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Von A wie Abzug bis Z wie Zivilgesellschaft

Seitdem der Abzug der Bundeswehr aus Kundus näher rücke, verdichte sich Tag für Tag ein Sprach-Wirrwarr in der Berichterstattung. Von A wie Abzug bis Z wie Zivilgesellschaft haben wir es mit einer für den Laien kaum dechiffrierbaren Mischung aus Fakten, Behauptungen, Wunschvorstellungen zu tun, meint Martin Gerner.

Von Martin Gerner |
    "Spiegel"-Leser wissen mehr – lautet der bekannte Werbespruch des Hamburger Magazins. Das Inhaltsverzeichnis des "Spiegel" liefert uns dabei regelmäßig einen idealisierenden Hinweis darauf, dass Afghanistan längst deutsche Innenpolitik ist. Jedenfalls taucht die Mehrzahl der Berichte über den Hindukusch unter der Rubrik 'Deutschland' auf, neben Hühnerpest, NSU-Prozess und den Zuständen deutscher Forensik.

    Das ist natürlich in erster Linie der Bundeswehr in ihrer nicht mehr so neuen Interventionsrolle geschuldet. Denken wir die mediale Ressort-Zuordnung 'Deutschland' für Afghanistan einmal bis an ihr Ende, dann bestünde tatsächlich Hoffnung, dass ins Land reisende Korrespondenten das Idiom des derart Heim-geholten intervenierten Landes einmal beherrschen könnten. Und mit ihm Begriffe wie Ethnie und Stamm zu unterscheiden. Kulturaustausch ohne Übersetzer.
    Ein Traum von Kabul.

    Statt dessen verdichtet sich je näher der Abzug rückt, bei dem übrigens immer noch genug Soldaten im Land zurückbleiben, Tag für Tag ein Sprach-Wirrwarr, ein news-speak im Orwellschen Sinn, bei dem sich Projektion und Ideal wie Mehltau über reale Zustände legen.

    Von A wie Abzug bis Z wie Zivilgesellschaft haben wir es mit einer für den Laien kaum dechiffrierbaren Mischung aus (verkürzten) Fakten, Behauptungen, Wunschvorstellungen zu tun.
    A wie Afghanisierung oder Ü wie Übergabe in Verantwortung sind dabei zwei Seiten einer Medaille. Beide - Übergabe wie Verantwortung – kaschieren mehr schlecht als recht einen Prozess, in dem Afghanistan als Projektionsfläche für unsere überdimensionierten Blaupausen fungiert. Weil Demokratie und Good Governance nicht wie erhofft funktionieren, übergibt man den Bettel nach zäh verlaufenden Jahren an heimische Regierung und Zivilgesellschaft. Nun macht mal! Dabei ist das neue Staatsgebilde zu guten Teilen eine Konstruktion westlicher Juristen und Experten.

    Mission erfüllt wird es am Ende offiziell heißen, während gleichzeitig ein großer Teil der afghanischen Bevölkerung auf gepackten Koffern sitzt, die Flucht ergreift oder schon ergriffen hat – ein offensichtlicher Widerspruch.

    Allerdings fallen die Medien und das Feuilleton als vierte Gewalt, als Watchdog oder Korrektiv in dem Prozess weitgehend aus. Permanente Korrespondenten vor Ort sind Mangelware. Sind sie nicht existent. Weshalb über die Jahre eine Öffentlichkeit am Tropf offizieller Verlautbarungen dahin vegetiert.

    Unerledigt sind Fälle von millionenschwerer Korruption unter deutschen Hilfsorganisationen, denen sich große überregionale Blätter nicht angenommen haben. Warum eigentlich nicht?, fragt man sich. Es sind Geschichten, die ein bezeichnendes Licht auf den Zustand der Republik werfen. Oder christliche Missionierung am Hindukusch, ein Feld, das ebenso kulturell prekär wie juristisch sensibel ist. Belegt ist auch Bündnishilfe bei gezielten Tötungen unter Ägide des US-Militärs, ein Bereich mit vielen sogenannten Kollateralschäden. Die Liste ließe sich fortsetzen.
    Wegen des Abzugs sterben jetzt afghanische Sicherheitskräfte, wo vorher ISAF-Soldaten gefallen sind, lesen wir. Afghanische Armee und Polizei haben allerdings auch schon vor den Abzugsplänen den größeren Blutzoll gezahlt. So wird Geschichte geschrieben. Und das Drehbuch dazu entsteht im Westen.

    Unter der Überschrift "Die Küche bleibt kalt" lesen wir in diesen Tagen von der bevorstehenden Auflösung des Militärlagers Kundus, mit hochwertigen Gerätschaften im Kombüsen- und Kochenbereich. Die Afghanen, so der Autor, könnten die komplexen Anlagen weder bedienen noch instand halten. Sie wollten stattdessen ihre eigenen alten Feuerstellen zurück, behauptet der Artikel, ein freiwilliger Rückzug der afghanischen Gastgeber in die Steinzeit also. Dies scheint, mit aller Vorsicht und vor dem Hintergrund des bekannten Pragmatismus der Afghanen, dann doch mehr Dichtung als Wahrheit zu sein. Da wir aber K wie Kulturnation Afghanistan nie gelernt haben zu deklinieren, könnte am Ende das A auch für Analphabetentum stehen – unser eigenes wohlgemerkt, über die Komplexität einer fremden Kultur, der wir uns nie richtig ausgesetzt haben.