Eine schmale Straße in Berlin-Friedrichshain: Autos rumpeln übers Kopfsteinpflaster, Passanten hetzen zur nahen S-Bahnstation Ostkreuz. Ein Café reiht sich hier an das andere, dazwischen Imbissbuden, Floristen, Bäckereien, Lebensmittelläden und diverse Einzelhändler ---- sowie Frisöre, eine der Branche ohne Mindestlohn.
Einer der drei Frisörläden gehört Sera Firat. Die 46-Jährige steht gerade am Waschbecken, spült einer Kundin die überschüssige Farbe aus den Haaren. Einen Mindestlohn würde sie gerne zahlen, schon alleine deshalb, weil Sera Firat selbst viele Jahre als Angestellte für einen Hungerlohn jobben musste.
"Wenn jetzt jeder acht Euro zahlen muss, das finde ich schön, stimme ich zu, werde ich auch zahlen, das wäre gut."
Um die tausend Euro Grundgehalt zahlt Firat ihren Friseurinnen, das macht etwas mehr als sechs Euro die Stunde. Zusätzlich gibt es bei ihr eine Provision, wodurch sich der Verdienst der Frauen – abhängig vom geleisteten Umsatz - auf knapp sieben Euro die Stunde erhöhen kann. Auf Trinkgelder sind ihre Mitarbeiterinnen deshalb unbedingt angewiesen. Und für das bisschen Trinkgeld, das weiß Sera Firat aus eigener Erfahrung, wird gerne mal geflunkert.
"Wenn ich jetzt einer 70jährigen Frau sage, sie sehen aus wie 45. Du wirst unecht. Haben sie mal einen Arzt gesehen, der bei ihnen geschleimt hat? Das gibt es nur beim Kellnern und beim Frisör."
Esman Aras steht ein paar Meter von ihrer Chefin entfernt. Sie färbt einer Kundin gerade rote Strähnchen, umwickelt die Haare mit Alufolie und nickt dabei heftig.
"Ne, leben kann man nicht davon, Trinkgeld gibt’s auch nicht mehr wie früher, ich verstehe die Leute auch, die haben ja selber nichts. Früher war das so mit dem Trinkgeld. Früher war, 50, 60 Euro ja! Jetzt ist das um zehn, fünfzehn Euro, manchmal 20, wenn man Glück hat.
Kundin: Von mir kriegen Sie immer was, ja das ist so."
Die beiden Frauen unterhalten sich noch eine ganze Weile über das Thema. Die Kundin erzählt, dass sie selbst lange in einem Call-Center gearbeitet hat, für 700 Euro netto im Monat. Die Frauen sind sich schnell einig: Für sie ist ein Mindestlohn eine gute Perspektive.
"Oh, das ist natürlich toll. Sollen se nur machen. – Ich finde es eine Schade, dass jemand arbeiten muss für fünf Euro und kann davon nicht leben. Hier drüben im Kaufland beim Bäcker, da kenn ich einige, die rennen noch zum Jobcenter, weil sie davon nicht leben können. Das ist eine Frechheit. – Also, wenn Mindestlohn beim Frisör gibt, dann würden auch ganz, ganz viele arbeiten wollen. Viele wollen nicht arbeiten, weil es sehr wenig ist. Ich kenne viele, mit denen ich auch gesprochen habe, die sagen, da gehe ich lieber nicht arbeiten, weil da verdient man ja fast gar nichts."
Zurück auf der Straße am Berliner Ostkreuz. Ein paar Hundert Meter weiter, zwischen Café und Pizzaservice, hat ein vegetarischer Imbiss neu eröffnet. Auch das Gaststätten- und Hotelgewerbe ist eine Branche mit extrem niedrigen Löhnen. Laut Statistischen Bundesamt verdiente ein Arbeitnehmer im Gastgewerbe im vergangenen Jahr durchschnittlich um die 1.150 Euro brutto im Monat.
In der Imbissbude steht ein junger Mann in einer offenen Küche hinter der Theke. Er schnippelt Gemüse klein. Seinen Namen will er nicht nennen. Er ist gelernter Koch, bekommt aber nur einen niedrigen Lohn. Wie viel es genau ist, will er lieber nicht sagen.
"Es geht langsam in den Bereich, dass es angemessen ist. Unter zehn Euro ist eine Abspeise, finde ich. Das geht gar nicht, würde ich sagen, nicht wenn man eine Berufsausbildung gemacht hat."
Eine abgeschlossene Berufsausbildung jedoch ist hierzulande schon lange keine Garantie mehr dafür, dass man für seine Arbeit auch angemessen bezahlt wird. 70 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnbereich haben ihren Beruf erlernt, hieß es jüngst in einer Veröffentlichung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Sieben Prozent haben sogar ein Hochschulstudium beendet. Auch die Zahl der Betroffenen steigt: Im Jahr 1995 arbeiteten 15 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor, mittlerweile sind es schon 22 Prozent. In absoluten Zahlen laut Gewerkschaft: 6,55 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland. Ein gesetzlicher Mindestlohn – so hoffen es zumindest die Befürworter – könnte diese negative Entwicklung aufhalten.
Der Koch im vegetarischen Imbiss ist zwar ein Betroffener, aber dennoch anderer Meinung.
"Das Problem ist, dass die Arbeitgeber unter Druck stehen und die das gar nicht bezahlen können, weil sie so viele andere Ausgaben noch haben, weil die Lohnnebenkosten sind sehr hoch und das ist auch der Punkt. Wenn die gesenkt würden, würden die Löhne auch steigen und vielleicht braucht man dann auch keinen Mindestlohn."
Während er weiter Gemüse kleinschnippelt, kommt der Koch ins Grübeln. Die niedrigen Löhne seien doch Absicht, meint er. Und typisch für unsere schnelllebige Gesellschaft.
"Schnell, schnell, billig, billig, die das auch stützt. Das das halt scheinbar auch gewollt ist."
Dass es auch anders geht, zeigt die Bio-Company, ein großer Ökosupermarkt, der in diesen Tagen eine weitere Filiale in Berlin-Friedrichshain eröffnen wird. Noch sind die Mitarbeiter dabei, die letzten Regale einzuräumen. Geschäftsführer Georg Kaiser kommt vorbei und plaudert mit seinen Leuten. Seine Meinung zum Thema Mindestlohn ist eindeutig.
"Also, ich find’s peinlich. Ein Mindestlohn kann dem ganzen Land gut tun, also egal in welchem Sektor. Ich verstehe auch nicht, warum da zwischen Berufsgruppen unterschieden wird. Ich denke mal ein Mindestlohn ist so zu definieren, dass man sagt, das braucht ein Mensch, um ohne Transferleistungen über die Runden zu kommen. Und dann kostet halt Fensterputzen ein bisschen mehr als Nothing. Dann muss man entweder selber putzen oder man ist bereit den Preis zu zahlen."
Er zahlt den Preis: Bei ihm bekommen Neulinge, die noch eingearbeitet werden müssen, etwas mehr als 8,70 Euro die Stunde. Zum Vergleich: Abteilungsleitern bezahlt er 12,70 Euro. Diese Unterscheidung in der Eingruppierung findet Georg Kaiser wichtig. Der Geschäftsführer befürchtet allerdings, dass für viele Unternehmer der Mindestlohn ein guter Vorwand sein wird, um nur noch den untersten Lohn zu zahlen.
"Ich glaube, dass viele sagen, na, wir zahlen ja Mindestlohn und das reicht dann nicht immer aus. Ich denke, dass ist für ungelernte Kräfte, die neu anfangen, irgendwie keine großen Fertigkeiten mitbringen, wo man auch erst ein bisschen Input geben muss, ist das gerechtfertigt, aber nicht für eine Fachkraft."
Mindestlöhne – so lautete das Credo der CDU viele Jahre – kosten Arbeitsplätze. Der Widerstand der Christdemokraten schien unüberwindbar. In den Zeiten der Großen Koalition von Union und SPD konnten sich Sozialdemokraten und Gewerkschaften kaum Hoffnung auf eine Kehrtwende machen. Bundeskanzlerin Angela Merkel war entschieden:
"Mit der Union, jetzt sprech ich einfach mal als Parteivorsitzende, wird es flächendeckende gesetzliche Mindestlöhne nicht geben."
Die letzte leise Hoffnung auf eine festgelegte Lohnuntergrenze schwand, als Union und Liberale im Herbst 2009 ihre Abneigung gegen den Mindestlohn im Koalitionsvertrag festschrieben.
"CDU, CSU und FDP bekennen sich zur Tarifautonomie. Sie ist ein hohes Gut, gehört unverzichtbar zum Ordnungsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft und hat Vorrang vor staatlicher Lohnfestsetzung. Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn lehnen wir ab."
Doch diese Haltung ist von vorgestern. In der CDU deutet sich nach der Abschaffung der Wehrpflicht und dem Ausstieg aus der Atomkraft ein weiterer Paradigmenwechsel an. Immer mehr Christdemokraten plädieren inzwischen für die Einführung von Mindestlöhnen. Die künftige Parteilinie soll auf dem Bundesparteitag in Leipzig in zwei Wochen beschlossen werden. Angestoßen hat diese Lohndebatte Karl-Josef Laumann, der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft CDA.
"Es ist, würde ich mal sagen, eine Weiterentwicklung des Koalitionsvertrages. Erst mal geht es auf dem Parteitag darum, dass die CDU sich einen Standpunkt macht. Und die CDU verändert, wenn es nach uns geht, ihren Standpunkt."
Die CDA debattiert bereits seit Monaten über das Thema. Ausgangspunkt war, dass seit Mai dieses Jahres auch für die Zeitarbeitsbranche Mindestlöhne gelten. Die christlich-liberale Koalition musste SPD und Grünen dieses Zugeständnis machen, um das Bildungspaket und die Anhebung des Hartz IV-Satzes im Bundesrat durchsetzen zu können. Für die CDA war das eine günstige Gelegenheit, sich öffentlich für mehr Lohngerechtigkeit in allen Branchen und eine sozialere Ausrichtung der CDU einzusetzen.
"Leute, wenn es da einen Mindestlohn gibt über mehrere Branchen hinweg, festgelegt durch Arbeitgeber und Gewerkschaften, dann erklärt mir bitte mal, warum diese Lohnhöhe nicht die Lohnhöhe sein kann, die durch Tarifvertragsparteien festgelegt worden ist, die dann als eine allgemeine Lohnuntergrenze in ganz Deutschland gilt. Ich finde diese Debatte müssen wir mal führen. (Applaus)"
Nach dem Beschluss des CDA war aus der CDU-Führung zunächst kaum etwas zum Mindestlohn zu hören. Erst Anfang September sprach sich auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen für eine Lohnuntergrenze aus. Jetzt liegt nicht nur ein entsprechender Antrag für den Bundesparteitag in zwei Wochen vor, sondern sogar eine Beschlussempfehlung der Antragskommission.
"Die CDU Deutschlands hält es für notwendig, eine allgemeine Lohnuntergrenze in den Bereichen einzuführen, in denen ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert."
Die CDU will die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt betonen. Und deshalb deutlich machen, dass es jetzt an der Zeit ist, auch über gerechte Löhne nachzudenken. Zu dieser Strategie gehört, dass sich die Christdemokraten jetzt für den Mindestlohn aussprechen.
Der Anteil der Menschen, die im Niedriglohnsektor beschäftigt sind, ist zwischen 1994 und 2009 von 16 Prozent auf 22 Prozent gestiegen. Verschärfend kommt hinzu, dass immer weniger Betriebe tarifvertraglich gebunden sind. Die Politik müsse deshalb korrigierend eingreifen, sagt der stellvertretende CDA-Bundesvorsitzende Ralf Brauksiepe, der auch parlamentarischer Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium ist.
"Es ist auch wichtiges Element der katholischen Soziallehre und es bedeutet eben, dass die Einheit, die ein Problem lösen kann es auch lösen soll. Aber wenn die Tarifvertragsparteien an Bindungskraft verlieren, dann ist es wichtig, dass Politik ihrer Verantwortung auch gerecht wird zu einem fairen Miteinander zu kommen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer."
Brauksiepe hofft auf breite Zustimmung in der CDU. Er will dem Eindruck entgegenwirken, dass bei gut laufender Konjunktur nur noch schlechtbezahlte Arbeitsplätze entstehen. Er spricht sich dafür aus, dass in allen Branchen ein einheitlicher Mindestlohn gilt - von 7,79 €uro im Westen und 6,89 €uro im Osten. Dies entspreche den Mindestlöhnen der Zeitarbeiter, sagt Brauksiepe.
"Die CDA hat einen entsprechenden Antrag gestellt, dass wir eine allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze wollen, die sich am Mindestlohn in der Zeitarbeit orientiert. Und wir sind da nicht allein. Ich spür nicht nur bei vielen Menschen innerhalb und außerhalb unserer Partei viel Sympathie für das, was wir machen, sondern 30 Verbände der CDU, Bezirks-, Landes- und Kreisverbände haben einen solchen Antrag in gleicher oder ähnlicher Form auch gestellt. Und deswegen glaube ich, dass wir gute Chancen haben dafür auch Mehrheiten auf dem Parteitag zu bekommen."
Der Parteitagsbeschluss könnte der CDU ein neues soziales Gesicht verschaffen. Es wäre aber auch die endgültige Abkehr von der Haltung, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze kosten. Zahlreiche Wirtschaftsforscher, aber auch die gängige Praxis widerlegen schon seit langem dieses Argument, sagt Gustav Horn, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf.
"Es gibt eine Menge Studien zum Beispiel in den USA, ob in Kreisen, wo es einen Mindestlohn gibt im Vergleich zu benachbarten Kreisen, wo es keinen gibt, ob es da zu Beschäftigungsverlusten gekommen ist. Und die Antwort lautet: Nein! Das einzige was passiert ist, dass die Menschen, die arbeiten mehr Geld haben und die Gewinne fallen etwas niedriger aus. Das ist das, was passiert. Das ist eine Art Umverteilung, die sich aber insgesamt positiv auf die Wirtschaftsentwicklung auswirkt, weil die Menschen, die das Geld dann haben, es bestimmt ausgeben werden und dann fließt es in den Wirtschaftskreislauf zurück."
Bisher wurden solche Thesen in der CDU immer als links abgetan. In der CDU macht man sich jedoch offenbar auch Gedanken darüber, wie man die sogenannten "kleinen Leute" wieder für sich gewinnen kann. Denn die sind als Wähler verloren gegangen. Die Neuorientierung in der Lohnpolitik soll dazu beitragen. Größte Unterstützerin des CDA-Antrags zur Einführung von Mindestlöhnen ist Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen.
"Ich finde, dass die Zielrichtung des Antrages stimmt, über die Details, bin ich der Meinung, sollten wir noch gemeinsam diskutieren, und auf dem Weg sind wir gerade."
Einen gesetzlichen Mindestlohn lehnt die CDU nach wie vor ab. Die Vorstellung lautet, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber eine Kommission bilden und einen gemeinsamen Mindestlohn aushandeln. Für die Rechtsverbindlichkeit des Ergebnisses können dann die Politik und ein Gesetz sorgen, meint Arbeitsministerin von der Leyen.
"Aber finden, den richtigen Punkt, den sollen die Tarifparteien. Das haben wir ja auch mit Erfolg durchexerziert bim Thema Pflege, beim Thema Zeitarbeit, da hat sich überall gezeigt, dass es richtig ist, dass die Tarifparteien sich die Tarifparteien auseinander setzen und aushandeln, wo der richtige Punkt ist."
Von der Willensbildung bis zur Umsetzung eines Gesetzes ist es jedoch noch ein langer Weg. Vor allem gilt es noch einigen Widerstand zu überwinden. So hat die CSU bisher noch keine dezidierte Meinung zum Kurswechsel der CDU. Der Mittelstand in der Union, aber auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände lehnen Mindestlöhne weiterhin ab. Die FDP war bislang klar gegen Lohnuntergrenzen, der CDU-Debatte steht zumindest Generalsekretär Christian Linder offen gegenüber.
"Für die FDP ist klar, Politiker dürfen nicht über Löhne entscheiden, deshalb bin ich auch froh, dass die CDU sich ebenfalls gegen einen solchen von Politiker festgelegten Lohn aussprechen wird. Die Kommissionslösung, über die dort nachgedacht wird, das wird eine Diskussion wert sein."
Die FDP ist auch deshalb noch unentschieden, weil sich die eigene Programmkommission gerade ebenfalls Gedanken über Mindestlöhne macht. Ein Streitpunkt in der CDU wird sicherlich die Höhe des Mindestlohns sein. Hier liegt für den FDP-Fraktionsvize Heinrich Kolb der entscheidende Knackpunkt.
"Wir würden diesen Weg, den die CDA vorgeschlagen hat nicht mitgehen, weil er vorsieht dass der Mindestlohn, konkret der Zeitarbeitsbranche so zu sagen als Mindestlohn für alle Branchen in Deutschland dienen soll. Die Allgemeinverbindlichkeit … würden wir nicht mitmachen."
Die Vorstellungen der FDP sehen nach Angaben von Kolb anders aus. Er will, dass sich die Politik aus dem Tarifgeschehen raus hält. Tarifautonomie bedeute auch, dass jede Branche eine adäquate Lösung finde. Diese Mindestlöhne, die jede Branche aushandelt, könnten dann per Gesetz verbindlich gelten. Das alles lote die Programmkommission der FDP gerade aus, sagt Kolb.
"Dies wird in erster Linie in die Richtung tarifbasierte Branchenmindestlöhne gehen, dass die FDP zu dem Ergebnis eine flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns will, das schließe ich aus."
Das klingt nicht nur so, als sei die FDP von einem Einvernehmen mit der CDU noch weit entfernt – sondern auch danach, dass die Liberalen selbst nicht wissen, was sie wollen. Denn eine liberale Haltung, das wäre eigentlich, jede Form von Mindestlöhnen abzulehnen. Ob sich die FDP das allerdings in Zeiten schwacher Umfragewerte leisten kann, ist fraglich. Vermutlich werden sich die Parteiräson und die Angst vor dem eigenen Untergang dann am Ende doch dem Druck der CDU beugen.
Zurück nach Berlin Friedrichshain. Viele der Menschen, die hier in den Straßen rund um das Ostkreuz arbeiten, werden auch mit gesetzlichem Mindestlohn nicht mehr verdienen. Sie sind selbständig. Sie beuten also ihre eigene Arbeitskraft aus, wie zum Beispiel die Inhaberin der Fahrradwerkstatt, die Schmuckverkäuferin sowie Imbissbetreiberin Sundase Said und ihr Mann. Die beiden gebürtigen Iraker leben seit 14 Jahren in Deutschland. Beide haben anerkannte Hochschulabschlüsse - sie als Statistikerin, er als Ingenieur. Doch trotz zahlreicher Weiterbildungsmaßnahmen hatten sie keine Chance, in ihrer neuen Heimat einen Job zu finden - noch nicht mal einen unter- oder unbezahlten.
"Die nehmen mich gar nicht und bei Praktikum sogar. Ich hab versucht, ein Praktikumsplatz zu finden, hab ich nicht gefunden, außer in einer arabischen Praxis."
Auch deshalb haben sich die Saids selbstständig gemacht. Geld vom Staat möchten die beiden Akademiker nicht mehr nehmen. Anders Hans Berger. Er sitzt gemeinsam mit einer Bekannten in einem kleinen Trödelladen, trinkt Kaffee und passt auf, solange der Besitzer unterwegs ist. Auch für den 54jährigen ändert ein gesetzlicher Mindestlohn an seiner Situation nichts. Er ist Frührentner. Manchmal räumt der schmächtige Mann mit dem ledernen Basecap und der grauen Polyesterjacke Müll im benachbarten Park weg. Vom Jobcenter bekommt er dafür 1,50 € die Stunde. Erster Arbeitsmarkt und Mindestlohn – davon kann Hans Berger nur träumen.
"Ich gehe überall selber rum und frage, aber überall ist Ablehnung. Also ich war zum Beispiel hier in der Boxhagener und hab gefragt, ob ich Nachtwächter machen kann. Nein, ist nicht. Ich war in sämtlichen Kaufhallen Regale einräumen oder im Lager arbeiten – nein ist nicht. Selbstverständlich kann ich was tun… müsste schon ein bisschen mehr sein - so zwischen drei und fünf Euro wäre schon angebrachter."
Drei bis fünf Euro Stundenlohn - Hans Berger ist bescheiden geworden. Notgedrungen.
Mehr zum Thema bei dradio.de:
CDU-Kurswechsel beim Mindestlohn - Union freundet sich mit Lohnuntergrenzen an (Dradio, Aktuell vom 31.10.2011)
Einer der drei Frisörläden gehört Sera Firat. Die 46-Jährige steht gerade am Waschbecken, spült einer Kundin die überschüssige Farbe aus den Haaren. Einen Mindestlohn würde sie gerne zahlen, schon alleine deshalb, weil Sera Firat selbst viele Jahre als Angestellte für einen Hungerlohn jobben musste.
"Wenn jetzt jeder acht Euro zahlen muss, das finde ich schön, stimme ich zu, werde ich auch zahlen, das wäre gut."
Um die tausend Euro Grundgehalt zahlt Firat ihren Friseurinnen, das macht etwas mehr als sechs Euro die Stunde. Zusätzlich gibt es bei ihr eine Provision, wodurch sich der Verdienst der Frauen – abhängig vom geleisteten Umsatz - auf knapp sieben Euro die Stunde erhöhen kann. Auf Trinkgelder sind ihre Mitarbeiterinnen deshalb unbedingt angewiesen. Und für das bisschen Trinkgeld, das weiß Sera Firat aus eigener Erfahrung, wird gerne mal geflunkert.
"Wenn ich jetzt einer 70jährigen Frau sage, sie sehen aus wie 45. Du wirst unecht. Haben sie mal einen Arzt gesehen, der bei ihnen geschleimt hat? Das gibt es nur beim Kellnern und beim Frisör."
Esman Aras steht ein paar Meter von ihrer Chefin entfernt. Sie färbt einer Kundin gerade rote Strähnchen, umwickelt die Haare mit Alufolie und nickt dabei heftig.
"Ne, leben kann man nicht davon, Trinkgeld gibt’s auch nicht mehr wie früher, ich verstehe die Leute auch, die haben ja selber nichts. Früher war das so mit dem Trinkgeld. Früher war, 50, 60 Euro ja! Jetzt ist das um zehn, fünfzehn Euro, manchmal 20, wenn man Glück hat.
Kundin: Von mir kriegen Sie immer was, ja das ist so."
Die beiden Frauen unterhalten sich noch eine ganze Weile über das Thema. Die Kundin erzählt, dass sie selbst lange in einem Call-Center gearbeitet hat, für 700 Euro netto im Monat. Die Frauen sind sich schnell einig: Für sie ist ein Mindestlohn eine gute Perspektive.
"Oh, das ist natürlich toll. Sollen se nur machen. – Ich finde es eine Schade, dass jemand arbeiten muss für fünf Euro und kann davon nicht leben. Hier drüben im Kaufland beim Bäcker, da kenn ich einige, die rennen noch zum Jobcenter, weil sie davon nicht leben können. Das ist eine Frechheit. – Also, wenn Mindestlohn beim Frisör gibt, dann würden auch ganz, ganz viele arbeiten wollen. Viele wollen nicht arbeiten, weil es sehr wenig ist. Ich kenne viele, mit denen ich auch gesprochen habe, die sagen, da gehe ich lieber nicht arbeiten, weil da verdient man ja fast gar nichts."
Zurück auf der Straße am Berliner Ostkreuz. Ein paar Hundert Meter weiter, zwischen Café und Pizzaservice, hat ein vegetarischer Imbiss neu eröffnet. Auch das Gaststätten- und Hotelgewerbe ist eine Branche mit extrem niedrigen Löhnen. Laut Statistischen Bundesamt verdiente ein Arbeitnehmer im Gastgewerbe im vergangenen Jahr durchschnittlich um die 1.150 Euro brutto im Monat.
In der Imbissbude steht ein junger Mann in einer offenen Küche hinter der Theke. Er schnippelt Gemüse klein. Seinen Namen will er nicht nennen. Er ist gelernter Koch, bekommt aber nur einen niedrigen Lohn. Wie viel es genau ist, will er lieber nicht sagen.
"Es geht langsam in den Bereich, dass es angemessen ist. Unter zehn Euro ist eine Abspeise, finde ich. Das geht gar nicht, würde ich sagen, nicht wenn man eine Berufsausbildung gemacht hat."
Eine abgeschlossene Berufsausbildung jedoch ist hierzulande schon lange keine Garantie mehr dafür, dass man für seine Arbeit auch angemessen bezahlt wird. 70 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnbereich haben ihren Beruf erlernt, hieß es jüngst in einer Veröffentlichung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Sieben Prozent haben sogar ein Hochschulstudium beendet. Auch die Zahl der Betroffenen steigt: Im Jahr 1995 arbeiteten 15 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor, mittlerweile sind es schon 22 Prozent. In absoluten Zahlen laut Gewerkschaft: 6,55 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland. Ein gesetzlicher Mindestlohn – so hoffen es zumindest die Befürworter – könnte diese negative Entwicklung aufhalten.
Der Koch im vegetarischen Imbiss ist zwar ein Betroffener, aber dennoch anderer Meinung.
"Das Problem ist, dass die Arbeitgeber unter Druck stehen und die das gar nicht bezahlen können, weil sie so viele andere Ausgaben noch haben, weil die Lohnnebenkosten sind sehr hoch und das ist auch der Punkt. Wenn die gesenkt würden, würden die Löhne auch steigen und vielleicht braucht man dann auch keinen Mindestlohn."
Während er weiter Gemüse kleinschnippelt, kommt der Koch ins Grübeln. Die niedrigen Löhne seien doch Absicht, meint er. Und typisch für unsere schnelllebige Gesellschaft.
"Schnell, schnell, billig, billig, die das auch stützt. Das das halt scheinbar auch gewollt ist."
Dass es auch anders geht, zeigt die Bio-Company, ein großer Ökosupermarkt, der in diesen Tagen eine weitere Filiale in Berlin-Friedrichshain eröffnen wird. Noch sind die Mitarbeiter dabei, die letzten Regale einzuräumen. Geschäftsführer Georg Kaiser kommt vorbei und plaudert mit seinen Leuten. Seine Meinung zum Thema Mindestlohn ist eindeutig.
"Also, ich find’s peinlich. Ein Mindestlohn kann dem ganzen Land gut tun, also egal in welchem Sektor. Ich verstehe auch nicht, warum da zwischen Berufsgruppen unterschieden wird. Ich denke mal ein Mindestlohn ist so zu definieren, dass man sagt, das braucht ein Mensch, um ohne Transferleistungen über die Runden zu kommen. Und dann kostet halt Fensterputzen ein bisschen mehr als Nothing. Dann muss man entweder selber putzen oder man ist bereit den Preis zu zahlen."
Er zahlt den Preis: Bei ihm bekommen Neulinge, die noch eingearbeitet werden müssen, etwas mehr als 8,70 Euro die Stunde. Zum Vergleich: Abteilungsleitern bezahlt er 12,70 Euro. Diese Unterscheidung in der Eingruppierung findet Georg Kaiser wichtig. Der Geschäftsführer befürchtet allerdings, dass für viele Unternehmer der Mindestlohn ein guter Vorwand sein wird, um nur noch den untersten Lohn zu zahlen.
"Ich glaube, dass viele sagen, na, wir zahlen ja Mindestlohn und das reicht dann nicht immer aus. Ich denke, dass ist für ungelernte Kräfte, die neu anfangen, irgendwie keine großen Fertigkeiten mitbringen, wo man auch erst ein bisschen Input geben muss, ist das gerechtfertigt, aber nicht für eine Fachkraft."
Mindestlöhne – so lautete das Credo der CDU viele Jahre – kosten Arbeitsplätze. Der Widerstand der Christdemokraten schien unüberwindbar. In den Zeiten der Großen Koalition von Union und SPD konnten sich Sozialdemokraten und Gewerkschaften kaum Hoffnung auf eine Kehrtwende machen. Bundeskanzlerin Angela Merkel war entschieden:
"Mit der Union, jetzt sprech ich einfach mal als Parteivorsitzende, wird es flächendeckende gesetzliche Mindestlöhne nicht geben."
Die letzte leise Hoffnung auf eine festgelegte Lohnuntergrenze schwand, als Union und Liberale im Herbst 2009 ihre Abneigung gegen den Mindestlohn im Koalitionsvertrag festschrieben.
"CDU, CSU und FDP bekennen sich zur Tarifautonomie. Sie ist ein hohes Gut, gehört unverzichtbar zum Ordnungsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft und hat Vorrang vor staatlicher Lohnfestsetzung. Einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn lehnen wir ab."
Doch diese Haltung ist von vorgestern. In der CDU deutet sich nach der Abschaffung der Wehrpflicht und dem Ausstieg aus der Atomkraft ein weiterer Paradigmenwechsel an. Immer mehr Christdemokraten plädieren inzwischen für die Einführung von Mindestlöhnen. Die künftige Parteilinie soll auf dem Bundesparteitag in Leipzig in zwei Wochen beschlossen werden. Angestoßen hat diese Lohndebatte Karl-Josef Laumann, der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft CDA.
"Es ist, würde ich mal sagen, eine Weiterentwicklung des Koalitionsvertrages. Erst mal geht es auf dem Parteitag darum, dass die CDU sich einen Standpunkt macht. Und die CDU verändert, wenn es nach uns geht, ihren Standpunkt."
Die CDA debattiert bereits seit Monaten über das Thema. Ausgangspunkt war, dass seit Mai dieses Jahres auch für die Zeitarbeitsbranche Mindestlöhne gelten. Die christlich-liberale Koalition musste SPD und Grünen dieses Zugeständnis machen, um das Bildungspaket und die Anhebung des Hartz IV-Satzes im Bundesrat durchsetzen zu können. Für die CDA war das eine günstige Gelegenheit, sich öffentlich für mehr Lohngerechtigkeit in allen Branchen und eine sozialere Ausrichtung der CDU einzusetzen.
"Leute, wenn es da einen Mindestlohn gibt über mehrere Branchen hinweg, festgelegt durch Arbeitgeber und Gewerkschaften, dann erklärt mir bitte mal, warum diese Lohnhöhe nicht die Lohnhöhe sein kann, die durch Tarifvertragsparteien festgelegt worden ist, die dann als eine allgemeine Lohnuntergrenze in ganz Deutschland gilt. Ich finde diese Debatte müssen wir mal führen. (Applaus)"
Nach dem Beschluss des CDA war aus der CDU-Führung zunächst kaum etwas zum Mindestlohn zu hören. Erst Anfang September sprach sich auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen für eine Lohnuntergrenze aus. Jetzt liegt nicht nur ein entsprechender Antrag für den Bundesparteitag in zwei Wochen vor, sondern sogar eine Beschlussempfehlung der Antragskommission.
"Die CDU Deutschlands hält es für notwendig, eine allgemeine Lohnuntergrenze in den Bereichen einzuführen, in denen ein tarifvertraglich festgelegter Lohn nicht existiert."
Die CDU will die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt betonen. Und deshalb deutlich machen, dass es jetzt an der Zeit ist, auch über gerechte Löhne nachzudenken. Zu dieser Strategie gehört, dass sich die Christdemokraten jetzt für den Mindestlohn aussprechen.
Der Anteil der Menschen, die im Niedriglohnsektor beschäftigt sind, ist zwischen 1994 und 2009 von 16 Prozent auf 22 Prozent gestiegen. Verschärfend kommt hinzu, dass immer weniger Betriebe tarifvertraglich gebunden sind. Die Politik müsse deshalb korrigierend eingreifen, sagt der stellvertretende CDA-Bundesvorsitzende Ralf Brauksiepe, der auch parlamentarischer Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium ist.
"Es ist auch wichtiges Element der katholischen Soziallehre und es bedeutet eben, dass die Einheit, die ein Problem lösen kann es auch lösen soll. Aber wenn die Tarifvertragsparteien an Bindungskraft verlieren, dann ist es wichtig, dass Politik ihrer Verantwortung auch gerecht wird zu einem fairen Miteinander zu kommen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer."
Brauksiepe hofft auf breite Zustimmung in der CDU. Er will dem Eindruck entgegenwirken, dass bei gut laufender Konjunktur nur noch schlechtbezahlte Arbeitsplätze entstehen. Er spricht sich dafür aus, dass in allen Branchen ein einheitlicher Mindestlohn gilt - von 7,79 €uro im Westen und 6,89 €uro im Osten. Dies entspreche den Mindestlöhnen der Zeitarbeiter, sagt Brauksiepe.
"Die CDA hat einen entsprechenden Antrag gestellt, dass wir eine allgemeine verbindliche Lohnuntergrenze wollen, die sich am Mindestlohn in der Zeitarbeit orientiert. Und wir sind da nicht allein. Ich spür nicht nur bei vielen Menschen innerhalb und außerhalb unserer Partei viel Sympathie für das, was wir machen, sondern 30 Verbände der CDU, Bezirks-, Landes- und Kreisverbände haben einen solchen Antrag in gleicher oder ähnlicher Form auch gestellt. Und deswegen glaube ich, dass wir gute Chancen haben dafür auch Mehrheiten auf dem Parteitag zu bekommen."
Der Parteitagsbeschluss könnte der CDU ein neues soziales Gesicht verschaffen. Es wäre aber auch die endgültige Abkehr von der Haltung, dass Mindestlöhne Arbeitsplätze kosten. Zahlreiche Wirtschaftsforscher, aber auch die gängige Praxis widerlegen schon seit langem dieses Argument, sagt Gustav Horn, Direktor des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung in Düsseldorf.
"Es gibt eine Menge Studien zum Beispiel in den USA, ob in Kreisen, wo es einen Mindestlohn gibt im Vergleich zu benachbarten Kreisen, wo es keinen gibt, ob es da zu Beschäftigungsverlusten gekommen ist. Und die Antwort lautet: Nein! Das einzige was passiert ist, dass die Menschen, die arbeiten mehr Geld haben und die Gewinne fallen etwas niedriger aus. Das ist das, was passiert. Das ist eine Art Umverteilung, die sich aber insgesamt positiv auf die Wirtschaftsentwicklung auswirkt, weil die Menschen, die das Geld dann haben, es bestimmt ausgeben werden und dann fließt es in den Wirtschaftskreislauf zurück."
Bisher wurden solche Thesen in der CDU immer als links abgetan. In der CDU macht man sich jedoch offenbar auch Gedanken darüber, wie man die sogenannten "kleinen Leute" wieder für sich gewinnen kann. Denn die sind als Wähler verloren gegangen. Die Neuorientierung in der Lohnpolitik soll dazu beitragen. Größte Unterstützerin des CDA-Antrags zur Einführung von Mindestlöhnen ist Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen.
"Ich finde, dass die Zielrichtung des Antrages stimmt, über die Details, bin ich der Meinung, sollten wir noch gemeinsam diskutieren, und auf dem Weg sind wir gerade."
Einen gesetzlichen Mindestlohn lehnt die CDU nach wie vor ab. Die Vorstellung lautet, dass Gewerkschaften und Arbeitgeber eine Kommission bilden und einen gemeinsamen Mindestlohn aushandeln. Für die Rechtsverbindlichkeit des Ergebnisses können dann die Politik und ein Gesetz sorgen, meint Arbeitsministerin von der Leyen.
"Aber finden, den richtigen Punkt, den sollen die Tarifparteien. Das haben wir ja auch mit Erfolg durchexerziert bim Thema Pflege, beim Thema Zeitarbeit, da hat sich überall gezeigt, dass es richtig ist, dass die Tarifparteien sich die Tarifparteien auseinander setzen und aushandeln, wo der richtige Punkt ist."
Von der Willensbildung bis zur Umsetzung eines Gesetzes ist es jedoch noch ein langer Weg. Vor allem gilt es noch einigen Widerstand zu überwinden. So hat die CSU bisher noch keine dezidierte Meinung zum Kurswechsel der CDU. Der Mittelstand in der Union, aber auch die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände lehnen Mindestlöhne weiterhin ab. Die FDP war bislang klar gegen Lohnuntergrenzen, der CDU-Debatte steht zumindest Generalsekretär Christian Linder offen gegenüber.
"Für die FDP ist klar, Politiker dürfen nicht über Löhne entscheiden, deshalb bin ich auch froh, dass die CDU sich ebenfalls gegen einen solchen von Politiker festgelegten Lohn aussprechen wird. Die Kommissionslösung, über die dort nachgedacht wird, das wird eine Diskussion wert sein."
Die FDP ist auch deshalb noch unentschieden, weil sich die eigene Programmkommission gerade ebenfalls Gedanken über Mindestlöhne macht. Ein Streitpunkt in der CDU wird sicherlich die Höhe des Mindestlohns sein. Hier liegt für den FDP-Fraktionsvize Heinrich Kolb der entscheidende Knackpunkt.
"Wir würden diesen Weg, den die CDA vorgeschlagen hat nicht mitgehen, weil er vorsieht dass der Mindestlohn, konkret der Zeitarbeitsbranche so zu sagen als Mindestlohn für alle Branchen in Deutschland dienen soll. Die Allgemeinverbindlichkeit … würden wir nicht mitmachen."
Die Vorstellungen der FDP sehen nach Angaben von Kolb anders aus. Er will, dass sich die Politik aus dem Tarifgeschehen raus hält. Tarifautonomie bedeute auch, dass jede Branche eine adäquate Lösung finde. Diese Mindestlöhne, die jede Branche aushandelt, könnten dann per Gesetz verbindlich gelten. Das alles lote die Programmkommission der FDP gerade aus, sagt Kolb.
"Dies wird in erster Linie in die Richtung tarifbasierte Branchenmindestlöhne gehen, dass die FDP zu dem Ergebnis eine flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns will, das schließe ich aus."
Das klingt nicht nur so, als sei die FDP von einem Einvernehmen mit der CDU noch weit entfernt – sondern auch danach, dass die Liberalen selbst nicht wissen, was sie wollen. Denn eine liberale Haltung, das wäre eigentlich, jede Form von Mindestlöhnen abzulehnen. Ob sich die FDP das allerdings in Zeiten schwacher Umfragewerte leisten kann, ist fraglich. Vermutlich werden sich die Parteiräson und die Angst vor dem eigenen Untergang dann am Ende doch dem Druck der CDU beugen.
Zurück nach Berlin Friedrichshain. Viele der Menschen, die hier in den Straßen rund um das Ostkreuz arbeiten, werden auch mit gesetzlichem Mindestlohn nicht mehr verdienen. Sie sind selbständig. Sie beuten also ihre eigene Arbeitskraft aus, wie zum Beispiel die Inhaberin der Fahrradwerkstatt, die Schmuckverkäuferin sowie Imbissbetreiberin Sundase Said und ihr Mann. Die beiden gebürtigen Iraker leben seit 14 Jahren in Deutschland. Beide haben anerkannte Hochschulabschlüsse - sie als Statistikerin, er als Ingenieur. Doch trotz zahlreicher Weiterbildungsmaßnahmen hatten sie keine Chance, in ihrer neuen Heimat einen Job zu finden - noch nicht mal einen unter- oder unbezahlten.
"Die nehmen mich gar nicht und bei Praktikum sogar. Ich hab versucht, ein Praktikumsplatz zu finden, hab ich nicht gefunden, außer in einer arabischen Praxis."
Auch deshalb haben sich die Saids selbstständig gemacht. Geld vom Staat möchten die beiden Akademiker nicht mehr nehmen. Anders Hans Berger. Er sitzt gemeinsam mit einer Bekannten in einem kleinen Trödelladen, trinkt Kaffee und passt auf, solange der Besitzer unterwegs ist. Auch für den 54jährigen ändert ein gesetzlicher Mindestlohn an seiner Situation nichts. Er ist Frührentner. Manchmal räumt der schmächtige Mann mit dem ledernen Basecap und der grauen Polyesterjacke Müll im benachbarten Park weg. Vom Jobcenter bekommt er dafür 1,50 € die Stunde. Erster Arbeitsmarkt und Mindestlohn – davon kann Hans Berger nur träumen.
"Ich gehe überall selber rum und frage, aber überall ist Ablehnung. Also ich war zum Beispiel hier in der Boxhagener und hab gefragt, ob ich Nachtwächter machen kann. Nein, ist nicht. Ich war in sämtlichen Kaufhallen Regale einräumen oder im Lager arbeiten – nein ist nicht. Selbstverständlich kann ich was tun… müsste schon ein bisschen mehr sein - so zwischen drei und fünf Euro wäre schon angebrachter."
Drei bis fünf Euro Stundenlohn - Hans Berger ist bescheiden geworden. Notgedrungen.
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CDU-Kurswechsel beim Mindestlohn - Union freundet sich mit Lohnuntergrenzen an (Dradio, Aktuell vom 31.10.2011)