Doris Schäfer-Noske: Frage an meinen Kollegen Hubert Winkels aus unserer Buchredaktion, Herr Winkels, wenn wir auf das Jahr 2010 in der deutschsprachigen Literatur zurückblicken, was bleibt denn dann von Helene Hegemanns "Axolotl Roadkill"?
Hubert Winkels: Na ja, interessanterweise habe ich es in meinem Gedächtnis ein Jahr vorher schon abgespeichert, und es ist tatsächlich auch seit langer Zeit überhaupt nicht mehr die Rede davon, was mal wieder zeigt, wenn solche Hypes entstehen und sie so heftig sind, dass das Publikum so schnell überdrüssig ist, dass es danach eine Art Damnatio memoriae vollzieht und dieses Buch quasi aus dem Gedächtnis streicht. Anfang des Jahres war sozusagen überdeterminiert von dem Helene-Hegemann-Diskurs, der auf ganz verschiedenen Ebenen spielte – man fragte sich, wie kann ein 16-, 17-, 18-jähriges Mädchen solche Filme und solche Bücher machen, man fragte sich nach der Verworfenheit, dem Sündenbabel der Diskothek Berghain, man fragte sich nach Drogen- und Theater- und Volksbühnenzusammenhang in Berlin, nach dem Abschreiben von Helene Hegemann aus einem Blog von Airen, einem Berliner Blogger. Was mich am meisten interessiert hat an dem Buch, war was ganz anderes, was sonst – weil ich das beobachtet habe – kaum einen interessiert hat, dass es im Kern natürlich eine tragische Familiengeschichte ist. Das junge Mädchen geht mit ihrer Mutter, die alkoholkrank ist – die Frau des Chefdramaturgen der Volksbühne Berlin – ins Ruhrgebiet, und die Mutter stürzt sich im Angesicht der Tochter aus einem hohen Stockwerk auf die Straße und stirbt. Und das ist natürlich der Kern – dieser totale Verlust, auf brutalste Weise, des Familienzusammenhalts und dann zurückzukehren in diese Diskursmaschine Hegemann – der Vater auch eine berühmte Gestalt der Berliner Szene – und dem Theater mit seinem ganzen Durchexerzieren all der Verworfenheiten auf dem Theater selbst. Da kriegt die Sache sozusagen ihre äußere Dynamik, aber die innere Dynamik kriegt sie aus einer, im Grunde fast schon klassischen, wenn auch sehr tragischen Familienkonstellation. Das fand ich äußerst beachtlich, aber wenig gesehen.
Schäfer-Noske: Auf der Leipziger Buchmesse hat Helene Hegemann dann nicht den Leipziger Buchpreis bekommen, nachdem Schriftsteller in einer Leipziger Erklärung an einer Nominierung des Romans heftige Kritik geäußert hatten und sich für das Urheberrecht starkgemacht hatten. Den Leipziger Buchpreis bekam dann Georg Klein für "Roman unserer Kindheit". Ist das denn Ihrer Meinung nach ein Werk, das im Rückblick zu den besonders starken dieses Jahrgangs gehört?
Winkels: Es ist ein gutes Buch, es ist ein wenig überornamentiert, finde ich. Es erzählt von einer Handvoll, sechs, sieben Kinder in einem Nachkriegsvorort von Augsburg, wenn mich nicht alles täuscht. Und deren freie Fantasie, die sich heftet an Kriegsheimkehrer mit starken Verletzungen, Verwundungen und Amputationen und so weiter, verwandelt sich langsam in so ein Fünf-Freunde-Horrorkabinett. Das ist, finde ich, ganz schön gemacht, und man kann diesem Buch einen Preis geben, wenn man diese Art von stark sprachlich ornamentierten Romanen mag. Ich bin da eher minimalistisch von meinen Ansprüchen her, aber es ist völlig in Ordnung.
Schäfer-Noske: Der Büchner-Preis 2010 ging an Reinhard Jirgl, Melinda Nadj Abonji bekam den Deutschen Buchpreis für ihren Roman "Tauben fliegen auf", und Andreas Maier wurde für "Das Zimmer" mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet. War denn das Jahr 2010 in der deutschsprachigen Literatur insgesamt ein gutes Jahr?
Winkels: Das ist natürlich sehr schwer zu sagen. Ich würde mal auf den ersten Blick sagen mittelmäßig, obwohl natürlich solche Beurteilungen völlig irrwitzig sind, weil die Literaturgeschichte schon nach kurzer Zeit sagen kann, das Buch des Jahrzehnts ist im März 2010 erschienen, wir haben es leider damals nicht richtig mitbekommen. Wenn man anhand der Preise vorgeht, dann kann man hier an dieser Aufzählung schon sehen, wie das funktioniert. Das sind ja kommunizierende Röhren oder sich ausgleichende Binnensysteme. Der Büchner-Preis, sozusagen die Institution ist ja ein bisschen düpiert, um nicht zu sagen beleidigt, weil der Deutsche Buchpreis, der vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergeben wird, letztlich ihm Konkurrenz macht und stärkere Aufmerksamkeit auf sich zieht als dieser klassische, wichtigste Preis. Deswegen arbeitet man im Büchner-Preis noch dezidierter als vorher in Richtung Literatur als Kunst, mit großem KUNST, was bei Jirgl eben auch der Fall ist, der ja auch ganz eigenwillige Schreibweisen entwickelt hat, bis hin in die Buchstäblichkeit seines Schreibens hinein, der ja neue Zeichen erfunden hat und benutzt, und auf der anderen Seite der Deutsche Buchpreis, der gelegentlich zum guten Lesefutter hin tendiert. Melinda Nadj Abonji hat einen guten Roman geschrieben, von dem zu sagen, es sei der beste des Jahres, eher seltsam ist, aber es ist ein guter Roman. Ein bisschen spielt da sicherlich mit rein, dass er nicht nur eine Migrantengeschichte erzählt, sondern auch noch eine besondere, weil er von den jugoslawischen Kriegen erzählt. Also die Heldin ist die Tochter aus einer ungarischen Minderheit aus der Vojvodina im Norden von Serbien – diese Familie ist in die Schweiz ausgewandert. In der Schweiz versuchen die sich jetzt ausgerechnet an der Züricher Goldküste, in diesem extrem reichen Territorium, zu etablieren mit Kleinbetrieben, Wäschereien, Café und kämpfen gegen die Reinlichkeitsvorstellungen, auch quasi faschistische Reinlichkeitsvorstellungen der Schweizer an. Und auf der anderen Seite bricht der Krieg aus und die Verwandten sind da rein verwickelt. Und wir haben also sozusagen ein europäisch zeitgeschichtliches Panorama mitgeliefert in diesem Roman, und ich denke, dass auch dieser Themenzusammenhang mit eine Rolle gespielt hat, dieses Buch auszuzeichnen. Es ist nicht das schönste und beste Buch des Jahres, aber es ist ein gutes Buch. Was aber ganz seltsam ist, finde ich, dann, wenn man schon Institutionen wie Preise hat, die die Landschaft strukturieren sollen, dann darf nicht, finde ich, der Schweizer Literaturpreis, der sich nach dem Deutschen Literaturpreis gebildet hat, nach dessen Modell, zwei Monate später dasselbe Buch auszeichnen – als bestes Buch der Schweiz. Dann hat man sich ja der Möglichkeit beraubt, auf ein anderes Buch die Aufmerksamkeit zu lenken.
Schäfer-Noske: So, als gäbe es kein anderes.
Winkels: Ja, das ist der Fall und das war nicht gut.
Schäfer-Noske: "Das Zimmer" von Andreas Maier hat den Wilhelm-Raabe-Preis bekommen, ist das denn das beste Buch des Jahres?
Winkels: Na ja, hier muss ich mich natürlich anders ins Zeug legen, erstens, weil ich in der Jury bin, zweitens weil es ein vom Deutschlandfunk mit vergebener Preis ist, zusammen mit der Stadt Braunschweig, und natürlich wir völlig zu unserem Preisträger Andreas Maier stehen. Tatsächlich ist diese Frage sowieso nicht zu beantworten, aber in diesem Fall auch nicht ganz leicht zu beantworten, weil es eher ein schmales Werk ist, der Beginn einer elf Bände umfassenden Serie von Romanen, wo man nicht weiß – das ist ja ein Lebenswerk –, ob es wirklich dazu kommt. Das heißt, es ist nur der Start, und damit ist natürlich ein bisschen auch der Versuch oder der Anfang von etwas ausgezeichnet, mit guten Hoffnungen auf das weitere Gedeihen. Und es ist die Geschichte eines kleinen Ortes in der Wetteraue nahe Frankfurt, hier erzählt über Onkel J., einen Behinderten, der als Idiot der Familie von niemanden ernst genommen, von allen verlacht, manchmal verprügelt wird, und nur vom Erzähler in seiner Blödheit als besonders würdig, wenn man so will sogar mit einem Heiligenzug wegen seiner Naivität ausgestattet wird. Ein wunderbarer Kniff, würde ich sagen, man kann aber auch einen religiösen Zug darin erkennen.
Schäfer-Noske: Sie selbst, Herr Winkels, haben dieses Jahr auch ein Buch geschrieben, in dem Sie sich mit Ihrem Verhältnis zu Büchern auseinandergesetzt haben, unter dem Titel "Kann man Bücher lieben?". Wie beantworten Sie diese Frage?
Winkels: Ja, die Frage ist die Antwort auf eine Situation, die ich hatte, bei einem Wasserrohrbruch zu Hause, wo ich schätzungsweise fünf- bis zehntausend Bücher bewegen musste, also mit der Hand über mehrere Stockwerke, und ich merkte, niemand kann mir das abnehmen. Und als mir das Kreuz auseinanderzubrechen drohte, bekam ich Zweifel, ob meine lebenslange Neigung, mit Büchern umzugehen, überhaupt die richtige Wahl war vor 40 Jahren. Und anhand dieses Zweifels habe ich mal versucht nachzudenken darüber, warum macht man das eigentlich, warum ist man eigentlich den Büchern, dann den Autoren und bestimmten ästhetischen Prinzipien geradezu verfallen. In gewisser Weise ist die Frage beantwortet: Man kommt ja nicht mehr raus. Sie können ja auch nicht jemandem, der seit 20 Jahren professionell Fußball spielt, die Antwort entlocken: "Nein, eigentlich spiele ich nicht gerne Fußball". Die Sache ist schon lange geregelt.
Hubert Winkels: Na ja, interessanterweise habe ich es in meinem Gedächtnis ein Jahr vorher schon abgespeichert, und es ist tatsächlich auch seit langer Zeit überhaupt nicht mehr die Rede davon, was mal wieder zeigt, wenn solche Hypes entstehen und sie so heftig sind, dass das Publikum so schnell überdrüssig ist, dass es danach eine Art Damnatio memoriae vollzieht und dieses Buch quasi aus dem Gedächtnis streicht. Anfang des Jahres war sozusagen überdeterminiert von dem Helene-Hegemann-Diskurs, der auf ganz verschiedenen Ebenen spielte – man fragte sich, wie kann ein 16-, 17-, 18-jähriges Mädchen solche Filme und solche Bücher machen, man fragte sich nach der Verworfenheit, dem Sündenbabel der Diskothek Berghain, man fragte sich nach Drogen- und Theater- und Volksbühnenzusammenhang in Berlin, nach dem Abschreiben von Helene Hegemann aus einem Blog von Airen, einem Berliner Blogger. Was mich am meisten interessiert hat an dem Buch, war was ganz anderes, was sonst – weil ich das beobachtet habe – kaum einen interessiert hat, dass es im Kern natürlich eine tragische Familiengeschichte ist. Das junge Mädchen geht mit ihrer Mutter, die alkoholkrank ist – die Frau des Chefdramaturgen der Volksbühne Berlin – ins Ruhrgebiet, und die Mutter stürzt sich im Angesicht der Tochter aus einem hohen Stockwerk auf die Straße und stirbt. Und das ist natürlich der Kern – dieser totale Verlust, auf brutalste Weise, des Familienzusammenhalts und dann zurückzukehren in diese Diskursmaschine Hegemann – der Vater auch eine berühmte Gestalt der Berliner Szene – und dem Theater mit seinem ganzen Durchexerzieren all der Verworfenheiten auf dem Theater selbst. Da kriegt die Sache sozusagen ihre äußere Dynamik, aber die innere Dynamik kriegt sie aus einer, im Grunde fast schon klassischen, wenn auch sehr tragischen Familienkonstellation. Das fand ich äußerst beachtlich, aber wenig gesehen.
Schäfer-Noske: Auf der Leipziger Buchmesse hat Helene Hegemann dann nicht den Leipziger Buchpreis bekommen, nachdem Schriftsteller in einer Leipziger Erklärung an einer Nominierung des Romans heftige Kritik geäußert hatten und sich für das Urheberrecht starkgemacht hatten. Den Leipziger Buchpreis bekam dann Georg Klein für "Roman unserer Kindheit". Ist das denn Ihrer Meinung nach ein Werk, das im Rückblick zu den besonders starken dieses Jahrgangs gehört?
Winkels: Es ist ein gutes Buch, es ist ein wenig überornamentiert, finde ich. Es erzählt von einer Handvoll, sechs, sieben Kinder in einem Nachkriegsvorort von Augsburg, wenn mich nicht alles täuscht. Und deren freie Fantasie, die sich heftet an Kriegsheimkehrer mit starken Verletzungen, Verwundungen und Amputationen und so weiter, verwandelt sich langsam in so ein Fünf-Freunde-Horrorkabinett. Das ist, finde ich, ganz schön gemacht, und man kann diesem Buch einen Preis geben, wenn man diese Art von stark sprachlich ornamentierten Romanen mag. Ich bin da eher minimalistisch von meinen Ansprüchen her, aber es ist völlig in Ordnung.
Schäfer-Noske: Der Büchner-Preis 2010 ging an Reinhard Jirgl, Melinda Nadj Abonji bekam den Deutschen Buchpreis für ihren Roman "Tauben fliegen auf", und Andreas Maier wurde für "Das Zimmer" mit dem Wilhelm-Raabe-Preis ausgezeichnet. War denn das Jahr 2010 in der deutschsprachigen Literatur insgesamt ein gutes Jahr?
Winkels: Das ist natürlich sehr schwer zu sagen. Ich würde mal auf den ersten Blick sagen mittelmäßig, obwohl natürlich solche Beurteilungen völlig irrwitzig sind, weil die Literaturgeschichte schon nach kurzer Zeit sagen kann, das Buch des Jahrzehnts ist im März 2010 erschienen, wir haben es leider damals nicht richtig mitbekommen. Wenn man anhand der Preise vorgeht, dann kann man hier an dieser Aufzählung schon sehen, wie das funktioniert. Das sind ja kommunizierende Röhren oder sich ausgleichende Binnensysteme. Der Büchner-Preis, sozusagen die Institution ist ja ein bisschen düpiert, um nicht zu sagen beleidigt, weil der Deutsche Buchpreis, der vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergeben wird, letztlich ihm Konkurrenz macht und stärkere Aufmerksamkeit auf sich zieht als dieser klassische, wichtigste Preis. Deswegen arbeitet man im Büchner-Preis noch dezidierter als vorher in Richtung Literatur als Kunst, mit großem KUNST, was bei Jirgl eben auch der Fall ist, der ja auch ganz eigenwillige Schreibweisen entwickelt hat, bis hin in die Buchstäblichkeit seines Schreibens hinein, der ja neue Zeichen erfunden hat und benutzt, und auf der anderen Seite der Deutsche Buchpreis, der gelegentlich zum guten Lesefutter hin tendiert. Melinda Nadj Abonji hat einen guten Roman geschrieben, von dem zu sagen, es sei der beste des Jahres, eher seltsam ist, aber es ist ein guter Roman. Ein bisschen spielt da sicherlich mit rein, dass er nicht nur eine Migrantengeschichte erzählt, sondern auch noch eine besondere, weil er von den jugoslawischen Kriegen erzählt. Also die Heldin ist die Tochter aus einer ungarischen Minderheit aus der Vojvodina im Norden von Serbien – diese Familie ist in die Schweiz ausgewandert. In der Schweiz versuchen die sich jetzt ausgerechnet an der Züricher Goldküste, in diesem extrem reichen Territorium, zu etablieren mit Kleinbetrieben, Wäschereien, Café und kämpfen gegen die Reinlichkeitsvorstellungen, auch quasi faschistische Reinlichkeitsvorstellungen der Schweizer an. Und auf der anderen Seite bricht der Krieg aus und die Verwandten sind da rein verwickelt. Und wir haben also sozusagen ein europäisch zeitgeschichtliches Panorama mitgeliefert in diesem Roman, und ich denke, dass auch dieser Themenzusammenhang mit eine Rolle gespielt hat, dieses Buch auszuzeichnen. Es ist nicht das schönste und beste Buch des Jahres, aber es ist ein gutes Buch. Was aber ganz seltsam ist, finde ich, dann, wenn man schon Institutionen wie Preise hat, die die Landschaft strukturieren sollen, dann darf nicht, finde ich, der Schweizer Literaturpreis, der sich nach dem Deutschen Literaturpreis gebildet hat, nach dessen Modell, zwei Monate später dasselbe Buch auszeichnen – als bestes Buch der Schweiz. Dann hat man sich ja der Möglichkeit beraubt, auf ein anderes Buch die Aufmerksamkeit zu lenken.
Schäfer-Noske: So, als gäbe es kein anderes.
Winkels: Ja, das ist der Fall und das war nicht gut.
Schäfer-Noske: "Das Zimmer" von Andreas Maier hat den Wilhelm-Raabe-Preis bekommen, ist das denn das beste Buch des Jahres?
Winkels: Na ja, hier muss ich mich natürlich anders ins Zeug legen, erstens, weil ich in der Jury bin, zweitens weil es ein vom Deutschlandfunk mit vergebener Preis ist, zusammen mit der Stadt Braunschweig, und natürlich wir völlig zu unserem Preisträger Andreas Maier stehen. Tatsächlich ist diese Frage sowieso nicht zu beantworten, aber in diesem Fall auch nicht ganz leicht zu beantworten, weil es eher ein schmales Werk ist, der Beginn einer elf Bände umfassenden Serie von Romanen, wo man nicht weiß – das ist ja ein Lebenswerk –, ob es wirklich dazu kommt. Das heißt, es ist nur der Start, und damit ist natürlich ein bisschen auch der Versuch oder der Anfang von etwas ausgezeichnet, mit guten Hoffnungen auf das weitere Gedeihen. Und es ist die Geschichte eines kleinen Ortes in der Wetteraue nahe Frankfurt, hier erzählt über Onkel J., einen Behinderten, der als Idiot der Familie von niemanden ernst genommen, von allen verlacht, manchmal verprügelt wird, und nur vom Erzähler in seiner Blödheit als besonders würdig, wenn man so will sogar mit einem Heiligenzug wegen seiner Naivität ausgestattet wird. Ein wunderbarer Kniff, würde ich sagen, man kann aber auch einen religiösen Zug darin erkennen.
Schäfer-Noske: Sie selbst, Herr Winkels, haben dieses Jahr auch ein Buch geschrieben, in dem Sie sich mit Ihrem Verhältnis zu Büchern auseinandergesetzt haben, unter dem Titel "Kann man Bücher lieben?". Wie beantworten Sie diese Frage?
Winkels: Ja, die Frage ist die Antwort auf eine Situation, die ich hatte, bei einem Wasserrohrbruch zu Hause, wo ich schätzungsweise fünf- bis zehntausend Bücher bewegen musste, also mit der Hand über mehrere Stockwerke, und ich merkte, niemand kann mir das abnehmen. Und als mir das Kreuz auseinanderzubrechen drohte, bekam ich Zweifel, ob meine lebenslange Neigung, mit Büchern umzugehen, überhaupt die richtige Wahl war vor 40 Jahren. Und anhand dieses Zweifels habe ich mal versucht nachzudenken darüber, warum macht man das eigentlich, warum ist man eigentlich den Büchern, dann den Autoren und bestimmten ästhetischen Prinzipien geradezu verfallen. In gewisser Weise ist die Frage beantwortet: Man kommt ja nicht mehr raus. Sie können ja auch nicht jemandem, der seit 20 Jahren professionell Fußball spielt, die Antwort entlocken: "Nein, eigentlich spiele ich nicht gerne Fußball". Die Sache ist schon lange geregelt.