Lange ist es um Cormac McCarthy recht still gewesen. Seit er in den 90er Jahren mit den drei Spätwestern seiner "Border Trilogie" und vor allem mit deren erstem Band, mit "All die schönen Pferde" beiderseits des Atlantiks zum Bestsellerautor avancierte, vergingen sieben Jahre, bis der kantige Mann aus El Paso sich zurückmeldete - und das mit Aplomb: 2005 zunächst mit einem knallharten Drogenthriller, der 1980 in Texas spielt, also im ehemaligen Cowboyland, wo gerne noch jene Tugenden beschworen werden, mit denen Präsident Bush seine Politik zu garnieren pflegt. Und ein Jahr später folgte eine apokalyptischen Endzeitvision, angesiedelt im Nirgendwo eines namenlosen und völlig zerstörten Landstrichs, vermutlich im Süden der Vereinigten Staaten.
Dieser Roman heißt "Die Straße", im Original "The Road", und ist nun auch in einer Übersetzung von Nikolaus Stingl bei Rowohlt in Deutsch erschienen. Und man liegt sicher nicht falsch, wenn man aus diesem Buch und aus der Reaktion darauf ein paar Reflexe der Krise des Selbstverständnisses der USA seit dem Jahr 2001 herauslesen möchte.
Worum geht es? Im Prinzip nur um zwei Figuren, um einen Mann und um einen etwa zehnjährigen Jungen, um Vater und Sohn, beide ohne Namen, auf einer Erde, über der die Sonne nicht mehr scheint, weil Asche den Himmel verdunkelt, weil es Asche regnet, weil Asche den Schnee zu einem grauen Schleier werden lässt, wo nahezu jede Tierart ausgestorben ist, wo die Pflanzen meist tot und fast alle Menschen umgekommen sind.
Ausgelaugt, kränkelnd und hungrig schleppen die beiden sich langsam entlang einer ehemaligen Interstate Richtung Süden; sie hoffen, irgendwann das Meer zu erreichen, weil es dort wärmer sein soll, weil sie nur dort überleben können. Sie besitzen nicht mehr als die dreckigen Kleider, die sie am Leib tragen, dazu jeder seinen aschgrauen Mundschutz, um die Luft, die sie atmen, zu filtern. Der Vater schiebt einen alten Einkaufswagen aus einem Supermarkt vor sich her, in sie dem Krempel, der vielleicht einmal nützlich sein könnte, und ein paar Konservendosen verwahren. Und am Griff dieses Wagens haben sie den Rückspiegel eines Motorrads angeschraubt, um zu sehen, was hinter ihnen auf der Straße passiert. Denn sie wandern in Furcht durch diese Welt aus Asche.
"Er misstraute alledem. Er sagte, die richtigen Träume für einen Mann in Gefahr seinen Träume von Gefahr und alles andere sei die Lockung der Trägheit und des Todes. Er schlief wenig, und er schlief schlecht. Er träumte, sie gingen durch einen blühenden Wald, wo Vögel vor ihnen herflogen und der Himmel von schmerzhaftem Blau war, aber erlernte sich von solchen Sirenenwelten loszureißen. Er dachte, wenn er lange genug lebte, werde die Welt endlich ganz und gar untergehen."
Das Überleben hängt für die beiden nicht nur von der Kälte und von genügend Nahrung ab, sondern davon, sich vor anderen Menschen zu verbergen und zu schützen. Daran herrscht von Beginn an kein Zweifel. Warum das aber so ist, enthüllt sich erst nach und nach. Dieses Land kennt jedenfalls keinen sozialen Zusammenhalt mehr. Außer den vereinzelten Wanderer ziehen nämlich auch Banden von Marodeuren und Kannibalen über die Straßen, die Gefangene machen und sie als Fleischvorrat in dunklen Kellern einlagern.
"Die Straße" ist in dieser Grundstruktur kompromisslos radikal. Cormac McCarthy erzählt von einer Welt, die über ihre eigene Vergangenheit kaum noch etwas weiß und auch nichts mehr darüber zu wissen braucht, weil nichts davon jemals wieder auferstehen wird. Noch nicht einmal der genaue Grund des Untergangs von Amerika ist denen bekannt, die ihn überlebt haben, und ob jenseits des Landstrichs, den sie mit Augen und Füßen ermessen können, noch irgendetwas anderes existiert, werden sie niemals erfahren.
"Die Uhren blieben um 1 Uhr 17 stehen. Eine lange Lichtklinge, gefolgt von einer Reihe leiser Erschütterungen. Er stand auf und trat ans Fenster. Was ist das?, fragte sie. Er gab keine Antwort. Er ging ins Bad und betätigte den Lichtschalter, aber der Strom war bereits ausgefallen. Im Fensterglas ein dumpfer rosiger Schimmer."
Vor dem Lichtblitz lebte der Mann mit einer Frau zusammen, und der Junge war noch nicht geboren. Wo sie lebten und wie sie lebten, wird nicht beschrieben. Und ob der Einschnitt eine nukleare Katastrophe oder ein Krieg gewesen ist, lässt der Roman ebenfalls ganz bewusst offen. Zurück geblieben ist eine Welt ohne Staat, ohne Gesellschaftsordnung, ohne Zukunft.
"In jenen ersten Jahren waren die Strassen mit Flüchtlingen bevölkert, die ihre Kleidung wie ein Leichentuch trugen, Mundschutze und Schutzbrillen aufhatten und in ihren Lumpen am Straßenrand saßen wie verarmte Luftschiffer. Ihre Schubkarren mit Ramsch beladen. Leiter und Handwagen ziehend. Die Augen hell in ihren Schädeln. Glaubenslose, leere Hülsen von Menschen, die die Landstrassen entlang wankten wie Migranten in einem Fieberland. Die Hinfälligkeit von allem und jedem endlich zutage getreten."
So konsequent ist nur selten vom Untergang der Welt, wie wir sie kennen, erzählt worden, im Film beispielsweise 1982 in Luc Bessons "Der letzte Kampf", wo Krieger ohne Sprechvermögen durch eine ähnliche Szenerie streifen, mit primitiven Waffen und vielleicht auch mit einer Gummipuppe im Gepäck, weil es keine Frauen aus Fleisch und Blut mehr gibt, und vielleicht auch, allerdings humorvoller, in Theaterstücken von Samuel Beckett, der auch nicht mehr als zwei Mülltonnen auf einer Bühne braucht, um die conditio humana gültig zu umschreiben.
Dabei ist doch die menschengemachte Apokalypse seit der Erfindung der Atombombe zu einem nur allzu vertrauten Sujet geworden: in Blockbustern, in Science Fiction-Szenarien, in den Reden der Politiker aller Couleur, bis hin zu den Aufrufen für den Krieg gegen den weltweiten Terror.
Der Essayist Tom Engelhardt hat daher in "Lettre 74" im Herbst des vergangenen Jahres sogar gefragt: Was wäre nach dem 11. September 2001 geschehen, wenn die Amerikaner und ihre angeblichen Feinde in den Jahrzehnten seit den Ende des Zweiten Weltkrieges nicht so oft im Kino gewesen wären? Wenn sie nicht alle via Leinwand die großen Erzählungen vom drohenden Untergang aufgesogen hätten? Wenn die Amerikaner nicht schon immer bewusst oder unbewusst darauf gewartet hätten, dass ihr Land in einer Katastrophe untergehen würde? Wenn also der Anschlag auf das World Trade Center nicht genau diese Klischees geradezu bedient und dann eine genauso klischeehafte Reaktion hervorgerufen hätte -- nämlich das moralische Pathos in einer Kriegserklärung ohne identifizierbaren Gegner? Und wenn nicht gerade dieser "Ruf zu den Waffen" im Namen von Demokratie und Menschlichkeit alles nur noch viel schlimmer gemacht hätte?
McCarthy verweigert sich solchen Konkretisierungen in seinem Roman ganz und gar und kommentiert sie dennoch. Er braucht dafür keinen Krieg und auch keine Politiker und keinen weltweiten Terror. Er braucht nur Menschen, die darauf zurückgeworfen sind wie futtersuchende, gedächtnislose Tiere umherzustreifen. Und unter denen spielt er durch, wie sich Gewalt am Leben erhält, gerade weil man sich vor etwas Bösem schützen will.
Ursache und Wirkung spielen dabei keine Rolle mehr. Und allenfalls Albert Einsteins Satz fällt einem zunächst dazu ein, der gesagt hat, er wisse, wie der vierte Weltkrieg geführt werden würde, nämlich mit Pfeil und Bogen.
"Eine Armee in Tennisschuhen, mit schwerem Schritt. In den Händen einen Meter lange Stahlrohrstücke, mit Leder umwickelt. Kordeln an den Handgelenken. Durch manche Rohrstücke waren kurze Ketten gefädelt, an deren Enden alle Arten von Knütteln befestigt waren. In wiegendem Gang, wie Spielzeuge zum Aufziehen, klirrten sie vorbei. [...]
Die folgende Phalanx trug mit Bändern verzierte Speere oder Lanzen, die langen Spitzen in irgendeiner primitiven Schmiede in Landesinneren aus LKW-Federn zurechtgehämmert [...]
Hinter ihnen kamen Karren, gezogen von angeschirrten Sklaven und hoch beladen mit Kriegsbeute, danach die Frauen, etwa ein Dutzend, einige davon schwanger, und zuletzt ein Reservekontingent von Lustknaben, für die Kälte zu dünn angezogen und um den Hals Hundehalsbänder, über die sie miteinander verbunden waren."
Aber Antiatom- und Friedensbewegung sind nicht die Tradition, in der man Cormac McCarthys Roman lesen sollte In diesen atavistischen Banden lebt vor allem jene Welt wieder auf, die er in seinem berüchtigtsten Roman, nämlich in "Blood Meridian" ("Die Abendröte im Westen") schon 1985 beschrieben hat. In diesem Roman hat der Schriftsteller seinerzeit den Wilden Westen gewissermaßen neu erfunden - und ihn von allem bereinigt, was daran herkömmlich als edel, freiheitsliebend und zivilisationsflüchtig erscheinen könnte.
"Die Abendröte im Westen" gilt neben Thomas Pynchons "Die Enden der Parabel" und William Gaddis' "Die Fälschung der Welt" als einer der Jahrhundertromane der amerikanischen Literatur. Im Werk von Cormac McCarthy war das Buch einer der ersten Höhepunkte nach drei vorangegangenen, hochgelobten aber wenig gelesenen Südstaaten-Geschichten um Serienmörder oder um inzestuöse Geschwisterbeziehungen. Es geht darin nicht mehr um den harten aber gerechten Wilden Westen, sondern um eine menschliche Existenzform, die man mit Vokabeln wie "grausam" oder "gottlos" nur unzureichend beschreiben kann. Es ist eine vorsoziale Welt, ein Landstrich vor aller Vergesellschaftung, ohne gültige Übereinkünfte zwischen Einzelnen oder Gruppen. Also können Hybris und Gewalt ihr je eigenes Regelwerk zur Philosophie erheben, können sich selber adeln und dem blutrünstigen Treiben einen tieferen Sinn zusprechen. In "Die Abendröte im Westen" ist das die Berufung des Richters Holden, eines ungeschlachten Albinos, der skrupelloser als alle anderen agiert und wortgewaltig davon predigt, dass alles vernichtet werden darf, womit er ganz persönlich nicht einverstanden ist.
20 Jahre später beschreibt Cormac McCarthy nun in "Die Straße" eine Menschenwelt, die jede Form der Vergesellschaftung hinter sich gelassen hat. Die Zivilisation, die amerikanische Kultur, die politische Verfassung, das alles war nur ein Zwischenspiel, und geblieben ist nicht mehr die Hybris, sich die Welt zu eigen zu machen, sondern die Angst und das Misstrauen vor denen, die übrig geblieben sind. Der Roman führt die Protagonisten also wieder an einen Nullpunkt, stellt sie wiederum in einen Raum ohne Moral. Aber die Frage danach, was "Gut und Böse" sein könnte, muss neu und anders gestellt werden.
Das betrifft zunächst das Bild, das von dem Vater gezeichnet wird. Er ist ganz gewiss einer, der sich aufopfern will und aufopfern wird, um seinen Jungen nicht allein zu lassen. Dafür ist diese Figur von den Kritikern gelobt und gepriesen worden.
Aber die Haltung des Vaters gegenüber allem anderen wird durch nichts als Angst und Misstrauen geprägt, durch den Wunsch nach Isolation und durch die Ablehnung aller Hilfeleistungen gegenüber anderen armseligen Menschen, denen die beiden gelegentlich auf der Straße begegnen. Es gibt durchaus gute Gründe dafür, denn wer auf dieser Straße eine Waffe besitzt, ist meist auch gewillt, sie zu benutzen. Und wer irgendwo ein paar Konserven gefunden hat, der muss daran denken, dass es sehr lange dauern kann, bis er wieder etwas zu essen finden wird.
Im Prinzip leben alle anderen auch nach dieser Devise, und jeder akzeptiert sie als das vorherrschende Gesetz.. Aber je länger man danach lebt, desto unmenschlicher droht man zu werden, gerade auch dann, wenn man sicher zu wissen glaubt, wer die Guten und wer die Schlechten sind, so wie der Vater, der seinem Sohn die Welt erklären muss, nachdem er einen Straßenräuber erschossen hat:
"Ich hätte vorsichtiger sein müssen, sagte er.
Der Junge blieb stumm.
Du musst mit mir reden.
Okay.
Du wolltest wissen, wie die Bösen aussehen. Jetzt weißt Du es. Vielleicht passiert das wieder. Meine Aufgabe ist es, auf Dich aufzupassen. Damit hat mich Gott beauftragt. Ich bringe jeden um, der Dich anfasst. Verstehst Du?
Ja.
Der Junge saß da, bis über den Kopf in die Decke gehüllt. Nach einer Weile blickte er auf. Sind wir immer noch die Guten?, fragte er.
Ja. Wir sind immer noch die Guten.
Und das werden wir auch immer sein?
Ja. Das werden wir immer sein.
Okay."
So kurz und lapidar geht es ständig zwischen den beiden hin und her, und "okay" ist lange Zeit die Formel, mit der sich ein Einverständnis zwischen ihnen wieder einstellt, eine Einwilligung des Jungen, die Antriebe seines Vaters zu akzeptieren. Es gibt auch andere, abgegriffene Floskeln dafür, etwa "weil wir das Feuer bewahren!" Aber je häufiger sich ähnliche Vorfälle wiederholen, desto weniger vertretbar erscheint diese väterliche Haltung, und der Junge droht daran zu zerbrechen.
Klarer als sein Vater spürt er, dass sie so nicht überleben werden, weder moralisch noch körperlich. Denn was "die Guten" wirklich ausmacht, lässt sich kaum noch erklären, wenn das, was früher einmal Nächstenliebe hieß, nicht mehr zum Verhaltenskodex dazu gehört. Oder wenn der Vater sich in durchschaubaren kleinen Notlügen verstrickt, weil er dem Jungen trösten will und der Junge das merkt und daher auch seinerseits Misstrauen entwickeln muss.
Wozu sie überhaupt noch "die Flamme bewahren", wenn nicht aus einem puren Selbstzweck heraus, das wird zunehmend unklar. Der Sohn hat die Welt vor dem Lichtblitz überhaupt nicht gekannt. Er hat keine Erinnerungen daran. Er kennt kaum etwas außer seinem Vater, und er weiß vielleicht gerade noch, dass seine Mutter die beiden irgendwann verlassen hat, um zu sterben, weil sie all den Bedrohungen keinen Widerstand mehr entgegensetzen wollte. Hatte sie resigniert oder war sie vorausschauend genug, um zu ahnen, worauf alles hinauslaufen würde?
Wie kommt der Junge dann aber dazu, an seinem Vater zu zweifeln, der ihn doch tatsächlich vor Mördern rettet und ihm von mal zu mal etwas zu essen besorgen kann? Erkennt er die inneren Widersprüche, wenn jemand das Gute will, dafür aber das Fragwürdige tut? Der Vater dagegen kennt nur eines: Weitermachen, und das sagt er so auch:
"Ich glaube, dort unten könnte es etwas geben, und deshalb müssen wir nachsehen. Wir können nirgendwo anders hin. Es muss sein. Ich möchte, dass Du mir hilfst. Wenn Du nicht die Lampe halten willst, musst Du den Revolver nehmen.
Ich halte die Lampe
Okay. Genau das tun die Guten. Sie versuchen es immer wieder. Sie geben nicht auf."
Das ist am Ende eine erbärmliche Philosophie, und das Schlimmste daran: Sie kommt einem so bekannt vor, weil es auch im wirklichen Leben viel zu viele gibt, die sich für die Guten halten, und deshalb einfach weitermachen mit dem, was sie immer schon getan haben, gerade auch in den USA nach 2001.
Angst ist nun mal kein guter Ratgeber, sondern erzeugt nur wieder neue Angst, aber Angst und der Wunsch, allein für sich zu stehen, ist das einzige , was den Vater vorwärts treibt, auch dann noch, wenn er selbst kaum mehr daran glaubt, dass es irgendwo besser sein könnte als da, wo sie hergekommen sind.
"God bless America" möchte man spotten, im Kalten Krieg, in den Filmen von Roland Emmerich, und nach 2001 auch im Krieg gegen den Terror. Und zugespitzt könnte man vielleicht auch sagen: Gott schütze Amerika dann aber auch vor denen, die in ihren Kritiken von McCarthys Roman allzu flott den Vater als Helden beschworen haben. Denn gerade der Vater ist auch das Problem.
Anders als die frühen Romane von Cormac McCarthy ist "Die Straße" ungeachtet dieses Themas kein sprachlich überbordendes Buch, keines, das wortgewaltig die Handlung ins Mythische überhöht. Der Schriftsteller hat sich selbst damit ein bisschen neu erfunden.
So knapp wie die Dialoge zwischen Vater und Sohn sind nun auch die Sätze und Abschnitte, in denen von ihrem Weg berichtet wird, von den wenigen Erinnerungen, von ihren Tagträumen. Wenn dabei gelegentlich eine theologische Dimension anklingt, dann auch nur splitterhaft, wie Restbestände von alten Ritualen, die Menschen einmal verbinden konnten. Sie sind gewiss nicht als der ultimative Schlüssel zur Botschaft dieses Romans.
So überhöht etwa der Vater die eigene Beschützerrolle, wenn er verzweifelt denkt: Wenn mein Sohn nicht das Wort Gottes ist, dann hat Gott nie gesprochen. Und der Sohn spricht ab und an rudimentäre Gebete, wenn er sich bei denen bedanken will, deren Vorräte sie gefunden haben, die selbst jedoch schon vor langer Zeit umgekommen sein müssen.
Dass der Junge am Ende vorläufig gerettet scheint, ist trotz solcher religiösen Motive keine Erlösung der Welt in einem biblischen Sinne. Und mit Gottvertrauen hat es auch nichts zu tun, auch wenn der Vater das bis zuletzt glauben möchte. Sondern die Rettung verdankt sich ganz irdisch einer erneuerten Form des Sozialen. Nach dem Tod des Vaters trifft der Junge auf der Straße einen weiteren unbekannten Mann:
"Der Mann, der nun in Sicht kam und bald darauf vor ihm stand und ihn ansah, trug einen graugelb gemusterten Skianorak. Über seiner Schulter hing an einem geflochtenen Ledernband mit dem Lauf nach unten eine Schrotflinte, und um die Brust hatte er einen Nylongurt geschlungen, der mit Flintenpatronen bestückt war. Ein Veteran alter Scharmützel, bärtig, die Wange narbig, mit eingedrücktem Jochbein, das eine Auge in ständiger Bewegung. Als er sprach, funktionierte sein Mund nicht richtig. Ebenso, wenn er lächelte.
Wo ist der Mann, mit dem Du zusammen warst?
Er ist gestorben.
War das Dein Vater?
Ja. Das war mein Papa.
Das tut mir leid.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Ich denke, Du solltest mit mir kommen.
Bist Du einer von den Guten?
Der Mann zog sich die Kapuze vom Kopf. Sein Haar war lang und verfilzt. Er blickte zum Himmel auf. Als ob es dort etwas zu sehen gäbe. Er sah den Jungen an. Ja, sagte er. Ich bin einer von den Guten. Warum nimmst Du nicht den Revolver runter?"
Es ist dieser Vorschuss an Vertrauen, der den Unterschied macht, von beiden Seiten eingefordert, und von beiden Seiten gewährt. Den Unterschied zwischen der Fortsetzung dessen, was eingefleischt war, und einem Neubeginn bei der Einrichtung zwischenmenschlicher Beziehungen.
Das ist der kritische Kern dieses Buches, der Abgrund, in den man erst mal blicken muss und der leise Appell. Nichts, was gewesen ist, taugt noch zur Wiedererrichtung der Welt, schon gar nicht die abgedroschenen Floskeln und die Selbstgewissheit derer, welche "die Flamme bewahren" wollen. Ausdiskutiert wird das nicht, nur nahe gelegt. Und das macht diesen Roman so unbequem.
Dieser Roman heißt "Die Straße", im Original "The Road", und ist nun auch in einer Übersetzung von Nikolaus Stingl bei Rowohlt in Deutsch erschienen. Und man liegt sicher nicht falsch, wenn man aus diesem Buch und aus der Reaktion darauf ein paar Reflexe der Krise des Selbstverständnisses der USA seit dem Jahr 2001 herauslesen möchte.
Worum geht es? Im Prinzip nur um zwei Figuren, um einen Mann und um einen etwa zehnjährigen Jungen, um Vater und Sohn, beide ohne Namen, auf einer Erde, über der die Sonne nicht mehr scheint, weil Asche den Himmel verdunkelt, weil es Asche regnet, weil Asche den Schnee zu einem grauen Schleier werden lässt, wo nahezu jede Tierart ausgestorben ist, wo die Pflanzen meist tot und fast alle Menschen umgekommen sind.
Ausgelaugt, kränkelnd und hungrig schleppen die beiden sich langsam entlang einer ehemaligen Interstate Richtung Süden; sie hoffen, irgendwann das Meer zu erreichen, weil es dort wärmer sein soll, weil sie nur dort überleben können. Sie besitzen nicht mehr als die dreckigen Kleider, die sie am Leib tragen, dazu jeder seinen aschgrauen Mundschutz, um die Luft, die sie atmen, zu filtern. Der Vater schiebt einen alten Einkaufswagen aus einem Supermarkt vor sich her, in sie dem Krempel, der vielleicht einmal nützlich sein könnte, und ein paar Konservendosen verwahren. Und am Griff dieses Wagens haben sie den Rückspiegel eines Motorrads angeschraubt, um zu sehen, was hinter ihnen auf der Straße passiert. Denn sie wandern in Furcht durch diese Welt aus Asche.
"Er misstraute alledem. Er sagte, die richtigen Träume für einen Mann in Gefahr seinen Träume von Gefahr und alles andere sei die Lockung der Trägheit und des Todes. Er schlief wenig, und er schlief schlecht. Er träumte, sie gingen durch einen blühenden Wald, wo Vögel vor ihnen herflogen und der Himmel von schmerzhaftem Blau war, aber erlernte sich von solchen Sirenenwelten loszureißen. Er dachte, wenn er lange genug lebte, werde die Welt endlich ganz und gar untergehen."
Das Überleben hängt für die beiden nicht nur von der Kälte und von genügend Nahrung ab, sondern davon, sich vor anderen Menschen zu verbergen und zu schützen. Daran herrscht von Beginn an kein Zweifel. Warum das aber so ist, enthüllt sich erst nach und nach. Dieses Land kennt jedenfalls keinen sozialen Zusammenhalt mehr. Außer den vereinzelten Wanderer ziehen nämlich auch Banden von Marodeuren und Kannibalen über die Straßen, die Gefangene machen und sie als Fleischvorrat in dunklen Kellern einlagern.
"Die Straße" ist in dieser Grundstruktur kompromisslos radikal. Cormac McCarthy erzählt von einer Welt, die über ihre eigene Vergangenheit kaum noch etwas weiß und auch nichts mehr darüber zu wissen braucht, weil nichts davon jemals wieder auferstehen wird. Noch nicht einmal der genaue Grund des Untergangs von Amerika ist denen bekannt, die ihn überlebt haben, und ob jenseits des Landstrichs, den sie mit Augen und Füßen ermessen können, noch irgendetwas anderes existiert, werden sie niemals erfahren.
"Die Uhren blieben um 1 Uhr 17 stehen. Eine lange Lichtklinge, gefolgt von einer Reihe leiser Erschütterungen. Er stand auf und trat ans Fenster. Was ist das?, fragte sie. Er gab keine Antwort. Er ging ins Bad und betätigte den Lichtschalter, aber der Strom war bereits ausgefallen. Im Fensterglas ein dumpfer rosiger Schimmer."
Vor dem Lichtblitz lebte der Mann mit einer Frau zusammen, und der Junge war noch nicht geboren. Wo sie lebten und wie sie lebten, wird nicht beschrieben. Und ob der Einschnitt eine nukleare Katastrophe oder ein Krieg gewesen ist, lässt der Roman ebenfalls ganz bewusst offen. Zurück geblieben ist eine Welt ohne Staat, ohne Gesellschaftsordnung, ohne Zukunft.
"In jenen ersten Jahren waren die Strassen mit Flüchtlingen bevölkert, die ihre Kleidung wie ein Leichentuch trugen, Mundschutze und Schutzbrillen aufhatten und in ihren Lumpen am Straßenrand saßen wie verarmte Luftschiffer. Ihre Schubkarren mit Ramsch beladen. Leiter und Handwagen ziehend. Die Augen hell in ihren Schädeln. Glaubenslose, leere Hülsen von Menschen, die die Landstrassen entlang wankten wie Migranten in einem Fieberland. Die Hinfälligkeit von allem und jedem endlich zutage getreten."
So konsequent ist nur selten vom Untergang der Welt, wie wir sie kennen, erzählt worden, im Film beispielsweise 1982 in Luc Bessons "Der letzte Kampf", wo Krieger ohne Sprechvermögen durch eine ähnliche Szenerie streifen, mit primitiven Waffen und vielleicht auch mit einer Gummipuppe im Gepäck, weil es keine Frauen aus Fleisch und Blut mehr gibt, und vielleicht auch, allerdings humorvoller, in Theaterstücken von Samuel Beckett, der auch nicht mehr als zwei Mülltonnen auf einer Bühne braucht, um die conditio humana gültig zu umschreiben.
Dabei ist doch die menschengemachte Apokalypse seit der Erfindung der Atombombe zu einem nur allzu vertrauten Sujet geworden: in Blockbustern, in Science Fiction-Szenarien, in den Reden der Politiker aller Couleur, bis hin zu den Aufrufen für den Krieg gegen den weltweiten Terror.
Der Essayist Tom Engelhardt hat daher in "Lettre 74" im Herbst des vergangenen Jahres sogar gefragt: Was wäre nach dem 11. September 2001 geschehen, wenn die Amerikaner und ihre angeblichen Feinde in den Jahrzehnten seit den Ende des Zweiten Weltkrieges nicht so oft im Kino gewesen wären? Wenn sie nicht alle via Leinwand die großen Erzählungen vom drohenden Untergang aufgesogen hätten? Wenn die Amerikaner nicht schon immer bewusst oder unbewusst darauf gewartet hätten, dass ihr Land in einer Katastrophe untergehen würde? Wenn also der Anschlag auf das World Trade Center nicht genau diese Klischees geradezu bedient und dann eine genauso klischeehafte Reaktion hervorgerufen hätte -- nämlich das moralische Pathos in einer Kriegserklärung ohne identifizierbaren Gegner? Und wenn nicht gerade dieser "Ruf zu den Waffen" im Namen von Demokratie und Menschlichkeit alles nur noch viel schlimmer gemacht hätte?
McCarthy verweigert sich solchen Konkretisierungen in seinem Roman ganz und gar und kommentiert sie dennoch. Er braucht dafür keinen Krieg und auch keine Politiker und keinen weltweiten Terror. Er braucht nur Menschen, die darauf zurückgeworfen sind wie futtersuchende, gedächtnislose Tiere umherzustreifen. Und unter denen spielt er durch, wie sich Gewalt am Leben erhält, gerade weil man sich vor etwas Bösem schützen will.
Ursache und Wirkung spielen dabei keine Rolle mehr. Und allenfalls Albert Einsteins Satz fällt einem zunächst dazu ein, der gesagt hat, er wisse, wie der vierte Weltkrieg geführt werden würde, nämlich mit Pfeil und Bogen.
"Eine Armee in Tennisschuhen, mit schwerem Schritt. In den Händen einen Meter lange Stahlrohrstücke, mit Leder umwickelt. Kordeln an den Handgelenken. Durch manche Rohrstücke waren kurze Ketten gefädelt, an deren Enden alle Arten von Knütteln befestigt waren. In wiegendem Gang, wie Spielzeuge zum Aufziehen, klirrten sie vorbei. [...]
Die folgende Phalanx trug mit Bändern verzierte Speere oder Lanzen, die langen Spitzen in irgendeiner primitiven Schmiede in Landesinneren aus LKW-Federn zurechtgehämmert [...]
Hinter ihnen kamen Karren, gezogen von angeschirrten Sklaven und hoch beladen mit Kriegsbeute, danach die Frauen, etwa ein Dutzend, einige davon schwanger, und zuletzt ein Reservekontingent von Lustknaben, für die Kälte zu dünn angezogen und um den Hals Hundehalsbänder, über die sie miteinander verbunden waren."
Aber Antiatom- und Friedensbewegung sind nicht die Tradition, in der man Cormac McCarthys Roman lesen sollte In diesen atavistischen Banden lebt vor allem jene Welt wieder auf, die er in seinem berüchtigtsten Roman, nämlich in "Blood Meridian" ("Die Abendröte im Westen") schon 1985 beschrieben hat. In diesem Roman hat der Schriftsteller seinerzeit den Wilden Westen gewissermaßen neu erfunden - und ihn von allem bereinigt, was daran herkömmlich als edel, freiheitsliebend und zivilisationsflüchtig erscheinen könnte.
"Die Abendröte im Westen" gilt neben Thomas Pynchons "Die Enden der Parabel" und William Gaddis' "Die Fälschung der Welt" als einer der Jahrhundertromane der amerikanischen Literatur. Im Werk von Cormac McCarthy war das Buch einer der ersten Höhepunkte nach drei vorangegangenen, hochgelobten aber wenig gelesenen Südstaaten-Geschichten um Serienmörder oder um inzestuöse Geschwisterbeziehungen. Es geht darin nicht mehr um den harten aber gerechten Wilden Westen, sondern um eine menschliche Existenzform, die man mit Vokabeln wie "grausam" oder "gottlos" nur unzureichend beschreiben kann. Es ist eine vorsoziale Welt, ein Landstrich vor aller Vergesellschaftung, ohne gültige Übereinkünfte zwischen Einzelnen oder Gruppen. Also können Hybris und Gewalt ihr je eigenes Regelwerk zur Philosophie erheben, können sich selber adeln und dem blutrünstigen Treiben einen tieferen Sinn zusprechen. In "Die Abendröte im Westen" ist das die Berufung des Richters Holden, eines ungeschlachten Albinos, der skrupelloser als alle anderen agiert und wortgewaltig davon predigt, dass alles vernichtet werden darf, womit er ganz persönlich nicht einverstanden ist.
20 Jahre später beschreibt Cormac McCarthy nun in "Die Straße" eine Menschenwelt, die jede Form der Vergesellschaftung hinter sich gelassen hat. Die Zivilisation, die amerikanische Kultur, die politische Verfassung, das alles war nur ein Zwischenspiel, und geblieben ist nicht mehr die Hybris, sich die Welt zu eigen zu machen, sondern die Angst und das Misstrauen vor denen, die übrig geblieben sind. Der Roman führt die Protagonisten also wieder an einen Nullpunkt, stellt sie wiederum in einen Raum ohne Moral. Aber die Frage danach, was "Gut und Böse" sein könnte, muss neu und anders gestellt werden.
Das betrifft zunächst das Bild, das von dem Vater gezeichnet wird. Er ist ganz gewiss einer, der sich aufopfern will und aufopfern wird, um seinen Jungen nicht allein zu lassen. Dafür ist diese Figur von den Kritikern gelobt und gepriesen worden.
Aber die Haltung des Vaters gegenüber allem anderen wird durch nichts als Angst und Misstrauen geprägt, durch den Wunsch nach Isolation und durch die Ablehnung aller Hilfeleistungen gegenüber anderen armseligen Menschen, denen die beiden gelegentlich auf der Straße begegnen. Es gibt durchaus gute Gründe dafür, denn wer auf dieser Straße eine Waffe besitzt, ist meist auch gewillt, sie zu benutzen. Und wer irgendwo ein paar Konserven gefunden hat, der muss daran denken, dass es sehr lange dauern kann, bis er wieder etwas zu essen finden wird.
Im Prinzip leben alle anderen auch nach dieser Devise, und jeder akzeptiert sie als das vorherrschende Gesetz.. Aber je länger man danach lebt, desto unmenschlicher droht man zu werden, gerade auch dann, wenn man sicher zu wissen glaubt, wer die Guten und wer die Schlechten sind, so wie der Vater, der seinem Sohn die Welt erklären muss, nachdem er einen Straßenräuber erschossen hat:
"Ich hätte vorsichtiger sein müssen, sagte er.
Der Junge blieb stumm.
Du musst mit mir reden.
Okay.
Du wolltest wissen, wie die Bösen aussehen. Jetzt weißt Du es. Vielleicht passiert das wieder. Meine Aufgabe ist es, auf Dich aufzupassen. Damit hat mich Gott beauftragt. Ich bringe jeden um, der Dich anfasst. Verstehst Du?
Ja.
Der Junge saß da, bis über den Kopf in die Decke gehüllt. Nach einer Weile blickte er auf. Sind wir immer noch die Guten?, fragte er.
Ja. Wir sind immer noch die Guten.
Und das werden wir auch immer sein?
Ja. Das werden wir immer sein.
Okay."
So kurz und lapidar geht es ständig zwischen den beiden hin und her, und "okay" ist lange Zeit die Formel, mit der sich ein Einverständnis zwischen ihnen wieder einstellt, eine Einwilligung des Jungen, die Antriebe seines Vaters zu akzeptieren. Es gibt auch andere, abgegriffene Floskeln dafür, etwa "weil wir das Feuer bewahren!" Aber je häufiger sich ähnliche Vorfälle wiederholen, desto weniger vertretbar erscheint diese väterliche Haltung, und der Junge droht daran zu zerbrechen.
Klarer als sein Vater spürt er, dass sie so nicht überleben werden, weder moralisch noch körperlich. Denn was "die Guten" wirklich ausmacht, lässt sich kaum noch erklären, wenn das, was früher einmal Nächstenliebe hieß, nicht mehr zum Verhaltenskodex dazu gehört. Oder wenn der Vater sich in durchschaubaren kleinen Notlügen verstrickt, weil er dem Jungen trösten will und der Junge das merkt und daher auch seinerseits Misstrauen entwickeln muss.
Wozu sie überhaupt noch "die Flamme bewahren", wenn nicht aus einem puren Selbstzweck heraus, das wird zunehmend unklar. Der Sohn hat die Welt vor dem Lichtblitz überhaupt nicht gekannt. Er hat keine Erinnerungen daran. Er kennt kaum etwas außer seinem Vater, und er weiß vielleicht gerade noch, dass seine Mutter die beiden irgendwann verlassen hat, um zu sterben, weil sie all den Bedrohungen keinen Widerstand mehr entgegensetzen wollte. Hatte sie resigniert oder war sie vorausschauend genug, um zu ahnen, worauf alles hinauslaufen würde?
Wie kommt der Junge dann aber dazu, an seinem Vater zu zweifeln, der ihn doch tatsächlich vor Mördern rettet und ihm von mal zu mal etwas zu essen besorgen kann? Erkennt er die inneren Widersprüche, wenn jemand das Gute will, dafür aber das Fragwürdige tut? Der Vater dagegen kennt nur eines: Weitermachen, und das sagt er so auch:
"Ich glaube, dort unten könnte es etwas geben, und deshalb müssen wir nachsehen. Wir können nirgendwo anders hin. Es muss sein. Ich möchte, dass Du mir hilfst. Wenn Du nicht die Lampe halten willst, musst Du den Revolver nehmen.
Ich halte die Lampe
Okay. Genau das tun die Guten. Sie versuchen es immer wieder. Sie geben nicht auf."
Das ist am Ende eine erbärmliche Philosophie, und das Schlimmste daran: Sie kommt einem so bekannt vor, weil es auch im wirklichen Leben viel zu viele gibt, die sich für die Guten halten, und deshalb einfach weitermachen mit dem, was sie immer schon getan haben, gerade auch in den USA nach 2001.
Angst ist nun mal kein guter Ratgeber, sondern erzeugt nur wieder neue Angst, aber Angst und der Wunsch, allein für sich zu stehen, ist das einzige , was den Vater vorwärts treibt, auch dann noch, wenn er selbst kaum mehr daran glaubt, dass es irgendwo besser sein könnte als da, wo sie hergekommen sind.
"God bless America" möchte man spotten, im Kalten Krieg, in den Filmen von Roland Emmerich, und nach 2001 auch im Krieg gegen den Terror. Und zugespitzt könnte man vielleicht auch sagen: Gott schütze Amerika dann aber auch vor denen, die in ihren Kritiken von McCarthys Roman allzu flott den Vater als Helden beschworen haben. Denn gerade der Vater ist auch das Problem.
Anders als die frühen Romane von Cormac McCarthy ist "Die Straße" ungeachtet dieses Themas kein sprachlich überbordendes Buch, keines, das wortgewaltig die Handlung ins Mythische überhöht. Der Schriftsteller hat sich selbst damit ein bisschen neu erfunden.
So knapp wie die Dialoge zwischen Vater und Sohn sind nun auch die Sätze und Abschnitte, in denen von ihrem Weg berichtet wird, von den wenigen Erinnerungen, von ihren Tagträumen. Wenn dabei gelegentlich eine theologische Dimension anklingt, dann auch nur splitterhaft, wie Restbestände von alten Ritualen, die Menschen einmal verbinden konnten. Sie sind gewiss nicht als der ultimative Schlüssel zur Botschaft dieses Romans.
So überhöht etwa der Vater die eigene Beschützerrolle, wenn er verzweifelt denkt: Wenn mein Sohn nicht das Wort Gottes ist, dann hat Gott nie gesprochen. Und der Sohn spricht ab und an rudimentäre Gebete, wenn er sich bei denen bedanken will, deren Vorräte sie gefunden haben, die selbst jedoch schon vor langer Zeit umgekommen sein müssen.
Dass der Junge am Ende vorläufig gerettet scheint, ist trotz solcher religiösen Motive keine Erlösung der Welt in einem biblischen Sinne. Und mit Gottvertrauen hat es auch nichts zu tun, auch wenn der Vater das bis zuletzt glauben möchte. Sondern die Rettung verdankt sich ganz irdisch einer erneuerten Form des Sozialen. Nach dem Tod des Vaters trifft der Junge auf der Straße einen weiteren unbekannten Mann:
"Der Mann, der nun in Sicht kam und bald darauf vor ihm stand und ihn ansah, trug einen graugelb gemusterten Skianorak. Über seiner Schulter hing an einem geflochtenen Ledernband mit dem Lauf nach unten eine Schrotflinte, und um die Brust hatte er einen Nylongurt geschlungen, der mit Flintenpatronen bestückt war. Ein Veteran alter Scharmützel, bärtig, die Wange narbig, mit eingedrücktem Jochbein, das eine Auge in ständiger Bewegung. Als er sprach, funktionierte sein Mund nicht richtig. Ebenso, wenn er lächelte.
Wo ist der Mann, mit dem Du zusammen warst?
Er ist gestorben.
War das Dein Vater?
Ja. Das war mein Papa.
Das tut mir leid.
Ich weiß nicht, was ich tun soll.
Ich denke, Du solltest mit mir kommen.
Bist Du einer von den Guten?
Der Mann zog sich die Kapuze vom Kopf. Sein Haar war lang und verfilzt. Er blickte zum Himmel auf. Als ob es dort etwas zu sehen gäbe. Er sah den Jungen an. Ja, sagte er. Ich bin einer von den Guten. Warum nimmst Du nicht den Revolver runter?"
Es ist dieser Vorschuss an Vertrauen, der den Unterschied macht, von beiden Seiten eingefordert, und von beiden Seiten gewährt. Den Unterschied zwischen der Fortsetzung dessen, was eingefleischt war, und einem Neubeginn bei der Einrichtung zwischenmenschlicher Beziehungen.
Das ist der kritische Kern dieses Buches, der Abgrund, in den man erst mal blicken muss und der leise Appell. Nichts, was gewesen ist, taugt noch zur Wiedererrichtung der Welt, schon gar nicht die abgedroschenen Floskeln und die Selbstgewissheit derer, welche "die Flamme bewahren" wollen. Ausdiskutiert wird das nicht, nur nahe gelegt. Und das macht diesen Roman so unbequem.