Archiv


Von Bautzen bis zum Mauerbau

Wer war Walter Ulbricht? Wann war der Tag des Mauerbaus? Was passierte im Zuchthaus Bautzen? Auf diese Fragen wissen die wenigsten Schüler in Nordrhein-Westfalen eine Antwort. An der Ruhr-Universität-Bochum hat jetzt ein Forschungsprojekt begonnen, dass diese Wissenslücken schließen will - mit Hilfe von Zeitzeugen, die den Schülern über ihre Erfahrungen in der DDR berichten.

Von Dörte Hinrichs | 05.02.2009
    "Ich will heute darüber berichten, wie ich als junger Mensch verhaftet worden bin vom KGB und will über die Verhältnisse im KGB-Untersuchungsgefängnis in Potsdam berichten. Das ist im Jahre 1950 gewesen, da war ich gerade 18 Jahre alt."

    Gebannt lauschen rund zwanzig Schüler und Schülerinnen des 13. Jahrgangs den Worten von Dieter Rother. Geschichtsunterricht einmal anders - nicht aus dem Lehrbuch, sondern erlebte Geschichte. Und auch der 77-jährige Dieter Rother betritt mit dieser Reise in die eigene Vergangenheit Neuland. Nie zuvor hat er bisher öffentlich über diesen Lebensabschnitt gesprochen, auch wenn er nun schon 55 Jahre die DDR hinter sich gelassen und seitdem tief im Westen, in Essen lebt.
    "Es hat mich niemand gefragt, und ich glaube auch, wenn mich damals jemand gefragt hätte, hätte ich mich dazu auch nicht bereiterklärt, weil mich viele Jahre das doch zu sehr strapaziert hat. Das hat mir den Mund verschlossen. Ich konnte nicht darüber reden."

    Nun redet der pensionierte Lehrer fast eine Stunde: über seine Jugend als Tischlerlehrling im Nachkriegsdeutschland, über die hochpolitisierte Stimmung während und nach der Teilung Deutschlands und über die verschwommenen Vorstellungen von Demokratie. Der junge Dieter Rother hört den RIAS und ist beeindruckt von den Worten des US-Generals McCloy. Der ruft dazu auf, sich mit Flugblättern und anderen Aktionen gegen die kommunistischen Machthaber zu wehren. Eines Nachts ist es dann soweit:

    "Wir waren drei junge Männer, 16,17,19 Jahre alt und wir haben damals - wie es hieß - antisowjetische Parolen an die Wände in Frankfurt an der Oder geschrieben, zum Beispiel 'Wir fordern gesamtdeutsche freie Wahlen'. Und das ist natürlich nach sowjetischer Lesart antisowjetische Propaganda."

    "Kämpft für freie Wahlen" und "Nieder mit den Sowjets" - lauten die anderen Parolen, mit denen Dieter Rother und seine Freunde ihre politische Meinungsauffassung kundtun. Waren wir mutig, leichtsinnig, naiv, fragt er sich heute, ohne eine Antwort darauf zu finden.

    Als einer der Freunde nicht mehr zur Arbeit erscheint, spitzt sich die Lage zu: Die Mutter packt dem Sohn einen Rucksack für den damals noch möglichen Übergang nach Westberlin, und auch sein Chef rät ihm, abzuhauen. Doch da ist es für Dieter Rother schon zu spät: Am 21. April 1950 wird er am Arbeitsplatz verhaftet, von DDR-Volkspolizisten an die Russen übergeben und ins Untersuchungsgefängnis nach Potsdam gebracht.

    Was folgt sind nächtliche Verhöre im nassen Keller und Haftbedingungen, die Rother den Schülern anschaulich beschreibt, ohne sie zu kommentieren: Dreieinhalb Monate ist er mit weiteren Gefangenen in einer zwei mal vier Meter kleinen Zelle untergebracht, ohne Tageslicht, ohne Wasser zum Waschen. Im Juli 1950 wird er schließlich wegen antisowjetischer Agitation und Bildung einer Gruppe zu zehn Jahren Haft verurteilt; ohne Anwalt, ohne Kontakt zu seiner Familie. Mit anderen Verurteilten kommt er später nach Halle und nach Bautzen:

    Eine mitgebrachte Gefangenenkarteikarte zeigt den jungen Dieter Rother entlaust und fast kahl rasiert mit düsterem, in sich gekehrtem Blick - eine Ähnlichkeit mit dem Passfoto vor der Verhaftung, das Rother als jungen Mann mit lockigem Haar und weichen Gesichtszügen zeigt, lässt sich nur erahnen.

    Die Haftzeit hinterlässt lebenslange Spuren, die man äußerlich dem heute noch erstaunlich jung gebliebenen 77-Jährigen nicht ansieht. Und auch die Schilderung seiner Geschichte geht nicht spurlos an den Schüler und Schülerinnen des Geschichtskurses vorbei:

    "Ich fand, es gab eher erschreckende Sachen, die haften geblieben sind - und die Verhältnisse im Gefängnis, die Behandlung der Gefangenen, sehr erschreckend."

    "Ich fand das sehr interessant, weil ich auch gerade mich mit dem Thema noch nicht ganz so gut auskannte, dass er als Zeitzeuge wirklich was sagen konnte, gerade auch das mit dem Gefängnis und wie es da gelaufen ist. Da wussten wir ja gar nichts von. Und ich fand das gut, dass das möglich war und dass er gekommen ist."

    "Ich fand das auch wirklich interessant, weil gerade das Persönliche fand ich sehr wichtig. Ich find, mir hat das auch sehr viel gebracht."

    Die Geschichtslehrerin Ursula Fries verfolgt den Vortrag und die anschließende Diskussion, ohne sich selber daran zu beteiligen. Die Wirkung dieses außergewöhnlichen Unterrichts bleibt ihr dabei nicht verborgen:

    "Ich habe eigentlich immer die Schüler gesehen, die in demselben Alter jetzt sind, wie es damals der Herr Rother gewesen ist, und ich habe an den Schülern gesehen, an den Gesichtern, dass sie tatsächlich sich in dieses Situation hineinversetzen konnten eines 18-jährigen jungen Mannes, der für zehn Jahre verhaftet wird und froh darüber ist, dass es nicht 25 sind. Das hat mich besonders beeindruckt an der Sache."

    Die Bochumer Schüler, die einen Auszug der DDR-Geschichte von einem Zeitzeugen nähergebracht bekommen, haken bei ihm nach: Wie kam es, dass er schon nach vier Jahren freigelassen wurde? Welche Folgen hatte seine Tat für die restliche Familie? Was hat er vom Volksaufstand in der DDR mitbekommen? Wie ist seine politische Überzeugung heute?

    Und Dieter Rother erzählt von der Amnestie 1954 für politische Häftlinge, wie er aus der als dunkel empfundenen DDR in der Glitzerwelt West-Berlins ankommt. Er berichtet vom Bruder, der nicht studieren durfte, und davon, wie er und seine Mitgefangenen am 17.Juni 1953 unter erhöhtem Polizeiaufgebot vorm Gefängnis, vorzeitig von der Arbeit in einer Schneiderei zurück auf die Zellen gebracht werden. Und dass er kürzlich eine Urkunde bekommen hat für seine 40-jährige Mitgliedschaft in der SPD.

    "Das haben auch die Reaktionen der Schüler gezeigt, dass sie ganz präzise nachgefragt haben, wie es in der Situation war und wie die Lebensumstände gewesen sind. Und ich glaube, auf diese Weise wird ein sehr plastisches Bild der DDR gezeigt","

    so Dr. Frank Hoffmann vom Institut für Deutschlandforschung an der Ruhr-Universität Bochum, der das Zeitzeugenprojekt mitinitiiert hat.

    ""Im Grunde ist es unser Ziel, hier tief im Westen sozusagen ein bisschen zu informieren über die Geschichte der DDR. Und im Rahmen dieser verschiedenen Programme, die wir machen im wissenschaftlichen Bereich, auch im Bereich der öffentlichen Weiterqualifizierung von Dozenten, Lehrern, haben wir die Anfrage gehabt der Vereinigung der Opfer des Stalinismus, hier im Landesverband NRW, ob wir nicht im Bereich der Zeitzeugenarbeit mit politischen Häftlingen kooperieren können. Das war also eine Idee, die wir gemeinsam entwickelt haben und die dann mit Förderung der Landeszentrale für Politische Bildung und der Bundesstiftung Aufarbeitung realisiert wird."

    Bis Ende 2010 sollen die Zeitzeugengespräche auf Schulen in ganz NRW ausgeweitet werden. Aktuelle Forschungsergebnisse und Quellen, die das Institut für Deutschlandforschung für die Schulen aufbereitet, ergänzen die persönlichen Schilderungen von Zeitzeugen, die aus politischen Motiven heraus während verschiedener Phasen der DDR inhaftiert waren.

    "Die Veranstaltungsfolge will ein kleines bisschen gegen das Weichspülen der DDR angehen, dass es nicht nur eine kommode Diktatur gewesen ist, sondern dass eben auch sehr viele Leute auch für ihren politischen Freiheitskampf ins Gefängnis gegangen sind und schlimme Erfahrungen in der DDR gemacht haben. Ohne dass wir jetzt sagen wollen, die DDR war 40 Jahre lang ausschließlich Gefängnis und brutale Diktatur, aber es gehört nach unserem Verständnis dazu, dass man eben diese spezifische Facette der DDR auch wahrnimmt neben Kati Witt und Ostalgie und lustigen Liedern."

    Der Zeitzeuge Dieter Rother ist weit davon entfernt, seinen politischen Widerstand in der DDR als Heldentat zu stilisieren, das macht ihn auch für die Schüler besonders glaubwürdig. Das Engagement in der Demokratie hält Rother für wesentlich wirkungsvoller und wichtiger als in einer Diktatur, eine Botschaft mit der er auch den 19-jährige Schüler Milan Sommer erreicht, der diesen besondern Geschichtsunterricht an der Bochumer Hildegardis-Schule mitmoderiert hat:

    "Ich fand das halt wichtig auf jeden Fall, dass so etwas passiert, um halt auch dem Vergessen vorzubeugen, und dass man halt immer sich ins Gedächtnis ruft, was passieren kann. Und dass es wichtig ist, sich politisch zu engagieren, auch damit man auch bemerkt, falls solche Verhältnisse vielleicht wieder passieren könnten, dass man da entgegenwirken kann."

    Wenn Zeitzeugen mit ihren Berichten die deutsch-deutsche Vergangenheit lebendig werden lassen, bereichern sie nicht nur den Geschichtsunterricht. Sie beeinflussen auch die Forschungen zur Kultur- und Sozialgeschichte der DDR, allerdings räumt Frank Hoffmann vom Institut für Deutschlandforschung ein:

    "Zwischen Forschung, Wissenschaft, Zeitzeugen gibt es natürlich immer so ein Verhältnis der Hassliebe: Der Historiker generalisiert, der Wissenschaftler kommt zu Verallgemeinerungen und der Zeitzeuge konkretisiert und er widerspricht manchmal aufgrund der eigenen Lebenserfahrung. Teilweise natürlich auch mit dem Anspruch, es besser zu wissen als der Historiker. Und das ist ein Verhältnis, was uns immer auch als generelles Forschungskorrektiv dient. Die sind unverzichtbar für uns, um immer wieder zu schauen: Es gibt auch sozusagen die lebendige Individualerfahrung. Die hilft uns, auch viele grundsätzliche Erfahrungen besser zu verstehen."