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Vom Ursprung des Lebens und der Kunst

In einem gottverlassenen Dorf am Ufer der "Grande Beune", ganz in der Nähe der für ihre Felsmalereien berühmten Höhlen von Lascaux, lässt der französische Schriftsteller Pierre Michon seine Erzählung spielen. Ein junger Lehrer trifft hier auf archaische Bilder des Stillstands und des Begehrens.

Von Agnes Hüfner |
    Der 1996 erschienene Text ist der Anfang eines größeren Romanprojekts, an dem der Autor fast zehn Jahre arbeitete, bevor er es schließlich aufgab. In Analogie zum gleichnamigen Aktbild des Malers Courbet, das den offenen Schoß einer Frau zeigt, sollte der Roman "Der Ursprung der Welt" heißen. Geblieben sind knapp hundert Seiten, auf denen der Autor vom Ursprung des Lebens und der Kunst erzählt, von der Urgewalt sexuellen Begehrens und urzeitlichen Ritualen, das Schicksal gnädig zu stimmen. In einem Gespräch mit der in Paris erscheinenden Zeitschrift "Genesis" erklärte Michon:

    "In Wirklichkeit ist 'Die Grande Beune' die Darstellung eines Mythos, die Erzählung liegt wie ein Schleier darüber."

    Michon siedelt die Geschichte in der Dordogne an, in der Nähe der für ihre Felsmalereien aus der frühen Steinzeit berühmten, mit Tierbildern und symbolischen Zeichen geschmückten Höhlen von Lascaux. Sie beginnt 1961. Der Erzähler hat sich spätabends im einzigen Hotel einer entlegenen Ortschaft am Ufer der Grande Beune einquartiert, denn hier soll er seine erste Stelle als Lehrer antreten. Er ist zwanzig Jahre alt. Er trifft auf Bilder des Stillstands: In der Gaststube hängt ein ausgestopfter Fuchs an der Wand. Die Trinker reden vom Fischen und Jagen, die Wirtin serviert ihm eine dieser ewigen Schlachtplatten.

    "Die Nacht, das Auge des Tieres, die roten Wände, die derbe Sprache dieser Leute, ihre urtümlichen Gespräche, dies alles schob mich in eine nicht zu definierende Vergangenheit, die in mir keine Freude auslöste, sondern ein diffuses Grauen, zu dem sich das Grauen fügte, bald vor Schülern stehen zu müssen. Diese Vergangenheit erschien mir als meine Zukunft."

    In der Vitrine des Klassenzimmers liegen Feuersteine, Werkzeuge, Waffen, "älter als Mykene, älter als Memphis, die ganze Genesis mit all ihren Verstorbenen". Verführerisch gegenwärtig dagegen die schöne Tabakverkäuferin des Ortes, Yvonne. In ihr erkennt der junge Lehrer den Inbegriff des Weiblichen. Er stellt ihr nach, wenn sie zu ihrem Liebhaber geht, und beobachtet erregt die Spuren der Lust, wenn sie zurückkehrt. Er verfällt einem archaischen Sinnenrausch, imaginiert Szenen einer animalischen Lust, das Objekt seiner Begierde zu entblößen, es wie ein Tier zu erlegen.

    Michon interpretiert nicht, er erfindet Bilder, in denen Natur und Landschaft die Erregung des Lehrers spiegeln. Da liest man, ich zitiere: "Die stark angeschwollene Grande Beune … leckte an ihren Ufern die hängenden Reste der Eiszapfen weg". Hinter dem realistischen Geschehen kommt eine zweite symbolisch überhöhte Realität zum Vorschein.

    Den Widerhall seiner eigenen Phantasien findet der Lehrer in den Ritualen der ersten Menschen, die in die Höhlen herabstiegen und malten, um das Wild und den Regen herbeizurufen,

    "Geweihe auf dem Kopf und Vaterunser murmelnd, auch darum, weil sie bestimmt 'König Ödipus' und die 'Theogonie' mit einer für uns unlesbaren, aus Tieren bestehenden Schrift auf diese Wände schrieben."

    Viel ereignet sich nicht in dieser nur wenige Monate umfassenden Erzählung. Einmal besichtigt der Lehrer eine der prähistorischen Höhlen, deren Wände nackt sind. Sie sind weiß wie das Fleisch Yvonnes, wie der Wal in Melvilles "Moby Dick", weiß wie das leere Blatt, das vor dem Schriftsteller liegt. Die Geburt der Kunst hat denselben Ursprung wie das Begehren des Schriftstellers, die Welt in Worte zu fassen. Es äußert sich ebenso brutal und schmerzhaft, ist ebenso unfassbar wie das Verlangen des Lehrers nach dem Körper der Frau.

    Michons Rückkehr in die Vorgeschichte beschreibt den schöpferischen Prozess als ein "uraltes Wunder". Ehrfürchtig verbeugt er sich im Essay "Rimbaud der Sohn" vor dem Genie des Dichters. Demütig spricht er in den Erzählungen "Leben der kleinen Toten" über den gescheiterten Versuch, die Toten in der Sprache lebendig werden zu lassen. Vielleicht, heißt es, wird mir einmal klar werden:

    "wie ich hätte schreiben müssen, damit die Emphase, die ich vergebens aufwende, ein klein wenig Wahres an den Tag gefördert hätte."

    Michons Sprache ist durch und durch sinnlich, kraftvoll und gewaltig wie das Erzählte. Die im Französischen unüblichen langen Sätze folgen dem Rhythmus der mündlichen Rede. Sie klingen wie der Gesang eines Rhapsoden. Sie schlagen den Leser in Bann und fordern ihn schroff heraus, die Vieldeutigkeit des Geschehens zu entziffern.

    Es ist bedauerlich, dass der Verlag nicht auf die mit Michons Werk vertraute Übersetzerin Anne Weber zurückgriff, die zuvor, von der Kritik hochgelobt, die Erzählungen "Leben der kleinen Toten” und den Essay "Rimbaud der Sohn" ins Deutsche übertragen hat.

    Die Geschichte endet, wo sie begann, im "immerwährenden Gasthaus". Einer der Fischer hat in der Grande Beune Lederkarpfen gefangen, noch nie wurden sie dort gesehen: "Es war", schreibt Michon, "wie ein uraltes Wunder."

    Pierre Michon: "Die Grande Beune"
    Aus dem Französischen von Katja Massury. Mit einem Nachwort von Jürg Laederach.
    Bibliothek Suhrkamp
    103 Seiten, 12,90 Euro