"Die Angst war da. Fünf Jahre lang, das hat gereicht. Man muss auch die gute Seite des Menschen zeigen. Sie denken, das sind Bruchstücke der Fantasie? Es ist reine Beobachtung. Ich habe nichts hinzugedichtet."
Marek Edelman, Kardiologe, Anführer des Warschauer Getto-Aufstands 1943, starb 2009 in Warschau. Bedeutende Bücher über das Ghetto sind in Anlehnung an die Berichte Edelmans entstanden. Kurz vor seinem Tod erschien in Polen jener Band, der nun unter dem Titel "Die Liebe im Ghetto" auf Deutsch bei Schöffling vorliegt. Darin erzählt Edelman der Publizistin Paula Sawicka über seine Kindheit und Jugend im jüdischen Warschau vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, beschreibt den Lebensalltag im Ghetto und schildert Tage des Aufstands. Er spricht auch über intime Beziehungen unter den Getto-Bewohnern - oder das Schicksal einer Ärztin, die nach dem Krieg ein verwaistes jüdisches Kind zu sich nimmt, das im Erwachsenenalter zu ihrem Geliebten wird – bis ans Ende ihres Lebens.
"Das sind so ganz gängige Dinge, einfachste menschliche Gefühle. Und die zählen. Es ist das, was ich gesehen habe. Niemand hat über die Liebe erzählt, ich habe darüber erzählt. Die Liebe ist eine schwierige Sache, Töten ist einfach."
Unter den Menschen, an die sich Marek Edelman in seinem Buch erinnert, erscheint auch die Frau, die – wie der Erzähler vermerkt – im April 1943 per Telefonanruf von der "arischen" Seite vor Massendeportationen aus dem Ghetto in die Vernichtungslager warnte und damit zum Ausbruch des Aufstands beitrug. Es war Wiera Gran. Bereits in den 30er-Jahren galt die Chansonsängerin Wiera Gran in Warschau als Berühmtheit. Vom Frühjahr 1941 bis zum Spätsommer 1942 trat die jüdische Künstlerin im "Sztuka" auf, dem wohl bekanntesten Lokal des Warschauer Ghettos. Danach war sie einer, wie sie es selbst formulierte, 60 Jahre währenden Verleumdungsstaffel ausgesetzt. Sie musste, obwohl von allen Gerichten und Untersuchungskommissionen frei gesprochen, gegen den Vorwurf kämpfen, sie habe im Ghetto mit der Gestapo kollaboriert.
Dem Leben von Wiera Gran hat die polnische Erzählerin und Journalistin Agata Tuszyńska einen Dokumentarroman gewidmet, der nun im Insel Verlag vorliegt.
- "Ich will ein Buch über Sie schreiben."
- "Davor habe ich keine Angst. Man hat bereits viele Lügen über mich verbreitet. Sie müssen bedenken, ich bin dieser Herr K. von Kafka."
- "Madame K ..."
- "Madame, Madame ...!" Es geht um meine Haut! Sie verstehen immer noch nichts. Sie verstehen rein gar nichts. Sie sind ein Dickschädel!"
Wenig später:
Wiera entschuldigt sich. "Vielmals. Bitte ... Bitte verzeihen Sie mir. Wenn ich ausraste, werde ich unerträglich!"
Agata Tuszyńska, geboren 1957, ist eine erfahrene Dokumentarschriftstellerin. Sie hat unter anderem ein Buch über ihre eigene Familie vorgelegt, in der die jüdische Herkunft der Mutter bis ins Erwachsenenalter der Tochter hinein verschwiegen wurde. Tuszyńskas Mutter kam als Kind ins Ghetto, mit der Großmutter lebte sie in unmittelbarer Nähe des Café "Sztuka", in dem die Sängerin Wiera Gran als Star gefeiert wurde. Auch ihre eigene Familiengeschichte war für Agata Tuszyńska ein Motiv für ihr Buch über Wiera Gran.
"Ich wollte um jeden Preis ihre Geschichte hören, um diesen Teil der Wirklichkeit des Warschauer Ghettos kennenzulernen, deren Zeuge sie war, einer von wenigen Zeugen. Tatsächlich traf ich auf sehr viele Schwierigkeiten. Sie war sehr misstrauisch, zu diesem Zeitpunkt schon krank und von Zwangsvorstellungen befallen. Auf der anderen Seite wollte sie aber darüber sprechen. Sie hatte ja niemanden, mit dem sie sprechen konnte, denn in den letzten Jahren ging sie nicht mehr aus dem Haus."
Agata Tuszyńska beschreibt ihre Begegnungen mit der vereinsamten Sängerin in ihrer Pariser Wohnung Anfang des 21. Jahrhunderts und rollt von dort aus das ganze Leben der Wiera Gran auf. Während des Ersten Weltkriegs, wahrscheinlich 1916, geboren und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, nennt man sie bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Warschau in einem Atemzug mit Greta Garbo oder Marlene Dietrich. Sie singt Polnisch, spielt aber auch in "On a hejm", einem jiddischen Film, dem letzten, der vor Kriegsausbruch entstand. 1939 flüchtet die Künstlerin aus dem von den Deutschen eingenommenen Warschau in den sowjetisch besetzten Osten des Landes, kehrt aber im Frühjahr 1941 nach Warschau zurück. Sie will ihre Mutter, die dort krank ausharrt, nicht im Stich lassen, unterschätzt die Gefahr durch die Deutschen und sieht für sich im Ghetto auch Auftrittsmöglichkeiten. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie fortan im "Sztuka". Dort verkehren Dichter und Gelehrte, schaut der junge Marcel Reich-Ranicki als Kritiker der "Jüdischen Zeitung" vorbei. Dort vertreiben sich aber auch Schieber und Nazikollaborateure ihre Zeit. Sogar Polen schleichen sich von der "arischen" Seite ins Ghetto, um Wiera Gran zu erleben, die dort, wie es heißt, für das Publikum eine "Messe des Vergessens" zelebriert.
Seit es vom Rest der Welt abgeriegelt war, schöpfte das Getto seine Kraft zum Überleben aus sich selbst, denn anfangs wollte es leben. Es war zwar geschlossen, aber dennoch eine Stadt, ein lebendiger Organismus, ein Ort, wo Menschen atmeten, einkauften, aßen, sich kleideten und auf die Toilette gingen. Es gab Friseure, Maniküresalons, Schuster, Graveure, Revuen und Sinfonieorchester.
16 Monate lang trat Wiera Gran im "Sztuka" auf. Im August 1942 floh sie mit Hilfe ihres Ehemanns, der auf der "arischen" Seite lebte, aus dem Ghetto. Die Mutter und die Schwestern blieben zurück, wurden ermordet. Von nun an kursierten – in Form von Notizen in der polnischen Untergrundpresse und als Gerücht unter Juden - die niemals belegten Anschuldigungen, Wiera Gran sei eine Gestapo-Agentin gewesen, habe Verrat geübt, andere ans Messer geliefert. Nach Kriegsende geht die Beschuldigte zwar vor ein polnisches Gericht und bekommt recht, ein Schiedsspruch des Berufsverbands entlastet sie. Doch ihren Ruf wird sie nicht los. Ihren Hauptgegner sieht sie in dem Mann, der sie im "Sztuka" auf dem Klavier begleitete und für sie komponierte. Es ist Władysław Szpilman, der Jahrzehnte später als Held in Roman Polańskis Film "Der Pianist" weltberühmt werden soll. Nach Kriegsende zum Leiter der Musikabteilung des polnischen Radios avanciert, wollte er, schreibt Tuszyńska, Wiera Gran dort nicht arbeiten lassen. Gran behauptet in ihren Erinnerungen gar, sie habe Szpilman in der Uniform eines Getto-Polizisten angetroffen. Weil Agata Tuszyńska diese Behauptung zwar nicht bestätigt, sie aber - gestützt auf eine Aussage von Marek Edelmann – für möglich erklärt, prozessiert der Sohn Szpilmans derzeit gegen die Buchautorin. Für Tuszyńska lautet die Frage: Warum wurde aus Władysław Szpilman ein Held und aus Wiera Gran eine Verräterin?
"Ich habe darüber mit Marek Edelman gesprochen. Er sagte, dass die überlebenden Juden nach dem Krieg der Ansicht waren, rein zu sein, sogar heilig, deshalb suchten sie nach Sündenböcken. Eine Frau eignete sich dafür vorzüglich, sie ließ sich leichter mit Steinen bewerfen als ein Mann. Außerdem hatte Wiera Gran einen schwierigen Charakter, sie war launisch, hatte Starallüren. Damit fand sie keinen Gefallen – mal abgesehen von den tragischen Verhältnissen im Ghetto -, wo man auf die Straße ging und auf hungernde Kinder stieß, wo mit Zeitungspapier bedeckte Leichen herumlagen, während die feine Gesellschaft im Café "Sztuka" Champagner trank und einer Sängerin lauschte."
Auch Marek Edelman, der Anführer im Getto-Aufstand, belastete Wiera Gran nach Kriegsende, eigentlich grundlos, weil das so üblich war, wie er gegenüber Agata Tuszyńska im Buch selbstkritisch einräumt. 1950 verließ Wiera Gran ihren Ehemann und das kommunistische Polen, in dem sie keinen Fuß auf den Boden bekam. Im Exil lebte sie ein Leben mit wechselnden, immer unglücklich endenden Beziehungen, präsentierte französische Mode in Schweden und gastierte als Sängerin in aller Welt. Doch wo immer sie auftrat: Der Ruf der Verräterin eilte ihr voraus. Jüdische Opferverbände drohten im KZ-Anzug Konzertauftritte zu sprengen, verängstigte Veranstalter sagten ab. Je mehr Anstrengungen sie unternahm, die Vorwürfe zu entkräften, desto tiefer geriet Wiera Gran – ganz nach Franz Kafka – in den Strudel der Verdächtigungen.
Agata Tuszyńska ergänzt die Lebensgeschichte immer wieder durch Reportagen und essayistische Betrachtungen, präsentiert dazu die Ergebnisse ihrer Archivrecherchen. Mit der "Sängerin aus dem Ghetto" ist ihr ein großer Dokumentarroman gelungen. In einfacher Sprache, mit präziser Beobachtungsgabe und analytischem Scharfsinn wird das Schicksal einer Frau geschildert, die es wagt, sich auch unter extremen, unmenschlichen Bedingungen als Künstlerin zu verwirklichen – und die dafür bis zum Tode büßen muss.
Buchinfos:
Marek Edelman, Kardiologe, Anführer des Warschauer Getto-Aufstands 1943, starb 2009 in Warschau. Bedeutende Bücher über das Ghetto sind in Anlehnung an die Berichte Edelmans entstanden. Kurz vor seinem Tod erschien in Polen jener Band, der nun unter dem Titel "Die Liebe im Ghetto" auf Deutsch bei Schöffling vorliegt. Darin erzählt Edelman der Publizistin Paula Sawicka über seine Kindheit und Jugend im jüdischen Warschau vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, beschreibt den Lebensalltag im Ghetto und schildert Tage des Aufstands. Er spricht auch über intime Beziehungen unter den Getto-Bewohnern - oder das Schicksal einer Ärztin, die nach dem Krieg ein verwaistes jüdisches Kind zu sich nimmt, das im Erwachsenenalter zu ihrem Geliebten wird – bis ans Ende ihres Lebens.
"Das sind so ganz gängige Dinge, einfachste menschliche Gefühle. Und die zählen. Es ist das, was ich gesehen habe. Niemand hat über die Liebe erzählt, ich habe darüber erzählt. Die Liebe ist eine schwierige Sache, Töten ist einfach."
Unter den Menschen, an die sich Marek Edelman in seinem Buch erinnert, erscheint auch die Frau, die – wie der Erzähler vermerkt – im April 1943 per Telefonanruf von der "arischen" Seite vor Massendeportationen aus dem Ghetto in die Vernichtungslager warnte und damit zum Ausbruch des Aufstands beitrug. Es war Wiera Gran. Bereits in den 30er-Jahren galt die Chansonsängerin Wiera Gran in Warschau als Berühmtheit. Vom Frühjahr 1941 bis zum Spätsommer 1942 trat die jüdische Künstlerin im "Sztuka" auf, dem wohl bekanntesten Lokal des Warschauer Ghettos. Danach war sie einer, wie sie es selbst formulierte, 60 Jahre währenden Verleumdungsstaffel ausgesetzt. Sie musste, obwohl von allen Gerichten und Untersuchungskommissionen frei gesprochen, gegen den Vorwurf kämpfen, sie habe im Ghetto mit der Gestapo kollaboriert.
Dem Leben von Wiera Gran hat die polnische Erzählerin und Journalistin Agata Tuszyńska einen Dokumentarroman gewidmet, der nun im Insel Verlag vorliegt.
- "Ich will ein Buch über Sie schreiben."
- "Davor habe ich keine Angst. Man hat bereits viele Lügen über mich verbreitet. Sie müssen bedenken, ich bin dieser Herr K. von Kafka."
- "Madame K ..."
- "Madame, Madame ...!" Es geht um meine Haut! Sie verstehen immer noch nichts. Sie verstehen rein gar nichts. Sie sind ein Dickschädel!"
Wenig später:
Wiera entschuldigt sich. "Vielmals. Bitte ... Bitte verzeihen Sie mir. Wenn ich ausraste, werde ich unerträglich!"
Agata Tuszyńska, geboren 1957, ist eine erfahrene Dokumentarschriftstellerin. Sie hat unter anderem ein Buch über ihre eigene Familie vorgelegt, in der die jüdische Herkunft der Mutter bis ins Erwachsenenalter der Tochter hinein verschwiegen wurde. Tuszyńskas Mutter kam als Kind ins Ghetto, mit der Großmutter lebte sie in unmittelbarer Nähe des Café "Sztuka", in dem die Sängerin Wiera Gran als Star gefeiert wurde. Auch ihre eigene Familiengeschichte war für Agata Tuszyńska ein Motiv für ihr Buch über Wiera Gran.
"Ich wollte um jeden Preis ihre Geschichte hören, um diesen Teil der Wirklichkeit des Warschauer Ghettos kennenzulernen, deren Zeuge sie war, einer von wenigen Zeugen. Tatsächlich traf ich auf sehr viele Schwierigkeiten. Sie war sehr misstrauisch, zu diesem Zeitpunkt schon krank und von Zwangsvorstellungen befallen. Auf der anderen Seite wollte sie aber darüber sprechen. Sie hatte ja niemanden, mit dem sie sprechen konnte, denn in den letzten Jahren ging sie nicht mehr aus dem Haus."
Agata Tuszyńska beschreibt ihre Begegnungen mit der vereinsamten Sängerin in ihrer Pariser Wohnung Anfang des 21. Jahrhunderts und rollt von dort aus das ganze Leben der Wiera Gran auf. Während des Ersten Weltkriegs, wahrscheinlich 1916, geboren und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, nennt man sie bereits vor dem Zweiten Weltkrieg in Warschau in einem Atemzug mit Greta Garbo oder Marlene Dietrich. Sie singt Polnisch, spielt aber auch in "On a hejm", einem jiddischen Film, dem letzten, der vor Kriegsausbruch entstand. 1939 flüchtet die Künstlerin aus dem von den Deutschen eingenommenen Warschau in den sowjetisch besetzten Osten des Landes, kehrt aber im Frühjahr 1941 nach Warschau zurück. Sie will ihre Mutter, die dort krank ausharrt, nicht im Stich lassen, unterschätzt die Gefahr durch die Deutschen und sieht für sich im Ghetto auch Auftrittsmöglichkeiten. Ihren Lebensunterhalt bestreitet sie fortan im "Sztuka". Dort verkehren Dichter und Gelehrte, schaut der junge Marcel Reich-Ranicki als Kritiker der "Jüdischen Zeitung" vorbei. Dort vertreiben sich aber auch Schieber und Nazikollaborateure ihre Zeit. Sogar Polen schleichen sich von der "arischen" Seite ins Ghetto, um Wiera Gran zu erleben, die dort, wie es heißt, für das Publikum eine "Messe des Vergessens" zelebriert.
Seit es vom Rest der Welt abgeriegelt war, schöpfte das Getto seine Kraft zum Überleben aus sich selbst, denn anfangs wollte es leben. Es war zwar geschlossen, aber dennoch eine Stadt, ein lebendiger Organismus, ein Ort, wo Menschen atmeten, einkauften, aßen, sich kleideten und auf die Toilette gingen. Es gab Friseure, Maniküresalons, Schuster, Graveure, Revuen und Sinfonieorchester.
16 Monate lang trat Wiera Gran im "Sztuka" auf. Im August 1942 floh sie mit Hilfe ihres Ehemanns, der auf der "arischen" Seite lebte, aus dem Ghetto. Die Mutter und die Schwestern blieben zurück, wurden ermordet. Von nun an kursierten – in Form von Notizen in der polnischen Untergrundpresse und als Gerücht unter Juden - die niemals belegten Anschuldigungen, Wiera Gran sei eine Gestapo-Agentin gewesen, habe Verrat geübt, andere ans Messer geliefert. Nach Kriegsende geht die Beschuldigte zwar vor ein polnisches Gericht und bekommt recht, ein Schiedsspruch des Berufsverbands entlastet sie. Doch ihren Ruf wird sie nicht los. Ihren Hauptgegner sieht sie in dem Mann, der sie im "Sztuka" auf dem Klavier begleitete und für sie komponierte. Es ist Władysław Szpilman, der Jahrzehnte später als Held in Roman Polańskis Film "Der Pianist" weltberühmt werden soll. Nach Kriegsende zum Leiter der Musikabteilung des polnischen Radios avanciert, wollte er, schreibt Tuszyńska, Wiera Gran dort nicht arbeiten lassen. Gran behauptet in ihren Erinnerungen gar, sie habe Szpilman in der Uniform eines Getto-Polizisten angetroffen. Weil Agata Tuszyńska diese Behauptung zwar nicht bestätigt, sie aber - gestützt auf eine Aussage von Marek Edelmann – für möglich erklärt, prozessiert der Sohn Szpilmans derzeit gegen die Buchautorin. Für Tuszyńska lautet die Frage: Warum wurde aus Władysław Szpilman ein Held und aus Wiera Gran eine Verräterin?
"Ich habe darüber mit Marek Edelman gesprochen. Er sagte, dass die überlebenden Juden nach dem Krieg der Ansicht waren, rein zu sein, sogar heilig, deshalb suchten sie nach Sündenböcken. Eine Frau eignete sich dafür vorzüglich, sie ließ sich leichter mit Steinen bewerfen als ein Mann. Außerdem hatte Wiera Gran einen schwierigen Charakter, sie war launisch, hatte Starallüren. Damit fand sie keinen Gefallen – mal abgesehen von den tragischen Verhältnissen im Ghetto -, wo man auf die Straße ging und auf hungernde Kinder stieß, wo mit Zeitungspapier bedeckte Leichen herumlagen, während die feine Gesellschaft im Café "Sztuka" Champagner trank und einer Sängerin lauschte."
Auch Marek Edelman, der Anführer im Getto-Aufstand, belastete Wiera Gran nach Kriegsende, eigentlich grundlos, weil das so üblich war, wie er gegenüber Agata Tuszyńska im Buch selbstkritisch einräumt. 1950 verließ Wiera Gran ihren Ehemann und das kommunistische Polen, in dem sie keinen Fuß auf den Boden bekam. Im Exil lebte sie ein Leben mit wechselnden, immer unglücklich endenden Beziehungen, präsentierte französische Mode in Schweden und gastierte als Sängerin in aller Welt. Doch wo immer sie auftrat: Der Ruf der Verräterin eilte ihr voraus. Jüdische Opferverbände drohten im KZ-Anzug Konzertauftritte zu sprengen, verängstigte Veranstalter sagten ab. Je mehr Anstrengungen sie unternahm, die Vorwürfe zu entkräften, desto tiefer geriet Wiera Gran – ganz nach Franz Kafka – in den Strudel der Verdächtigungen.
Agata Tuszyńska ergänzt die Lebensgeschichte immer wieder durch Reportagen und essayistische Betrachtungen, präsentiert dazu die Ergebnisse ihrer Archivrecherchen. Mit der "Sängerin aus dem Ghetto" ist ihr ein großer Dokumentarroman gelungen. In einfacher Sprache, mit präziser Beobachtungsgabe und analytischem Scharfsinn wird das Schicksal einer Frau geschildert, die es wagt, sich auch unter extremen, unmenschlichen Bedingungen als Künstlerin zu verwirklichen – und die dafür bis zum Tode büßen muss.
Buchinfos:
- Agata Tuszyńska: "Die Sängerin aus dem Ghetto", aus dem Französischen von Xenia Osthelder, Insel Verlag Berlin, 379 Seiten, Preis: 26,95 Euro
- Marek Edelman: "Die Liebe im Ghetto, aufgeschrieben und mit einem Vorwort versehen von Paula Sawicka", aus dem Polnischen von Joanna Manc, Schöffling Verlag Frankfurt am Main, 178 Seiten, Preis: 19,95 Euro