weitere Geschichte geheiligt: Hussein, der Enkel des Propheten Mohammed, wurde im Jahre 680 in der Ebene der heutigen irakischen Stadt Kerbela von der Armee des Tyrannen Yazid mitsamt seinen letzten Gefolgsleuten niedergemetzelt. Aus der Vorstellung heraus, jeder Schiit trage Mitschuld am Märtyrertod Husseins, werden alljährlich im schiitischen Trauermonat Muharram pathetische Prozessionen und Selbstgeißelungen abgehalten. Nur durch Bußübungen und neues Martyrium erscheint den Gläubigen Erlösung möglich.

    Dem sunnitischen Islam ist diese Idee von Selbstopfer und Erlösung jedoch fremd. Diese Glaubensrichtung wird in den arabischen Staaten, Afghanistan, Pakistan oder Palästina praktiziert. Dass heute schiitische wie sunnitische Selbstmordattentäter zum Menschenopfer zurückkehren, ist eine makabre Pointe der Weltgeschichte, mit verursacht durch moderne Medien und Internet, die aller Welt dieses vermeintliche Heldentum verkünden.

    Mit egomanischer Selbstherrlichkeit fordern die Suizidbomber die Krieger der westlichen Welt heraus. Der heroische Männlichkeitswahn in den islamischen Staaten und der popheroische in den christlichen USA schaukeln sich gegenseitig hoch. Der bekannte US-Kommentator Thomas Friedman schrieb 2003 in der "New York Times", ich zitiere: "Unter radikalen Muslimen hatte sich der Glaube breit gemacht, dass sich das Machtgefälle zwischen der arabischen Welt und dem Westen durch Selbstmordattentate ausgleichen lässt, weil wir [ also die Amerikaner] verweichlicht seien und ihre Leute bereit zu sterben. Diese Blase konnte man nur zerstechen, indem amerikanische Soldaten ins Herz dieser Welt vordrangen, von Haus zu Haus, und klarmachten, dass wir bereit sind, zu töten und zu sterben." Es war ein tragischer Fehlschluss, die Blase "zerstechen" zu können. Das Ergebnis ist heute im Irak zu besichtigen.

    Dass Selbstmordattentäter in bestimmten Kreisen als Helden gelten, macht die Gefährlichkeit von Opferkulten deutlich. Suizidbomber schwingen sich auf zu Gottgleichen, die das Recht haben, das Leben anderer Menschen zu beenden. Inzwischen sprengen sich sogar ältere Frauen in die Luft; so geschehen etwa im November 2006 in Palästina. Was eine gestandene Großmutter mit den versprochenen 72 Jungfrauen im Paradies anfangen will, bleibt dabei ihr Geheimnis. Die Gefolgsleute Osama bin Ladens hatten mit diesem Sonderangebot an jungfräulichen Bräuten arabische Freiwillige in den achtziger Jahren in den Afghanistankrieg gelockt, heute ist es der Irakkrieg.

    Aber Selbstmordattentäter und Menschenopferer sind wahrlich kein rein islamistisches Phänomen. Wir kennen die japanischen Kamikazeflieger oder die Suizidkämpfer der Tamil Tigers in Sri Lanka. Auch hierzulande wollten selbsternannte Rächer der Enterbten mit echten Eierhandgranaten am Sprengstoffgürtel ihre vermeintliche Männlichkeit beweisen: die Amokläufer von Erfurt und Emsdetten.

    Dazu passend ist es in vielen Cliquen von Jungmachos Mode geworden, vermeintliche Schwächlinge als "Du Opfer!" zu beschimpfen. Mancher Kommentator hat schon darüber gesonnen, wie das mit unserer heutigen Anerkennungskultur gegenüber Kriegs- oder Diskriminierungsopfern zusammenpasst. Aber die Jungs scheren sich nicht darum, dass es eben nicht zusammenpasst. Sie gehen einer uralten Lust am Verhöhnen, Verspotten und Drangsalieren von Schwächeren nach. Bloß warum?

    Dahinter steckt oft der Versuch, Minderwertigkeitskomplexe und Ängste vor sozialer Entwertung abzuwehren. Viele Täter waren früher selbst Opfer. Was nichts entschuldigt, aber viel erklärt. Männer, die als kleine Jungen geschlagen, gedemütigt und beschämt wurden, werden als Erwachsene oft selbst zu Tätern. Sie orientieren sich an den gewalttätigen Männern in ihrer Familie, die ihnen vormachen, dass sich Männlichkeit durch rabiate Durchsetzungsfähigkeit und das Niedermachen eigener Ängste definiert. Frauen, die als kleine Mädchen verprügelt, verhöhnt oder gar sexuell missbraucht wurden, schaffen es hingegen oftmals nicht, jemals aus der Opferrolle herauszukommen. Sie haben keine weiblichen Rollenvorbilder, die ihnen zeigen, wie das gehen könnte. Nicht selten geraten sie als Erwachsene an gewalttätige Männer und erleben einen tragischen Wiederholungszwang.

    Noch einmal zurück zum christlichen Menschenopfer. Wenn ich tagtäglich vor einem schmerzverzerrt leidenden und blutenden Christus niederknie, der auch für mich gestorben ist, fühle ich mich tief in Gottes Schuld. Tief ist auch meine Angst, Gott werde sich für den Verlust seines einzigen Sohnes womöglich rächen. Diese Gefühle, bewusst oder verdrängt, sind der Strick, mit dem Kirchenführer Gläubige an sich zu binden versuchen. Je unschuldiger Jesus, der Opferheld, das Unschuldslamm, in seiner Heiligkeit aufleuchtet, desto schuldiger fühle ich mich.

    Deshalb haben christliche Gläubige immer wieder Schuldige gesucht, auf die sie ihre unerträglichen Schuldgefühle projizieren konnten, und sie fanden die Juden als Christusmörder. Schon Paulus verkündete in der Bibel: "Die Juden haben den Herrn Jesus getötet... und gefallen Gott nicht und sind aller Menschen Feind." Und Martin Luther unterbreitete seinerzeit der Obrigkeit verschiedene Vorschläge, wie man mit den Juden verfahren solle: "Erstlich, dass man ihre Synagogen oder Schulen mit Feuer anstecke... Zum zweiten: dass man ihre Häuser desgleichen verbrenne und zerstöre..."

    Offenbar hat der Erlöser eben doch nicht so gründlich erlöst wie erhofft. Und der zynische Machtmensch Hitler hat genau gespürt, wie er die Schuldgefühle der Deutschen, die sie wegen der Millionen von Toten im Ersten Weltkrieg empfanden, für neue Verbrechen ausnutzen konnte. Kriminologen kennen das Phänomen, dass Verbrecher immer neue Verbrechen begehen, wenn sie unfähig sind, sich Schuld- und Schamgefühlen zu stellen. Die Deutschen verstrickten sich in der Nazizeit immer tiefer in Untaten, sodass am Ende kaum jemand mehr ohne Schuld blieb. Schuldgefühle können mörderisch sein. Sie lassen eine Täter-Opfer-Täter-Kette entstehen: Man opfert sich, um die eigene Täterschaft zu verstecken.

    Auch heute kommen die christlichen Kirchen offenbar nicht ohne Opferkitsch aus. Der Limburger Alt-Bischof Franz Kamphaus schrieb in einem Artikel für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", ich zitiere: "Leben ist... nur auf Kosten anderen Lebens möglich. Wie der schöpferische Aufbau die Zerstörung des Alten erfordert, so muss Lebendiges geopfert werden, um das Leben zu erhalten. Aus dieser Perspektive lässt sich Gewalt schlechterdings nicht aus der Welt wegdenken. Eine Moral, die Gewalt grundsätzlich und ausnahmslos verwirft und darum auch Blutopfer verurteilt, hätte darin keinen Platz. Sie gefährdete geradezu den Bestand der Welt." (Zitat Ende)

    Wohlgemerkt, der Bischof schreibt hier nicht über das Verhalten von Tieren, die mit Fressen und Gefressenwerden ja keine bewusste Gewalt ausüben, sondern er meint Menschen. Dabei kommt es ihm nicht in den Sinn, dass Menschen nicht gezwungen werden, Tiere zu schlachten und zu essen. Im Gegenteil könnte man ja meinen, dass die "Ehrfurcht vor dem Leben", die der Christ Albert Schweitzer predigte, auch eine Aufforderung zu vegetarischer Ernährung sein könnte. Aber Bischof Kamphaus hält das Blutopfer offenbar für eine Essenz des Christentums und ist nicht gewillt, Gewaltlosigkeit höher zu stellen als archaische Gewalt.

    Zwar verneint er die These, dass die Christen das Menschenopfer wiederbelebt hätten. Nicht Menschen würden Gott geopfert, schreibt er, sondern umgekehrt habe sich Gott in Gestalt seines Sohnes den Menschen geopfert. Aber weil die Schuld für diesen göttlichen Opfertod, die menschliche Täterschaft, nur durch weitere Opfer tilgbar ist, preist der Kirchenmann die "Opferbereitschaft" und, ich zitiere, den "Opfersinn als Sinn für die Notwendigkeit, im Dienst am Nächsten und der Gemeinschaft notfalls selbst das eigene Leben einzusetzen." Oh ja, wir sehen ihn vor uns, unseren wackeren Bischof, wie er jeden Tag aufs Neue seinen prächtigen Mantel für die Bettler dieser Welt zerteilt, um anschließend in der Kälte zu erfrieren.

    "Jesus died for somebody´s sins, but not mine", sang die Rocklady Patti Smith 1975 stellvertretend für viele ehemalige Gläubige. Und der Psychologe Volker Dittmar schreibt auf seiner Website unter dem Titel "Erbsünde und stellvertretendes Opfer", ich zitiere: "Jesus hat sich nicht für unsere Sünden geopfert, sondern für die allgemeine Schlechtigkeit der Welt, für die wir nichts können. Dafür ist - letztlich - Gott verantwortlich, also hat Gott sich selbst für seine eigene Schuld geopfert. Dass Gott einmal erfahren hat, wie es ist, als Mensch zu leben und zu sterben, erscheint mir [...] eine Art Katastrophenvoyeurismus zu sein."

    Jede Art von Opferkult schafft eine Psychostruktur schuldhafter Abhängigkeit. Auch und gerade bei Tätern gibt es so etwas wie Opfersucht, und dafür ist mein eigener Vater das beste Beispiel. Als NSDAP-, SA- und SS-Mitglied häufte er immer neue Schuld auf, die er nie wieder los wurde, weil er sich im und nach dem Krieg seinem eigenen Gewissen nicht stellte. Um sich nicht als Täter sehen zu müssen, stellte er sich als Opfer dar. Er forderte von anderen Erlösung ein, von der Kirche, von der Politik, er verlangte den Freispruch seiner Generation, die sich nach seinen Worten "für Deutschland geopfert" habe. Auf dem Kirchentag 1969 predigte er noch einmal das "große Opfer", die "selbstlose Hingabe an die Gemeinschaft", um sich sodann, vor zweitausend Zuschauern, mit einer Flasche Zyankali zu töten. Er versuchte, nicht nur seine individuelle Schuld, sondern die Schuld seiner Generation in einem grandiosen letzten Opferakt auszulöschen. Ich gebe gerne zu, dass meine grenzenlose Abneigung gegen Opfergehabe und Märtyrergetue hierin seinen Ursprung hat.

    Dass Männer sich "fürs Vaterland" oder andere idiotische Ideen opfern, ist allerdings ein Topos, der lange vor der Hitlerei erfunden wurde. Die alten Griechen waren es, die das Heldentum als Strategie gegen die menschliche Sterblichkeit entdeckten: Ein Held wird unsterblich, gottähnlich, weil er in der Erinnerung der Nachwelt weiterlebt. Das funktioniert allerdings nur, wenn Frauen, die diese Heroen einstmals geboren hatten, aus den heldischen Reihen ausgeschlossen werden. Nichts mehr soll an das Geborensein und die Sterblichkeit der unserer Helden erinnern. Deshalb ist Heldentum genuin männlich. Helden, sagt die US-Kulturwissenschaftlerin Nancy Hartsock, gebären sich gegenseitig in einer zweiten homosozialen Geburt, die die "Defekte" der heterosexuellen Geburt überwindet. Seit Homers "Ilias" spielen die Frauen in den Heldensagen unserer westlichen Welt keine aktive Rolle mehr - außer als Kriegsmotiv und Kriegsbeute. Du Tarzan, ich nur Jane.

    Aber auch Frauen dürfen sich opfern - für ihre Kinder und ihre Familien. Tatsächlich: Vor der Entdeckung von notwendiger Hygiene und Kaiserschnitt starben Mütter jahrtausendelang bei der Geburt ihrer Kinder. Allerdings erfolgten diese "Opfer" nicht freiwillig und waren deshalb im strengen Sinne auch keine. Doch die Ideologen des Patriarchats formten daraus die "weibliche Opferbereitschaft", und ihre Helfershelferinnen stimmten eifrig zu, um der Abwertung des weiblichen Geschlechts zu entkommen. Frauen seien dazu da, dem Führer ein Kind zu gebären, verkündeten schließlich die Nazis. In Variation zu Jesus am Kreuz führten sie die Mutter am Kreuz ein, das Mutterkreuz für alle, die vier und mehr Kinder gebaren.

    Als Hakenkreuze und Mutterkreuze außer Mode kamen, im Westdeutschland der fünfziger Jahre, blieb die Figur der heiligen, opferwilligen Mutter übrig. Die Opfermutti, die ihre Kleinen mit ihrem eigenen Blut aufpäppelt - das ist eine Ikone, die es nur in Deutschland gibt. Eine aufopferungsvolle Mutter und Hausfrau zu sein und so schnöde Dinge wie Karriere dem Manne zu überlassen, das sei die wahre Bestimmung der Frau, schreibt die deutsche Mutti Eva Herman noch im Jahre 2006. Nach ihren Worten sind "Liebe, Aufopferung, Mitgefühl, Gemeinschaftssinn" die wahren weiblichen Werte. Den Kampf, wer die aufopferungswilligste Sorte Frau sei, trägt die ehemalige "Tagesschau"-Sprecherin mit großer Aggressivität aus. Feministinnen belegt sie mit Attributen wie, ich zitiere, "mit schwarzen Kutten getarnte Scharfmacherinnen", "schwarze Streiterinnen", die "immer kampfbereit" einen "gezückten Dolch unter der schwarzen Kutte" trügen. Haben wir etwa die "Tagesschau"-Meldung verpasst, dass in Deutschland der Ku-Klux-Klan an die Macht gekommen ist? Oder, ganz anders gefragt: Wie muss es um ein Land bestellt sein, in dem Frauen in ihrer Opferwut jedes erkämpfte Stückchen Freiheit gleich wieder opfern?

    Aufopferung - der Psychologe Wolfgang Schmidbauer sieht darin keine Tugend, sondern eine psychische Störung. "Helfersyndrom" nennt er es, wenn Menschen andere Menschen bis zur Selbstaufgabe unterstützen. In Wirklichkeit, sagt Schmidbauer, sind die Aufopferungswilligen keineswegs selbstlos, im Gegenteil. Sie haben keinerlei Interesse daran, die Hilfsbedürftigen zu stärken, sondern halten sie in Abhängigkeit, weil sie gebraucht werden wollen, um mit diesem Gefühl ihr eigenes schwaches Ego zu stabilisieren. Menschen mit Helfersyndrom haben als Kinder meist die Erfahrung gemacht, von ihren Eltern nicht um ihrer selbst willen geliebt zu werden, sondern nur aufgrund ihrer Leistungen. In diesem Kindheitsmuster leben sie auch als Erwachsene weiter. Sie sind meist schwach, ängstlich und hilfsbedürftig, was sie mit ihrer Hilfe für noch Schwächere kompensieren.

    Opfer sein ist leider auch ein attraktiver Status. Er scheint die Menschen zu adeln und ihnen die Unschuld zurückzugeben. Wer von der Gesellschaft in seinem Opferstatus anerkannt wird, darf fordern und anklagen, ohne sich selbst befragen zu müssen, ob er oder sie vielleicht auch Täteranteile in sich trägt. Auch und gerade Frauen weigern sich nicht selten, aus der Opferrolle auszubrechen, obwohl sie ihnen schadet: Das Opfersein schmiedet sie mit eisernen Ketten an eine schlimme Vergangenheit und festigt ihre Ohnmacht. Viele zerstrittene Paare und Familien pflegen das tragikkomische Spiel Du-bist-immer-schuld-und-ich-bin-immer-dein-Opfer. Geschwister kämpfen manchmal um den Status des am innigsten leidenden Familienopfers, als handele es sich um einen Schönheitswettbewerb um den Rang einer Miss Sericordia.
    Dabei scheint es einen geheimen Zusammenhang zwischen Überhöhung und Ablehnung des Opfers zu geben. In den ersten Nachkriegsjahrzehnten verweigerten die Deutschen jede Anerkennung der Tatsache, dass sie für Millionen von Opfern verantwortlich waren. Sie wollten diese nicht sehen, weder die Toten noch die Überlebenden und ihre Leiden. Noch in den 60-er Jahren bestritten kassenärztliche Gutachter erfolgreich, dass KZ-Überlebende traumatisiert worden seien.

    Und bis heute nehmen die unverarbeiteten Gefühle unserer opfer- und täterreichen Vergangenheit gerne die Gestalt der "German Angst" an. Unsere hysterische Ängstlichkeit, unser Sicherheitswahn, unser Hang zu Melancholie, unser Bleideutschtum, das ganze nationale Katastrophengequatsche, all das sind Überbleibsel unbewältigter Geschichtserfahrungen. Der in Deutschland lebende US-Autor Eric T. Hansen kommentierte das in einem Interview des "Tagesspiegel" folgendermaßen, ich zitiere: "Man fühlt sich hier ständig bedroht vom Verlust der Seele, der Identität und glaubt, zu kurz zu kommen [...] Man liebt das Gefühl, Opfer oder bedroht zu sein. Entweder, weil das dramatischer ist, oder weil Underdogs besser dastehen als der Wirtschaftsbonze in seiner Luxuslimousine, obwohl die Deutschen genau das sind."

    Man liebt hier auch die Opfergeschichten. Eine ganze mediale Opferindustrie bedient die gefräßige, blutrünstige Gier des Publikums nach immer neuen herzerschütternden Stories. Vor allem junge Mädchen sind die Märtyrerinnen der westlichen Mediokratien. Zum Beispiel die 18-jährige Natascha Kampusch, die sich nach achtjähriger Kellerhaft aus der Gewalt ihres Entführers befreite. Oder die 13-jährige Stephanie, die nach fünfwöchiger Dauervergewaltigung in deutschen Fernseh-Talkshows medial weiter vergewaltigt wurde. Deutschland sucht das Superopfer.

    In der unübersichtlichen Welt der Moderne sind moralische Grenzlinien nicht mehr klar zu ziehen. Deshalb ist die Nachfrage nach guten Opfern und bösen Tätern so groß. Boulevardmedien betreiben Emotionsbewirtschaftung, und das gute, unschuldige Opfer ist für sie Mittel zum Zweck der Auflagensteigerung. Ihnen geht es um die Empörung, die sie gegen die Täter als menschliche Bestie richten können. Das Publikum stimmt lustvoll in diese Empörung ein. Es will die Verbrecher geteert und gefedert sehen. Je schlimmer diese Bösen sind, desto besser. Desto mehr fühlen sich die Menschen von ihren eigenen Sünden entlastet. Desto besser gelingt es ihnen, sich ausschließlich als Opfer der Verhältnisse zu fühlen.

    Auch für frühere oder kommende Kriegsschauplätze ist es typisch, dass es dort von Opfern nur so wimmelt. Auf beiden Seiten der Konfrontationslinie herrscht die Überzeugung: Unsere Feinde sind die alleinigen Täter, sie und nur sie haben den Konflikt begonnen, wir doch nicht. Sie und nur sie haben Verbrechen begangen, wir doch nicht. Die Berlinerin Bosiljka Schedlich, die mit Traumatisierten der Kriege in Ex-Jugoslawien arbeitet, ist überzeugt davon, dass es nur dann einen historischen Fortschritt gibt, wenn die Täter sich zu ihrer Schuld bekennen und damit den Opfern aus ihrer Rolle heraushelfen. Sie schreibt, ich zitiere: "Die Opfer sehen ihre Identität allein in der Opferrolle und wollen Opfer bleiben. Deswegen ist für die Opfer entscheidend, dass diejenigen, die ihnen das angetan haben, das zugeben. Dann müssen sie es nicht mehr selbst beweisen durch ihr Leiden und ihr Verhalten."

    Die südafrikanische Wahrheitskommission hat nach dem Ende des grausamen Apartheid-Regimes versucht, diesen Täter-Opfer-Ausgleich zu institutionalisieren. Täter, die öffentlich Rechenschaft über ihre Verbrechen ablegten und um Vergebung baten, erhielten Straffreiheit. Eine Zumutung für die Opfer. Aber eine noch größere Zumutung für die Täter. Die ganze Nation hockte vor dem Fernseher, schaute auf sie und debattierte über ihr Verhalten. Ein Verdrängen und Verschweigen wie in Nachkriegsdeutschland war nicht möglich. Eine zentrale Rolle spielte dabei der Kommissionsvorsitzende und Friedensnobelpreisträger Bischof Tutu mit seinem goldenen Humor. Wenn es passte, lockerte er die Atmosphäre mit Sprüchen wie diesem auf: "Als die ersten Missionare nach Afrika kamen, besaßen sie die Bibel und wir das Land. Sie forderten uns auf zu beten. Und wir schlossen die Augen. Als wir sie wieder öffneten, war die Lage genau umgekehrt: Wir hatten die Bibel und sie das Land."

    Wahrheitskommissionen wie in Südafrika machen Gerichtsprozesse nicht überflüssig, vor allem nicht die gegen notorische Leugner. Das Recht und die Justiz, ursprünglich aus dem Verzicht auf das Blutopfer entstanden, sind in ihrer zivilisierenden Funktion nicht hoch genug einzuschätzen. Doch heute verhängt ein bürokratisierter Justizapparat die Strafe oft genug als Selbstzweck. Die Opfer werden darüber vergessen. In vielen Ländern und vielen Fällen zeigt sich aber immer wieder, dass Opfer nicht nach Rache und hohen Strafen für die Täter dürsten, sondern nach Wahrheit. Wenn Täter ihre Taten nicht leugnen, sondern Verantwortung für sie übernehmen, dann gewinnen sie ihre Menschlichkeit zurück und die Opfer ihre Würde. Alle Seiten gewinnen.

    Wenn man Zivilisation als Bändigung von Gewalt versteht, dann sind Opferkulte barbarische, vorzivilisatorische Akte. Nur durch ihre gesellschaftliche Ächtung können wir Opfer-Täter-Ketten durchbrechen. Nur wenn wir aufhören, Lebewesen irgendwelchen fernen ideologischen Zielen zu opfern, können wir den wirklichen Opfern von Gewalt und Ungerechtigkeit in nachhaltiger Weise helfen.