Athen, eine Stadt, deren antiker Name - Athênai - eine Pluralform ist, trägt das Gewand des Subalternen, legt seine ehemalige Führungsrolle ab und gibt seine Souveränität preis. Eine überkommene Bedeutung, zumal sich der Westen zunehmend weigert, im antiken Griechenland seine besonderen Vorfahren zu sehen.
Das Wort κείμενο - keimeno hat im Griechischen eine doppelte Bedeutung: Als Adjektiv beschreibt es etwas Gefallenes, etwas Eingestürztes; als Substantiv hingegen ist keimeno das altgriechische Wort für "Text", für das niedergeschriebene Schriftstück.
Im Untergrund der Stadt Athen stapeln sich zahlreiche Schichten aus unterschiedlichen Epochen aufeinander: Griechische und römische Antike, die hellenistische Zeit, aber auch das byzantinische und das osmanische Reich haben in der Vergangenheit der Stadt ihre Spuren hinterlassen. Es verhält sich geradezu so, als ob diese zahlreichen unterschiedlichen Fundamente vergangener Zeiten Fragmente von Texten bildeten, die sich im Untergrund entfalteten.
Die Disziplin der Archäologie zeichnet sich dadurch aus, dass sie diese Schichten - oder auch diese Texte - mittels eines Lesecodes zu entziffern weiß. Nicht nur die Materie im Untergrund, auch diejenige der neuzeitlichen Stadt lässt sich durchaus als Text auslegen, an dem sich bestimmte Entwicklungen ablesen lassen. Als das neuzeitliche Athen im 19. Jahrhundert zur Hauptstadt eines noch sehr jungen Staates bestimmt wurde, entschied man sich gezielt für eine ganz bestimmte Lesart aus diesen zahlreichen Palimpsesten. Wie sich gezeigt hat, lässt jedoch auch dieses eine Palimpsest weitaus mehr Lesarten zu als nur die eine, die zunächst beabsichtigt gewesen war.
Athen bietet folglich reichlich Material für eine erste, grobe Geschichte seiner Visionen, denn hier kristallisieren sich zeitgleich die Theorie der westlichen Vorherrschaft, die Desillusionierung des Idealismus, das Ende des Logozentrismus, die Dekonstruktion und - als Kulminationspunkt der jüngsten Athener Geschichte(n) - die postdemokratische Konstruktion des Hegemonialen und damit die Brutalität, mit der das Subalterne als Normalität oder Unausweichlichkeit menschlichen Daseins akzeptiert wird.
Eine Art Prophezeiung
Wenn wir heute durch Athen streifen, so stellt sich uns die eingestürzte Materialität der Stadt als ein wirres, nicht entzifferbares Rätsel dar. Wir lesen in dieser Materialität eine Art Prophezeiung, die vom niederschmetternden, aber dennoch heroischen Fall Europas kündet. Zweifelsohne verweist das neuzeitliche Athen auf die große europäische Idee; selbst die Konstruktion der Stadt als etwas "Antikes" ist diesem europäischen Denken geschuldet. In der eingestürzten Materie, aus der sich die zeitgenössische Stadt zusammenfügt, kristallisiert sich damit der schon lange angekündigte Untergang des Westens heraus.
In Ermangelung eines alternativen Lesecodes kündet Athen für uns weiterhin emphatisch von seiner europäischen Vergangenheit wie auch von seiner ungewissen Zukunft. Und wie bereits in der Vergangenheit, so spricht die Stadt auch heute keineswegs mit einer einzigen Stimme, sondern im Chor vieler verschiedener Stimmen. Athen - eine Stadt, deren antiker Name Αθήναι eine Pluralform ist - reiht sich nicht nur ein in eine große Anzahl anderer Metropolen, in ihm kulminieren auch diverse Aspekte des Subalternen, Merkmale jener Länder und Völker, die sich jenseits des Hegemonialen bewegen.
Indem die Stadt heute abermals im Gewand des Subalternen daherkommt, eine Geste, mit der sie - zumindest aus Sicht des hegemonialen Westens - ihre ehemalige Führungsrolle ablegt und ihre Souveränität preisgibt, büßt Athen seine überkommene Bedeutung ein, zumal sich der Westen zunehmend weigert, im antiken Griechenland seinen besonderen Vorfahren zu sehen. Der Niedergang dieser Stadt ist dabei wiederum zum Sinnbild geworden und lenkt den Blick auf Fragen, die nicht nur von lokaler, sondern vor allem von globaler Bedeutung sind.
Enttäuschung und Erfüllung
Die erste Begegnung zwischen Europa und Griechenland gestaltete sich als Erfahrung einer Enttäuschung und zugleich als Erfahrung einer Erfüllung, insofern, als sich der Westen voreilig und überstürzt mit der Konstruktion eines halbmythischen neuzeitlichen Griechenlands zufriedengab.
Sowohl für Europa als auch für Griechenland wurde es zur existenziellen Bedingung, dem Bild von der Vergangenheit Rechnung zu tragen. Angesichts der hohen Erwartungen und des tatsächlichen Ergebnisses dieser ehemals heroischen Begegnung wurde Athen, zumal aus Sicht des heutigen Europas, zu einer Übung in Enttäuschung, nicht zuletzt aufgrund des schwindelerregenden Ehrgeizes und des Eifers, mit denen es geplant und errichtet wurde.
Die Struktur der Stadt ist das Ergebnis eines immer wieder aufs Neue durchgeführten Versuchs der Wiedererlangung des einst Gewesenen. Heute gibt es nichts mehr, was darauf hindeuten könnte, dass Athen eine Bezugsgröße mit Weltgeltung wäre oder es in naher Zukunft wieder werden könnte. Das Versprechen einer Wiederbelebung des antiken Griechenlands hat sich nicht erfüllt. Dies nicht nur, weil es dem neuzeitlichen Griechenland nicht gelungen ist, dem antiken Erbe Rechnung zu tragen, sondern auch, weil dieses Vorhaben von Anfang an sabotiert wurde. Auch misst der globale Norden Athen nicht mehr dieselbe Bedeutung bei wie einstmals der europäische Westen.
Um Athen als besondere Bühne all dieser Konfigurationen einer näheren Betrachtung zu unterziehen, empfiehlt es sich, den Blick nach unten zu richten, auf die Erde und damit auf den "Boden", aus dem es erwachsen ist und der eine doppelte Lesart der griechischen Hauptstadt eröffnet.
Phantom einer unsichtbaren Stadt
Athen als neuzeitliches Ballungsgebiet ist nicht aus sich selbst heraus erwachsen, es wurde regelrecht erfunden, und nicht nur als ein rein großstädtisches Phänomen; seine neuzeitliche Errichtung gestaltete sich als die Wiedergeburt des Phantoms einer unsichtbaren Stadt. Als der bayerische Prinz Otto, 1832 - 1862 König von Griechenland, Mitte des 19. Jahrhunderts Athen zur Hauptstadt des hellenischen Staates erklärte und die Architekten Eduard Schaubert und Stamatios Kleanthis mit der Planung beauftragte, hatte er ein Ziel vor Augen: die Ruinen wieder in ihrer vollen Pracht erstrahlen zu lassen. Dieses Unterfangen erforderte jedoch zahlreiche Sprengungen und Zerstörungen. Das, was als ehemaliges Zentrum der einstigen osmanischen Provinzstadt galt - die Spitze des Hügels, um die sich die Monumente reihen, die sich dem Auge heute offen darbieten, sowie das Gebiet nördlich der Akropolis -, zierten vormals etwa 40 Häuser, die weichen mussten, damit die alten Ruinen wieder in ihrer antiken Pracht erglänzen konnten.
Darüber hinaus wurde es notwendig, auch unterhalb der sichtbaren Oberfläche der kleinen osmanischen Stadt archäologische Arbeiten durchzuführen. In diesem Zuge wurden zahlreiche Grabungsstätten "errichtet", die immer mehr Funde "produzierten". Die Konstruktion der Vergangenheit wurde unmittelbar nachdem das bayerische Königshaus Athen zur neuen Hauptstadt erklärt hatte in Angriff genommen, und die Architekten Kleanthis und Schaubert trieben mit ihren Plänen die neoklassizistische Inszenierung der Stadt voran.
Ähnlich wie bei der archäologischen Erforschung der Stadt scheint es auch bei der Errichtung der neuzeitlichen Hauptstadt darum gegangen zu sein, gleichsam "neue Ruinen" aus den sichtbaren oder auch unsichtbaren Überresten herauszuschälen. Die antiken Ruinen fanden sich so umrahmt von einer Landschaft der urbanen Leere. Die archäologischen Parkanlagen Athens mit ihren Ruinen zeugen noch heute von der nicht enden wollenden Bereinigungsoperation, die das verzweifelte Ziel verfolgte, immer noch mehr Ruinen ans Tageslicht zu bringen; die heutige Hauptstadt Athen hätte es möglicherweise ohne ihre Definition als Feld möglicher Fundstellen nicht gegeben.
Entsprechend scheint es, als ob in Athen das gesamte Stadtgefüge für den Blick eines fremden Betrachters geschaffen worden wäre. Die Existenz Athens war stets einem Anderswo geschuldet. Es ist nicht einer "inneren" Notwendigkeit erwachsen, sondern präsentiert sich als bewusster und künstlicher Vorschlag der Herstellung einer Relation zu einer spezifischen Örtlichkeit. Die Stadt stellt nicht ein konkretes, autonomes urbanes Gefüge dar, sondern eine narrative Leerstelle wie auch zugleich das System, mit dem diese Leerstelle gefüllt werden kann: ein System, das sich zusammensetzt aus Worten, Sätzen, Ideenfragmenten, Konzeptualisierungen, Katalogen, Indizes, palimpsestierten Narrativen und Mythologien: Ein komplexes Inventar von Fragmenten, vermittels dessen sich Athen als mögliches Decodierungssystem für disparate Texte anbietet. Selbst wenn die Stadt heute eine ganz eigene Note des Verfalls entwickelt hat, so markiert sie doch als ein noch nicht gänzlich herausmodelliertes Versprechen - oder ein ominöser Unfall - die Geschichte der Zukunft der Zivilisation.
Im spezifischen Fall von Athen bietet sich die Betrachtung zweier verschiedener Arten von Boden- und Konstruktionsarbeiten an, um die Mechanismen der Okkupation des Grundes zu lesen: zum einen die seiner archäologischen Ausgrabungsprojekte, zum anderen die seiner infrastrukturellen Entwicklung. Schon zu der Zeit, da Athen von König Otto und seinen Architekten wiederentdeckt wurde, war die Installation einer stetig erweiterbaren Infrastruktur für die Errichtung und Expansion der Stadt besonders wichtig. Folglich erschien es notwendig, die Pläne für das neue Athen den neuesten technologischen Entwicklungen und infrastrukturellen Standards anzupassen.
Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurde in den Städten des Westens das weitreichende infrastrukturelle Netz in den Untergrund verlegt. Mit der Anbindung der Haushalte an ein System von Netzwerken begann sich der städtische Alltag als Schleife von Wiederholungen zu gestalten. Die Auffassung, die wir vom Alltag haben, ist das Konstrukt der Infrastruktur selbst, die zu ihrer stetigen Ausbreitung und Erweiterung Anspruch auf den Untergrund einer jeden heutigen Stadt erhebt.
Die Entscheidung des bayerischen Königs, eine begrabene Epoche auf dem Wege der Erschaffung einer neuen Stadt glorifizieren zu wollen, musste in ebendieser Stadt notwendig zur Explosion führen. Athen als die neuzeitliche Hauptstadt Griechenlands sah sich unvermittelt Fragen gegenübergestellt, die sich aus der Transformation seines idiosynkratischen (ganz spezifischen) Untergrundes zu einem neutralen Feld für die urbane Infrastruktur ergaben.
Es fällt auf, dass die Infrastruktur als ein erweiterbares unterirdisches System Parallelen zu archäologischen Ausgrabungsarbeiten aufweist: In beiden Fällen haben wir es mit nicht enden wollenden Unterfangen zu tun, denen es verwehrt bleibt, den Zustand der Vollständigkeit jemals zu erreichen. Es ist das unverkennbare Merkmal der urbanen Infrastruktur, dass sie zu keinem Zeitpunkt den Ansprüchen ihrer Nutzer wird genügen können. Unentwegt weist sie Mängel auf, ihre Dienstleistungen sind schnell überholt und werden immer wieder aufs Neue als unzureichend empfunden.
In demselben Maße, wie die Infrastruktur als endloser Prozess betrachtet werden kann, ist auch die Arbeit der Archäologen vom Verlust der Kontrolle über die Zeit gekennzeichnet. Die fortgesetzten archäologischen Arbeiten, die für nötig erachtet werden, um eine vergangene Epoche gebührend zu repräsentieren, spiegeln das Bestreben wider, einer verlorenen Zeit erneut Gestalt zu geben und sich eine unmögliche Vergangenheit anzueignen.
Indem der Archäologie die Aufgabe zugesprochen wurde, Athen seine Vergangenheit wiederzugeben, während die Infrastruktur seine Zukunft garantieren sollte, verwandelten sie den Boden der Stadt in ein Konfliktfeld.
In der Tat: Das heutige Athen kann als ein Unfall der globalen Infrastruktur gedeutet werden, auf dessen Basis sich die Stadt neu verorten muss und kann. Athen ist nicht mehr nur Umschlagplatz für Investitionen in seinen Untergrund. Dies zum einen, weil archäologische Projekte nicht mehr im gewohnten Maße gefördert werden und auch in der imaginären Institution Öffentlichkeit nicht länger die Zustimmung von einst finden. Zum anderen weist die Infrastruktur der Stadt vermehrt Zeichen der heutigen hegemonialen Strategien auf, die die Idee des gemeinschaftlichen Nutzens, eines der grundlegenden Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft, nunmehr der Logik des Neoliberalismus unterwerfen. In diesem Zuge wandelt sich auch die Infrastruktur zu einer kapitalistischen Maschinerie. Ist es einst ihre Aufgabe gewesen, die Wasser- und Stromversorgung zu organisieren, so besteht heute das wesentliche Aktionsfeld der Infrastruktur im Verwalten von Informationen, die nicht zuletzt der Regulierung des Kapitalflusses dienen.
Vor dem Hintergrund jeder Betrachtungsweise war Griechenland immer angesiedelt an der Demarkationslinie zwischen zwei entgegengesetzten Sphären, die das hegemoniale Narrativ definiert und konstruiert. Weder war das Land jemals ganz aus der hegemonialen Sphäre ausgeschlossen, noch hat es jemals gänzlich der subalternen Sphäre zugehört. Weder war das neuzeitliche Griechenland jemals ein östliches oder orientalisches Land, noch repräsentiert es ein durchschlagendes Beispiel für den heute randständigen Süden. Athen war vielmehr lange Zeit die Stadt, aus der der Westen seine - wenn auch nur symbolische - Legitimation bezogen und anhand derer er sich als Gegenpol des Ostens definiert hat; dies ungeachtet der Tatsache, dass Athen bis ins frühe 19. Jahrhundert eine Stadt dieses Ostens gewesen ist. An der Nahtstelle zwischen Nord und Süd verortet sich Griechenland an einem Punkt, an dem die Fäden des globalen Netzes auseinanderreißen, und damit in einer Position, an der sich eine neue geografische Ordnung formieren kann. Was bleibt, ist die Aufgabe, die exakte Position des Landes innerhalb dieser neuen Ordnung zu definieren, etwa in Regulation seiner Beziehung innerhalb einer globalen Infrastruktur, die einen neuen Typus der Modernisierung und Kolonisierung hervorgebracht hat.
Wenn wir hier Athen zu verorten suchen, indem wir den Boden der Stadt fokussieren, so stellt sich dieser Boden als weitaus zu abstrakt und generisch dar, als dass er lediglich vor dem Hintergrund lokaler Gegebenheiten zu fassen wäre. Wenn keimeno das Wort ist, das sowohl gestürzte Materie als auch eine liegende Spur beschreibt, so gleicht ein Spaziergang durch Athen einem Leseakt, der dem aufmerksamen Flaneur auferlegt wird. Ein Text kann niemals als Ganzes erschlossen werden, nicht mehr sein als eine flüchtige Referenz zu einer sich stetig ändernden Bedeutung außerhalb seiner selbst. Dem Blick des aufmerksamen Spaziergängers entgeht folglich auch nicht die Tatsache, dass dieser Boden verschuldet ist.
Aber um welche Art von Schulden handelt es sich konkret? Was schuldet ein Athener Bürgersteig? Athen hat noch aus den Zeiten seiner Gründung als Hauptstadt des neuen Griechenlands eine Bringschuld zu leisten, insbesondere gegenüber den Überresten aus seiner Vergangenheit. Es hat überstürzt und voreilig das Gewand des Städtischen über seinen Ruinen bergenden Boden geworfen, weshalb heute die asphaltierten Straßen und Bürgersteige mehr als nur die Enthüllung zahlreicher Ruinen und Fundstücke schulden.
Infrastruktur versus Ruinen
Es ist offensichtlich: Die Infrastruktur Athens liegt im Widerstreit mit der Idealisierung seiner Ruinen, und die zahlreichen Relikte behindern das Wachstum der Infrastruktur, versperren ihr den Weg. Einige Meter unterhalb der begehbaren Straßen spielt sich ein unsichtbarer Krieg ab, der einen der heutigen Kultur inhärenten Konflikt beleuchten kann. Die Ruine und die Infrastruktur stehen für zwei Systeme, die zwei gänzlich unterschiedliche Vorstellungen vom Heutigen bestimmen. Der Athener Untergrund hat als Bühne für die Austragung dieses Konflikts gedient; heute stellt er sich uns als eine noch immer unbeantwortete Frage dar, die nun auf die Oberfläche der Stadt verweist. Die Athener Archäologie hat eine Sichtweise methodisch organisiert, mit dem heute jedes beliebige Objekt fokussiert werden kann: Alles, was die Stadt zu bieten hat, kann als ein zu inspizierendes Fundstück betrachtet werden, jedes noch so banale Element der Stadt eröffnet die Möglichkeit einer Investigation.
Die Archäologie mag sich aus Athen verabschieden, doch sie kehrt wieder als ein System von Katalogen und Archiven, Matrizen und Einträgen. Das Scheitern der Archäologie ist eine Erfahrung purer Kunst, sofern es so etwas wie pure Kunst überhaupt geben kann.
Die ersten, die sich abschätzig über die archäologischen Funde in Griechenland äußerten, waren griechische Intellektuelle, deren Texte sich jeglichem Versuch widersetzen, sie als Anhänger des orientalischen Erbes oder des konservativen griechisch-orthodoxen Christentums einzuordnen. Ganz im Gegenteil: Das Denken dieser Kritiker ist durchweg maßgeblich von der europäischen beziehungsweise der westlichen Tradition geprägt. Der Dichter und Kunsthistoriker Nicolas Calas, 1907 in Lausanne geboren, schlug in seinem 1933 veröffentlichten Gedicht "Akropolis" als einer der Ersten die Zerstörung des Parthenons vor. Der Dandy Georgios Makris, ein äußerst eigensinniger Intellektueller und Dichter, veröffentlichte gleichfalls ein Manifest, in dem er die Sprengung sämtlicher antiker Monumente und Statuen einforderte:
"Unser Ziel ist die Zerstörung des Parthenon, denn letztlich möchten wir nichts anderes als ihn der Ewigkeit übergeben, welche ein unbewusstes Fließen ist und auf mannigfaltige Weise Materie erzeugt, die wir zu Unrecht als Chaos bezeichnen."
Eckpunkte eines neuzeitlichen Athens
In der zunächst großen und anschließend leeren Athener Landschaft des 19. Jahrhunderts wurden drei emblematische Orte zu Eckpunkten des Dreiecks der neuzeitlichen Stadt, wie sie von Kleanthis und Schaubert visioniert wurde.
Das Dreieck war geometrisch so ausgerichtet, dass es den Blick des Betrachters auf seine Spitze, also direkt auf die Akropolis, lenken sollte. Die anderen zwei Punkte bildeten der antike Friedhof Kerameikos und der Königspalast des bayerischen Prinzen - der heute das griechische Parlament beherbergt -, beides Standorte, von denen aus sich ehemals eine ungehinderte Sicht auf die Akropolis bot. Mittels dieser Geometrie wurde folglich eine direkte Verbindung zwischen der neuen Hauptstadt und den antiken griechischen Ruinen hergestellt. Das Dreieck organisiert die Stadt in Referenz zu den Überresten aus der griechischen Antike, als materielle Inszenierung des griechischen und auch europäischen Ursprungs. Der emblematische Verweis auf Athen als Ursprung der europäischen Zivilisation sollte die zeitgenössischen griechischen Bürger mit den europäischen Königshäusern, die über sie herrschten, vereinen.
Im Fall von Athen erfolgte die Rekonstruktion der Antike zeitgleich mit der Geburt der Stadt als neuzeitlicher Metropole.
Wenn "Griechenland" der Name für das Konzept eines Europas der Texte und Ruinen ist, so erscheint es notwendig, den Blick auf den Unterschied zwischen der immateriellen Präsenz der Texte und der allgegenwärtigen materiellen Präsenz der Athener Ruinen zu richten, die wir lesen als Zeichen des Verfalls und folglich als Negation einer idealen Konfiguration des antiken Griechenlands. Die Beflissenheit, mit der Europa den Versuch unternommen hat, einen Ort bar jeder lokalen Eigenschaften zu konstruieren, mündete schließlich in einen neuen Typus des konservativen Regionalismus: Der universelle Charakter des antiken Griechenlands, den Europa angestrebt hat, wurde vom neuen Griechenland als lokales Privileg der Glorifikation dieser besonderen Vorfahren interpretiert.
Die zwei gegensätzlichen Leitideen, die wir im Untergrund des neuzeitlichen Athens ausmachen, forderten von einer kleinen osmanischen Siedlung die Transformation in eine neuzeitliche Stadt.
Eine absurde Obsession
Dieses westliche Ritual, Verschollenes zu bergen, kam einer absurden Obsession gleich, auf die wir nicht nachdrücklich genug hinweisen können: Das Bestehende und das Sichtbare wurden in solchem Maße negiert, dass selbst eine weitflächige Zerstörungsaktion kein Hindernis für das archäologische Vorhaben darstellte. Ganze Häuser-, Laden- und Straßenzeilen wurden dem Erdboden gleichgemacht, um einige leblose Fragmente wieder ans Tageslicht zu befördern. In diesem Akt der Zerstörung wurde die Unzulänglichkeit der sichtbaren Materie greifbar, ihre Unfähigkeit, den Erwartungen des fremden Blicks zu genügen. Wenn wir folglich behaupten, dass die Archäologie mit ihrer Manie der Glorifizierung des Verlorenen der Obdachlosigkeit und dem Niedergang huldigte, so ist dies durchaus auch wörtlich zu verstehen. Die Macht der verborgenen Ruine, eine vollständig fingierte Welt heraufzubeschwören, begründete die Entfremdung von dem Grund, aus dem das Sichtbare erwuchs. Dieser Prozess des heimlichen Aneinanderreihens von Fundstücken hat die abwesende Welt nicht zur Anschauung gebracht, aber er hat die "wirkliche" Welt beseitigt. Indem sie das Bestehende ablehnte und dem Unbewohnten - den Ruinen - den Vorzug gab, hat sich die Archäologie zu einer subversiven Macht entwickelt, die es versteht, ein ganzes überkommenes Wertesystem zu zersetzen.
Auch die zweite Leitidee, die von der ständigen Erweiterung der Infrastruktur, gründet im Unterirdischen; allerdings operiert sie mit gänzlich anderen Verfahren und definiert den Boden ihrer Logik entsprechend neu, wodurch ein zweiter Prozess der Deterritorialisierung und Entfremdung initiiert wird. Schon ein relativ einfaches System zur Regulierung der Wasserversorgung beispielsweise hat Auswirkungen auf das Sozialleben in einer Stadt. Dadurch, dass nunmehr mehrere Haushalte als separate Einheiten gleichzeitig mit Wasser versorgt werden, verliert die Quelle oder die Ressource im Sinne eines "Gutes", ihren ursprünglichen Charakter als Ort der Performanz des Sozialen.
In der internetregierten Stadt von heute verändert der Rang, der einem Individuum innerhalb der infrastrukturellen Systeme zukommt, die gängige Definition vom Bewohner. Denn der Bewohner der Infrastruktur ist nunmehr der transparente Nutzer, dessen Lebensäußerungen lediglich darin bestehen, auf die Protokolle der Systeme zu reagieren. Gefangen in einer Welt sich überschneidender Protokolle, zeichnet sich der Bewohner dieser Infrastruktur durch ein besonderes Verhältnis zur Erinnerung aus, einer gänzlich anderen Art der Erinnerung als diejenige, die als Motor für die Ausgrabungen in Athen gedient hat. Der Nutzer dieser neuen Domäne wird selbst zum bleibenden Fragment eines sich zersetzenden Systems. Er folgt unterschiedlichen narrativen Strängen, ändert unablässig seine Position oder Perspektive und verweigert sich so jeder Möglichkeit seiner stabilen Verortung.
Die Ohnmacht gegenüber der Infrastruktur, deren Mechanismen nicht kontrolliert werden können, und die Transformation der Bürger in Nutzer haben sich heute als die prägenden Merkmale des urbanen Lebens herauskristallisiert.
Die Konstruktion von Schulden ist eine Form, mit der die Infrastruktur derzeit in die Regierungsgewalt Griechenlands eingreift und seine heutige wirtschaftliche Situation bestimmt. Der Krieg mit wirtschaftlichen Mitteln, den das Land gerade erlebt, gestaltet sich zum Dauerzustand innerhalb einer Infrastruktur, die nicht zufällig den Rahmen bildet für die Unmöglichkeit einer Pleite innerhalb einer gemeinsamen Währung. Die Globalisierung der Wirtschaft erzeugt ein System, in dem eine Bankrotterklärung nicht länger genügt, um einen unaufhaltsamen Fall zu beenden. Heute müssen Schulden homogen, immerwährend und ununterbrochen im Umlauf sein. Griechenland erfährt nicht nur, was es heißt, von der eigenen Infrastruktur angegriffen zu werden; es kann den Sog seines finanziellen Desasters auch nicht mehr bremsen, und wenn es in militärischer Manier seine Niederlage eingestehen würde. Und das, obwohl die Zahlen eindeutig belegen, dass die finanzielle Katastrophe Griechenlands einem militärischen Desaster gleichkommt. Der Krieg, in dem sich Griechenland heute wiederfindet, wurde nicht begonnen, um beendet zu werden. Schulden bilden nicht länger (falls sie es überhaupt jemals taten) das einfache Narrativ, in dem die Rollen von Gläubiger und Schuldner nach bestimmten Regeln festgelegt sind. Wir warten nicht darauf, dass diese Schuld jemals abbezahlt wird; stattdessen werden wir zu Zuschauern und zugleich zu Teilnehmern in einem neuartigen und gänzlich unsichtbaren Krieg, der von der Infrastruktur als eine endlose Schuldenattacke initiiert wurde. Das ist der Grund, weshalb sich Athen heute dermaßen pessimistisch zeigt.
Eine Stadt als Versuchslabor
Wenn Athen heute auf einmal nach Klärung verlangt, dann deshalb, weil die Stadt zu einem Versuchslabor geworden ist. Die unerklärliche Aggression in Form einer Attacke unsichtbarer Schulden, der sich die Stadt in ihren realen, empirischen Lebensäußerungen heute ausgesetzt sieht, wie auch die beispiellose mediale Kampagne, die vermittels der städtischen Infrastruktur um sich gegriffen hat, dringen bereits in den physischen Raum der Oberfläche der Stadt ein. Das Regieren in Griechenland ist zum Schuldenmanagement geworden und veranschaulicht, welches Potenzial der kollektiven Bestrafung der Infrastruktur heute zukommt. Selbst wenn die Infrastruktur als ein vergleichsweise unabhängiges und sich selbst regulierendes System erscheinen mag, so ist sie doch durch einen Modus operandi definiert, der sie von Entscheidungen abhängig macht, die ihrer technischen Funktionalität nicht mehr entsprechen. Die Frage nach der Diskrepanz zwischen der technischen Funktionsweise der Infrastruktur und der destabilisierenden Absicht, die sich hinter ihr verbirgt, das ist es, was wir diesem kurzen Exkurs in den Athener Untergrund ablesen.
Wir schulden den Ruinen Athens wie auch seiner Infrastruktur, diesen "keimena", verschiedene Lesarten. Ihre tatsächliche Existenz liegt verborgen, tief unterhalb einer Stadt, die in rasantem Tempo gewachsen ist. Für die Stadt mögen sowohl die Funde aus vergangenen Zeiten als auch ihre Infrastruktur Teil ihrer neuen Geschichte sein. Doch wie die Überreste vergangener Epochen nicht mehr zu uns sprechen - sie stellen sich uns dar als eine Anhäufung unentzifferbarer Buchstaben -, so erfahren die neuen Athener durch die Deterritorialisierung der multiplen Datenreservoirs, durch die multiple Regelung der Automatismen ihrer Stadt neue Abhängigkeiten von einem Betriebssystem aus codierten Hieroglyphen und unlesbaren Scripts, auf dem ihre Leben ausgeführt werden.
Der problematischste Aspekt dieser neuen Theologie der Infrastruktur ist die unausgesprochene Priorität, die ihr zukommt, indem die Zukunft einer jeden Stadt auf sie baut. Ist es unmöglich, ein so unfassbares System zu lesen? Kann ein solches System überhaupt als Investigationsfeld dienen? Ist die Infrastruktur, und mit ihr die Verteilung der Güter, die Logistik von morgen, das Bankensystem, all die Plattformen und Protokolle, die sie installiert, dazu befähigt, Fragen zu Politiken und zu gemeinschaftlichen Entscheidungen einer anders gearteten Demokratie zu formulieren? Das sind die eigentlichen Problematiken, mit denen uns Athen heute konfrontiert. Um den gegenwärtigen Moment zu interpretieren, wenden wir die Technik des Pausierens an, frieren den Fluss des auf ewig unvollendeten Textes zu einer Momentaufnahme ein.
Wir halten kurz inne und reflektieren über dieses Bild, während sich die Infrastruktur als unleserliches Element organisiert, als etwas, was stets in Bewegung bleibt und deshalb niemals ein keimenon sein wird, sondern immer nur ein unbeständiger und wandelbarer Text.
Aristide Antonas ist Architekt mit Sitz in Athen und Berlin, Autor von Essays, Theaterstücken und architektonisch-künstlerischen Architekturmodellen.