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Vom Umgang mit einem Luxusartikel

Zeit gilt eine als entscheidende Komponente von Lebensqualität. Wie wir mit Zeit umgehen, damit befasst sich die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik. Forscher unterschiedlicher Disziplinen diskutieren darüber, was Zeitwohlstand ist, und überlegen, ob es neben dem finanziellen auch ein zeitliches Existenzminimum geben sollte.

Von Isabel Fannrich |
    "Zeitwohlstand würde ich definieren, ist nicht etwa der Umfang von Freizeit, wie das manchmal trivial genannt wird. Sondern Zeitwohlstand ist die optimale Dispositionsbefugnis über die eigene Zeit, und zwar kann das die eigene Zeit in der Erwerbsarbeit sein. Das kann die Zeit in der Familie sein, das kann die eigene Zeit für mich selbst sein. In all diesen Zeiten gibt es Tendenzen durch Zeitdiebe, die Zeit wegzunehmen oder die zeitliche Verfügungsbefugnis auf andere."

    Der Rechts- und Politikwissenschaftler Ulrich Mückenberger hat die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik im Jahr 2002 mit gegründet. Treibend ist bis heute die Frage, wie unsere Gesellschaft mit Zeit umgeht – und wie sich in der Praxis Zeitkonflikte lösen lassen.

    Auch heute noch debattieren die Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen darüber, was Zeitwohlstand ist. Gilt dieser doch neben der materiellen als weitere entscheidende Komponente von Lebensqualität. So könnte es außer dem finanziellen auch ein zeitliches Existenzminimum geben, überlegen die Forscher.

    Welche objektiven und subjektiven Kriterien kennzeichnen ein individuelles "Genug" an Zeit? Und vor allem: Wie lassen sich diese messen? Denn ohne konkrete Ergebnisse, sagt Mückenberger, kann der wissenschaftliche Diskurs kaum das politische Handeln beeinflussen, kann Zeitpolitik nicht den zeitlichen Wohlstand sichern.

    "Wir machen seit 30, 40 Jahren Forschung über Zeitstrukturen, über Alltagsstrukturen, über Geschlechterverhältnisse, über ökologische Zeitverhältnisse. Und meinen, da schon eine ganze Menge zu wissen. Und haben das Gefühl, die Gesellschaft um uns weiß davon wenig und die Politik macht davon nicht Gebrauch, von diesem Wissen, und das soll die Deutsche Gesellschaft für Zeitpolitik ändern."

    Das Handlungsspektrum ist breit: Der Einzelne benötigt mehr selbstbestimmte Zeit in allen Lebensbereichen. Aber auch kleinste Alltagsstrukturen, die den Menschen ihre Minuten stehlen, gilt es zu verändern. Etwa den Stau, das am Nachmittag bereits geschlossene Amt oder die lange Warteschlange in der Arztpraxis.

    Auf der einen Seite will der Zeitnachfrager mobil sein, seine Kinder jederzeit vom Kindergarten abholen, Tag und Nacht einkaufen können. Auf der anderen Seite regelt der Zeitanbieter den Takt von Bussen, Fabriken und Läden. Die Zeitpolitik will zwar für beide Seiten eine bessere Lösung finden, im Endeffekt aber die Rechte des Zeitnachfragers stärken, erklärt Mückenberger.

    Ein besonderes Gehör hat sich die Zeitpolitik in der Familienpolitik verschafft. Diese hat den Ausbau von Kindergärten zum Top-Ziel erklärt, um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie zu vereinfachen.
    Die Politikwissenschaftlerin Martina Heitkötter begrüßt diese Entwicklung als ersten Schritt. Denn die wissenschaftliche Referentin des Deutschen Jugendinstituts weiß aus empirischen Studien, wie knapp die freie Zeit von berufstätigen Eltern bemessen ist. Ihre wenigen freien Stunden widmen sie hauptsächlich den Kindern.

    "Wo allerdings ganz hohe Unzufriedenheit besteht, ist bei der Frage Zeit mit dem Partner, Zeit für sich selber und Zeit mit Freunden. Und da ist meine Kernthese, dass das diese unterbelichtete Dimension ist, dass das eine Restgröße ist, die in einem Timesqueeze, in so eine Mangel genommen wird, in so einer Quetsche drin steckt. Und dass wir viel über diese Familien und gemeinsame Zeit sprechen, aber diese anderen Facetten wie Zeit für Selbstsorge, Paarzeit und Zeit für Freunde unterbelichtet sind, die werden übersehen."


    Dass berufstätige Eltern mit Zweisamkeit geizen, schreibt Martina Heitkötter der mangelnden gesellschaftlichen Akzeptanz zu. Die Stunden neben Job und Alltagsmanagement sind so knapp, dass Mütter und Väter nur mit schlechtem Gewissen ein Wochenende lang Auszeit nehmen.

    Hatten der Ausbau von Kitaplätzen und Teilzeitarbeit bislang die Funktion, Arbeit und Familie unter einen Hut zu kriegen, müsse nun die Qualität dieser Vereinbarkeit gesteigert werden, fordert Heitkötter. Wenn Paare Zeit füreinander finden, oder Mütter und Väter sich erholen können, komme das der Gesellschaft zugute.

    "Die Frage ist aber zu sagen: Nehme ich mir das raus? Gestatte ich mir das? Oder ist da ein Klima vorhanden, wo da auch nicht nur eine Akzeptanz da ist, sondern wo man denkt: Das ist deine Verantwortung als berufstätige Mutter oder als berufstätiger Vater dafür zu sorgen, dass du im Lot bleibst selber und aber auch das Fundament deine Familie, die Beziehung gesund bleibt."


    Dass Zeitwohlstand an sich keine Lebensqualität bedeutet, beschreibt Uwe Becker, Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik, am Beispiel der Arbeitslosen. Diese haben Zeit im Überfluss. Doch sie müssen sich nicht nur in einem Leben einrichten ohne einen von außen vorgegebenen Takt. Hinzu komme, dass die Gesellschaft, in der eine Erwerbsbiografie das Maß aller Dinge sei, die vielen freien Stunden entwerte, sagt der theologische Direktor des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche im Rheinland:

    "Es geht ja um die Qualität von Zeit. Und die Entwertungsmechanismen von Zeit sind vielgestaltiger Art. Sie können oftmals Zeit auch nur einen gewissen Wert geben, wenn Sie auch einen materiellen Wert haben, also ich sag mal, wenn Sie Zeit auch nur nutzen können, um sich eine bestimmte Erlebniskultur zu verschaffen. Das setzt in aller Regel voraus, dass man gewisse materielle Mittel zur Verfügung hat. Aber das Zweite ist auch dieses Abgeschriebensein in der Zeit, also definiert zu sein als ein Mensch, dessen Zeit nicht werthaltig gestaltet wird, sondern ein Stück wertlos ist, weil sie definiert wird über ein Leben ohne Arbeit."

    Mehr noch: Die räumliche und zeitliche Mobilität eines Arbeitslosen unterliegt der ständigen zeitlichen Kontrolle durch die der staatlichen Arbeitsagenturen. Mit einem Ziel, spitzt Uwe Becker zu: dass sich die Beschäftigten mit den Arbeitslosen entsolidarisieren – und dadurch diszipliniert werden.

    "Wir haben in den letzten Jahren eine Welle von atypischen Beschäftigungsverhältnissen mit geringer Bezahlung. Wir haben das Phänomen des Working Poor, Armut in Arbeit, und die Menschen machen es mit, weil: Schlimmer geht immer. Und schlimmer geht immer heißt in dem Falls arbeitslos zu sein mit allem was dazu gehört: Nicht mehr gebraucht zu werden, entwertete Zeit, finanziell im Abseits zu stehen. Also wenn man so will, ist die materielle Ebene, die Ebene der Begrenzung des Raums und die zeitstrukturierende Ebene gleichermaßen drei Glieder der einen Kette, die besagt. Hier wird diszipliniert, und zwar werden diszipliniert diejenigen, die arbeiten."