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Von Chisinau nach Rom

Die Republik Moldau ist das ärmste Land Europas. Deshalb hat mittlerweile ein Drittel der erwachsenen, arbeitsfähigen Bevölkerung das Land verlassen, auf der Suche nach Arbeit vor allem in den Ländern der EU. Der Preis ist für die Betroffenen oft hoch: Oft bleiben die Kinder zurück, wachsen bei den Großeltern auf, bei Verwandten, Bekannten. So werden Familien getrennt. So entstehen Migrationsbiografien, die von Einsamkeit und Sehnsucht geprägt sind. Gesine Dornblüth mit einem Beispiel aus der Hauptstadt Chisinau.

    Straßenfest im Zentrum von Chisinau, der Hauptstadt der Republik Moldau. Auf einer Bühne hüpfen Kinder in grellen Kostümen. Silvia Munteanu und ihre beiden Kinder suchen nach einem Cafe. Die drei sehen sich selten. Acht Jahre schon lebt die Mutter in Rom, zunächst illegal. Dafür gab die Akademikerin eine feste Stelle im Finanzministerium von Moldau auf.

    "Die Kinder wurden immer größer, und ich musste über ihre Zukunft nachdenken. Da habe ich entschieden, meine Karriere zu opfern und etwas Besseres im Ausland zu suchen. Aber die Entscheidung war schwer. Ein Jahr habe ich hin und her überlegt. Dann habe ich acht Monate gebraucht, um ein Touristenvisum zu bekommen. Ich war beim Zahnarzt, um in Italien nicht gehen zu müssen, und solche Dinge. Ich wollte eigentlich nur ein halbes Jahr bleiben. In der Zeit, dachte ich, könnte ich so viel Geld verdienen wie möglich."
    Aber dann kam alles ganz anders. Die Agentur in Rom, die ihr angeblich innerhalb eines Tages eine Stelle vermitteln wollte, gab es gar nicht. Der Busfahrer setzte sie einfach auf der Straße ab. Landsleute brachten die Neuankömmlinge in einer Ruine ohne fließend Wasser unter. Ein Schock für die damals 39-Jährige. Dann traf sie eine ehemalige Studienkollegin, die ihr die ersten illegalen Putzjobs vermittelte.

    Silvia Munteanu überzog ihr Visum und konnte nicht mehr nach Hause, weil sie dann nicht wieder legal nach Italien hätte einreisen können. Drei Jahre sah sie ihre Kinder nicht. Dann bekam sie - im Rahmen einer Amnestie - eine Aufenthaltsgenehmigung in Italien. Mittlerweile hat sie eine legale Arbeitsstelle, führt einer alten Frau in Rom den Haushalt, für 850 Euro im Monat, plus Weihnachts- und Urlaubsgeld. Im großen und ganzen eine glückliche Geschichte, sagt Silvia Munteanu. Aber der Preis dafür war hoch. Die Tochter Doina war siebzehn, als sie ging, der Sohn Cristian acht, der Vater Alkoholiker. Cristian ist mittlerweile 16:

    "Ich habe sie sehr vermisst. Ich wollte sie sehen. Ich wollte mit ihr sprechen."

    Doina: "Als meine Mutter weggefahren ist, ist alles in mir leer geworden. In mir war nichts. Wenn ich nach Hause kam, wartete dort mein betrunkener Vater, die Wohnung, mein kleiner Bruder. Alles lastete auf mir. Das war sehr schwer für mich. Ich habe meine Mutter unglaublich vermisst. Ich habe sogar in ihrem Nachthemd geschlafen. In den ersten Wochen nach ihrer Abreise bin ich dauernd zu meiner Freundin gegangen und habe mir deren Mutter gesprochen, weil meine nicht da war. Und dann noch die Schule. Ich hatte oft Depressionen. Nach zwei Jahren dachte ich, sie kommt gar nicht mehr zurück."
    Dann starb auch noch ihr Großvater, ihre eigentliche Bezugsperson. Und die 17-Jährige musste allein sein Begräbnis organisieren. Silvia Munteanu, die Mutter, schluckt:

    "Wenn ich hier geblieben wäre, hätte sich nichts an unserer Situation geändert. Ich säße immer noch im Ministerium, wir hätten immer noch kein Geld. Was ich jetzt erreicht habe, hätte ich niemals erreichen können. Meine Tochter hat Hochschulabschluss, und ich hoffe, dass ich das auch meinem Sohn ermöglichen kann. Und mein Traum ist natürlich, dass die beiden nach Italien kommen und dort eine europäische Ausbildung kommen."
    Die drei setzen sich in eines der Straßencafes. Die Bedienung, eine missgelaunte ältere Frau, steht telefonierend in der Ecke und lässt die Gäste wissen, dass sie sich ihre Getränke schon selbst holen müssten. Silvia Munteanu schüttelt den Kopf über dieses Benehmen.

    "Für mich ist das Symbol Italiens der Geruch von frischem Cafe. Ich halte mich wirklich für einen Glückspilz. Denn ich bin in der Gesellschaft dort angekommen. Ich fühle mich dort wohl. Ich habe gute Freundinnen dort: Italienerinnen, eine Lateinamerikanerin, eine Afrikanerin. Ich habe in den vergangenen Jahren eine solide Basis aufgebaut, um mich dort wohlzufühlen."
    Und auf dieser Basis will sie nun ihre beiden Kinder nachholen. Doina möchte in Italien noch einmal studieren, Cristian seinen Schulabschluss machen. Beide lernen bereits die Sprache. Der Junge nippt an einer Cola.

    "Ich hoffe auf ein besseres Leben, auf andere Leute. Die Leute hier sind unhöflich. Deshalb will ich weg."
    Seine Schwester nickt. Sie hat ein Studium bereits hinter sich, einen vergleichsweise gut bezahlten Job beim Fernsehen. Trotzdem zieht es auch sie fort, nach Europa.

    "Ich sehe einfach keine Zukunft für mich in diesem Land. Ja, ich habe Arbeit. Aber von dem Geld, was ich verdiene, kann ich nicht leben. Und die Menschen hier sind nicht frei."
    Die drei machen einen harmonischen Eindruck. Doch die Wunden sitzen tief. Der 16-Jährige Cristian Munteanu weicht dem Blick der Mutter aus.

    "Es ist wichtig, dass in Zukunft alles gut wird. Man soll sich nicht an das Schlechte erinnern. Nur an das Gute."