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Vom Wunderkind zum vielseitigen Künstler

Geplagt von innerer Zerrissenheit entfaltete sich Anton Rubinstein zu einem vielseitigen Künstler. Die fast ausschließlichen Ersteinspielungen von seinen Kompositionen durch Joseph Banowetz bieten einen Einblick in Rubinsteins musikalische Entwicklung.

Von Falk Häfner | 12.09.2010
    " Track 1 Melodie"

    Knapp vier Minuten sind von ihm geblieben: Etwa so lang dauert Anton Rubinsteins "Melodie in F", ein Ohrwurm, der im Wunschkonzert-Repertoire ganz oben steht und im Laufe der Jahrzehnte unzählige Bearbeitungen erfahren hat. Auf der Raritätenliste des Konzertbetriebes aber stehen die 17 Opern, die sechs Sinfonien, die fünf Klavier- und zwei Cellokonzerte von Anton Rubinstein, ebenso seine vielen anderen Klavierminiaturen. Letzteren hat sich der amerikanische Pianist Joseph Banowetz jetzt angenommen. Sozusagen als Fortsetzung, denn schon einmal hat er sich als Sachwalter Rubinsteins mit einer CD hervorgetan. Nun wartet Banowetz beim Label NAXOS mit einem neuen Album auf. Die darauf zu hörenden Ersteinspielungen dokumentieren Rubinsteins Entwicklung von dessen Frühphase bis ins hohe Alter und zeigen, dass vier Minuten als musikalisches Erbe dieses Komponisten eindeutig zu wenig sind!

    " Track 1 Sérénade russe"

    Hier klingt eindeutig russische Melancholie! Sie speist sich aus schlichten Melodien, wie man sie aus Mendelssohns "Liedern ohne Worte" kennt, gepaart mit der Gedankenschwere, die in den Rhapsodien von Brahms zu hören ist und aus der gelegentlich virtuos-glanzvolle Kaskaden à la Chopin hervorbrechen. Von alldem steckt in der Musik Rubinsteins etwas, auch in der eben gehörten "Sérénade russe". Was leicht als stilistisches Sammelsurium gedeutet werden kann, hat seine Ursachen im Privaten und war Rubinstein durchaus bewusst, denn er schrieb in seinem - erst posthum veröffentlichten - "Gedankenkorb" über sich selbst:

    "Den Juden bin ich ein Christ, den Christen ein Jude; den Russen bin ich ein Deutscher, den Deutschen ein Russe, den Klassikern ein Zukünftler, den Zukünftlern ein Retrograder u.s.w. Schlussfolgerung: ich bin weder Fisch noch Fleisch - ein jammervolles Individuum."

    "Ein jammervolles Individuum" als solches hätte ihn - außer ihm selbst - wohl kein Mensch wahrgenommen. Rubinstein war einer der wichtigsten Musiker seiner Zeit. Als Pianist wurde er mit Liszt auf einer Stufe gesehen; als Mitbegründer der "Russischen Musikgesellschaft" war er maßgeblich an der Gründung des ersten russischen Konservatoriums in St. Petersburg beteiligt; als Dirigent feierte er im In- und Ausland Triumphe.

    Rubinsteins Vorfahren väterlicherseits stammten aus Bessarabien, der heutigen Ukraine; die der Mutter aus dem preußischen Teil Schlesiens. Aus politischen und wirtschaftlichen Gründen entschieden sich die jüdischen Eltern, Anton 1831 taufen zu lassen. Gesprochen wurde im Hause Rubinstein russisch, deutsch und französisch. Die Mutter, ebenfalls eine versierte Pianistin, führte ihn schon früh ans Klavier und drängte ihn zum Üben. Bereits mit fünf Jahren komponierte Anton sein erstes Klavierstück. Mit neun Jahren folgte der erste öffentliche Auftritt. Der Start einer Wunderkind-Karriere. Nur ein Jahr später, 1840, hörte Liszt ihn in Paris spielen. Und förderte fortan das junge Ausnahmetalent.

    Rubinsteins Ruf verbreitete sich in ganz Europa. Nach einem Konzert in London soll der berühmte Pianist Ignaz Moscheles bewundert gesagt haben:

    "Die Finger dieses russischen Jungen sind so leicht wie Federn und gleichzeitig so kräftig wie die eines Mannes."

    Dazu kam der überschäumende Arbeitseifer des jungen Künstlers, der jede sich bietende Herausforderung annahm, durch die Welt reiste und mit allen wichtigen Musikern seiner Zeit zusammentraf. Natürlich fand dies in seinen eigenen Kompositionen seinen Niederschlag. Hier ein frühes Salonstück, seine Romanze aus dem Jahre 1854.

    " Track 10 Romanze"

    Von Rubinsteins bereits geschilderter innerer Zerrissenheit erzählt seine meist salonhafte Musik freilich nur wenig. Rubinstein zog dem Konzertieren das Komponieren vor. Seine größten Erfolge jedoch, die erzielte er auf der Bühne: Legendär sind seine sogenannten Mammutkonzerte, bei denen er sieben aufeinander folgende Tage lang auftrat und jeweils über vier Stunden konzertierte; dabei zum Beispiel acht Beethoven-Sonaten hintereinander spielte oder alle Chopin-Etüden mit einer eigenen Sonate und Stücken russischer Komponisten kombinierte. Dass Rubinstein während eines Konzertes einmal ohnmächtig zusammenbrach, ist nicht verwunderlich. Ebenso, dass ihm neben seinen unzähligen Verpflichtungen nur noch wenig Zeit und Muse geblieben sein dürfte, um zu komponieren. Manche der Stücke, die der Amerikaner Joseph Banowetz jetzt erstmalig eingespielt hat, wirken denn auch etwas flüchtig zusammengezimmert. Erstaunlicherweise mangelt es besonders den späten Kompositionen der Sammlung "Souvenir de Dresde" aus dem Jahr 1894 - dem Todesjahr Rubinsteins - in den virtuosen Sätzen gelegentlich an Einfallsreichtum, Eleganz oder auch an harmonischer Raffinesse.

    "Track 6 Novellette"

    Mögen solche schwächeren Kompositionen auch Rubinsteins angeschlagenem Gemütszustand im Alter zuzuschreiben sein - er litt zunehmend unter Depressionen -, sie runden doch das Bild dieses außergewöhnlich produktiven und vielseitigen Künstlers ab. Der amerikanische Pianist Joseph Banowetz setzt dabei auf klar strukturiertes Spiel. Hin und wieder fast eine Spur zu erdig und diesseitig. Manche Kompositionen auf der CD hätte man sich schwebender, entrückter und vor allem mit geschmeidigerem, phrasenschmeichelnden Legato gespielt vorstellen können. Unbestritten jedoch ist der diskografische Wert der Aufnahme: Joseph Banowetz' neue, bei NAXOS erschienene CD macht fast ausschließlich mit Ersteinspielungen wie Rubinsteins vielschichtigem "Akrostichon Nr. 1" oder dem op. 26 - einer Romanze mit nachfolgendem Impromptu - vertraut. Musik, die zu entdecken sich lohnt. Meint Falk Häfner, der sich damit verabschiedet.

    " Track 12 Akrostichon op. 37, daraus: Nr. 1 (L)"

    Diskografie
    Anton Rubinstein - Piano Music
    Joseph Banowetz, Klavier
    (NAXOS 8.570942)