Völlig losgelöst
Von der Einsamkeit in der modernen Gesellschaft

Einsamkeit ist ein großes Thema in den westlichen Gesellschaften geworden, sie kann jede und jeden treffen, ist in jeder Altersstufe anzutreffen. Und die Zahl einsamer Menschen ist in den letzten Jahren rapide gestiegen. Was können wir dagegen tun?

Von Stefan Kühl |
Ein Mädchen blickt mit aufgestützen Armen über eine Betonmauer, im Hintergrund Hochhäuser.
Auch junge Menschen sind bedroht: Von Einsamkeit sind nicht mehr nur ältere Menschen betroffen, deren Lebenspartner und Freunde bereits verstorben sind. (IMAGO / HalfPoint Images / IMAGO)
Einsamkeit ist als Thema in der Politik angekommen. Ende 2023 hat das Bundeskabinett eine Strategie der Bundesregierung gegen Einsamkeit beschlossen. Und setzt auf gesellschaftliche Aufklärung und Achtsamkeit. Zugleich soll stärker zu Einsamkeit geforscht werden. 
Wie lässt sich das sich ausbreitende Gefühl von Einsamkeit erklären? Wie hängt es mit der Ausbildung von Freundschaften, Liebesbeziehungen und Kleinfamilien in der modernen Gesellschaft zusammen? Wodurch lässt sich die Entstehung dieser zwischenmenschlichen Beziehungen fördern? Die Fragen müssen insbesondere moderne Gesellschaften beantworten, um gelingendes soziales Leben zu ermöglichen.
Schon seit der Hochzeit der Industrialisierung beklagen Zeitdiagnostiker den Bedeutungsverlust persönlicher Beziehungen. In Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäusern, Universitäten und Schulen degeneriere der Mensch, so die Diagnose, zu einem beliebig austauschbaren Rollenträger. 
Damit besteht die Gefahr, dass der ganze Mensch aus dem Blick gerät, die Bindungslosigkeit wächst, wenn der Kontakt zu anderen Menschen nicht mehr über eine Rolle vermittelt wird. Das Unpersönliche ist zur Signatur moderner Gesellschaften geworden. Wichtiger wird die Funktion von Freundschaftsgruppen und modernen Familienformen.
Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Zugleich berät er Unternehmen, Verwaltungen und Ministerien in Fragen der Organisations- und Strategieentwicklung. Zuletzt sind von ihm u.a. die Bücher "Der ganz formale Wahnsinn: 111 Einsichten in die Welt der Organisationen" (Vahlen Verlag) und "Ganz normale Organisationen – Zur Soziologie des Holocaust" (Suhrkamp Verlag) erschienen.

„Ein Hauptstudium der Jugend“, glaubte Arthur Schopenhauer, „sollte sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen; weil sie eine Quelle des Glückes, der Gemütsruhe ist.“ Aber ist das so? Lernen heute nicht immer mehr Menschen, Einsamkeit zu ertragen, ohne sie aber als Glück zu erleben. Ein Blick auf das Einsamkeitsbarometer muss selbst das sonnigste Gemüt betrüben: Insgesamt klagt, so jedenfalls die von der Bundesregierung in Auftrag gegebene Untersuchung, fast jede dritte Person in Deutschland über erhebliche Einsamkeitsbelastungen.
Einsamkeit wird mittlerweile als ein zentrales gesellschaftliches Problem betrachtet. Sie kann, da ist sich die Forschung sicher, zu körperlichen Erkrankungen, schlechterem Schlafverhalten, ungesunden Ernährungsgewohnheiten, ausgeprägten Angststörungen, Anfälligkeit für Depressionen und erhöhter Selbstmordneigung führen. Gleichzeitig droht das Gefühl in einem Prozess der „Selbstvergiftung“ die Ressentiments gegenüber Andersdenkenden zu erhöhen, weil man ihnen den sozialen Austausch und emotionale Nähe neidet. Von Einsamkeit sind dabei nicht mehr nur ältere Menschen bedroht, deren Lebenspartner und Freunde bereits verstorben sind, sondern zunehmend auch junge Menschen, deren Leben über Jahrzehnte durch dieses Gefühl bestimmt werden kann.
Das bedrückende Gefühl von Einsamkeit entsteht dabei häufig durch das Fehlen enger Bezugspersonen. Man hat Sehnsucht nach einer guten Freundin, der man alles anvertrauen kann, nach einer Liebesbeziehung, die Bedürfnisse nach körperlicher Nähe befriedigen kann, oder nach Kindern, mit denen man seinen Alltag teilen kann. Aber – und das ist ein überraschender Befund – die Empfindung von Einsamkeit kann auch entstehen, wenn man einen großen Freundeskreis, eine langjährige Liebesbeziehung oder eine Familie mit mehreren Kindern hat, sich aber von den Freunden, Liebespartnern oder Familienmitgliedern nicht ausreichend gesehen fühlt.
Und: Einsamkeit lässt sich gar nicht so einfach ausdrücken, nicht zuletzt, weil dieses Gefühl stigmatisiert wird. Man kann anderen gegenüber zum Ausdruck bringen, dass man angespannt, ärgerlich, ausgelaugt, besorgt, betrübt, entrüstet, enttäuscht, erregt, frustriert, gelangweilt, gereizt, missmutig, perplex, ruhelos, schwunglos, träge, ungeduldig oder unsicher ist – solche Empfindungen äußern wir unentwegt, gefragt oder nicht gefragt. Aber dass man einsam ist, bringt man nur schwerlich über die Lippen. Vielleicht hängt das ja damit zusammen, dass sich das Gegenüber – gewollt oder ungewollt – mit der Artikulation des Gefühls der Einsamkeit aufgefordert fühlt, die Einsamkeit des Anderen zu reduzieren. Wer kann da nicht nachvollziehen, dass man in solchen Situationen unter Druck gerät und sich mit schlechtem Gewissen dieser Begegnung entzieht, den Kontakt abbricht und so das Gefühl der Einsamkeit beim anderen noch weiter verstärkt? Könnte es nicht sein, dass viele Menschen, weil sie diese Reaktion antizipieren, das Gefühl lieber für sich behalten und so die eigene Einsamkeit noch verstärken? Ein Teufelskreis.
Die „Epidemie der Einsamkeit“ ruft inzwischen die Politik auf den Plan, nicht zuletzt auch deswegen, weil das „Ohne-mich-Gefühl“ der Einsamen als ein Grund für ihre Anfälligkeit für populistische Rattenfänger gesehen wird. Wissenschaftler erheben statistisch den Grad der Vereinsamung in verschiedenen Alterskohorten. Ministerien lassen eine „präventionsorientierte Politik gegen Einsamkeit“ entwickeln, mit der die „Qualität von Nahbeziehungen“ gesichert werden soll. Organisationen der sozialen Hilfe erfinden „Engagementformen“, mit denen „gleichzeitig zur Vorbeugung von Einsamkeit“ beigetragen und zur „Teilhabe an politischen Prozessen“ eingeladen werden soll. Einige Regierungen denken sogar über die Einrichtung eines eigenen Ministeriums für das Einsamkeitsproblem nach oder haben schon eines eingerichtet.
Aber wie lässt sich dieses sich ausbreitende Gefühl von Einsamkeit erklären? Wie sehr hängt es mit der Ausbildung von Freundschaften, Liebesbeziehungen und Kleinfamilien in der modernen Gesellschaft zusammen? Und wodurch lässt sich die Entstehung dieser zwischenmenschlichen Beziehungen fördern?
Seit der Hochzeit der Industrialisierung beklagen Zeitdiagnostiker den Bedeutungsverlust persönlicher Beziehungen. In Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäusern, Universitäten und Schulen degeneriere der Mensch, so die Diagnose, zu einem beliebig austauschbaren Rollenträger. Für eine Wahrnehmung des Mitarbeiters als „ganze Person“ bliebe in Organisationen schlichtweg kein Platz und keine Zeit. Die Popularität des Buches Die einsame Masse, das der Soziologe David Riesman kurz nach dem Zweiten Weltkrieg publizierte, hing auch damit zusammen, dass es als Klage über eine zunehmende Vereinsamung des Menschen in einer anonymen Masse gelesen werden konnte.
Hinter dieser regelmäßig in immer neuen Formen vorgebrachten Zeitdiagnose steckt ein vergleichsweise simples Entwicklungsmodell von einer auf persönlichen Beziehungen basierenden, traditionalen Gesellschaft hin zu einer auf unpersönlichen Kontakten basierenden, modernen Gesellschaft. Die auf Personenkenntnis basierende „mechanische Solidarität“ traditionaler Gesellschaften, so glaubte schon der Soziologe Émile Durkheim Ende des 19. Jahrhunderts, werde durch eine auf Sachkriterien basierende „organische Solidarität“ ersetzt. Die „Gemeinschaft“, in der die Menschen sich noch als Menschen begegneten, so die Überzeugung des Soziologen Ferdinand Tönnies, wird abgelöst durch eine „Gesellschaft“, in der Beziehungen vorrangig an funktionalen Erfordernissen ausgerichtet werden.
Auf den ersten Blick hat diese Klage eine gewisse Plausibilität. In der modernen Gesellschaft sind soziale Kontakte, die auf persönlichem Vertrauen und persönlichen Kenntnissen basieren, aus sehr vielen Feldern verdrängt worden. Beim Einkauf im Supermarkt können wir – wenn wir es da überhaupt noch mit Menschen zu tun haben, nicht davon ausgehen, dass wir aufgrund persönlicher Beziehungen einen besonders guten Preis bekommen. Vor Gericht nutzen persönliche Beziehungen glücklicherweise wenig, um einer Strafe zu entgehen. In einem Unternehmen darf man nicht damit rechnen, dass man aufgrund eines freundschaftlichen Kontakts zur Betriebsleiterin von einer Kündigung verschont bleibt.
Auf den zweiten Blick jedoch ist es gar nicht so klar, die moderne Gesellschaft ausschließlich als unpersönliche Massengesellschaft zu charakterisieren. Gerade in Abgrenzung zur Vielzahl unpersönlicher Beziehungen erscheinen dem Einzelnen Beziehungen attraktiv, in denen er das, was er „als sein Eigenstes begreift“, anderen mitteilen kann und „sich in anderen bestätigt“ findet. Schließlich kreisen viele alltägliche Erfahrungen und Gespräche, aber auch Serien, Popsongs, Filme, Theaterstücke und so weiter um das Eingehen von Paarbeziehungen, die Gründung von Familien oder die Bildung von Freundschaften, die uns gerade im Kontrast zur unpersönlichen Tätigkeit in Organisationen so reizvoll erscheinen.
Schon früh ist in der Soziologie darauf aufmerksam gemacht worden, dass die sich immer stärker ausdifferenzierenden gesellschaftlichen Felder wie Wirtschaft, Politik, Erziehung, Wissenschaft und Massenmedien eben auch die Ausbildung von einem eigenen gesellschaftlichen Funktionssystem notwendig gemacht haben, in dem Personen ihre Bedürfnisse nach persönlicher Ansprache und Nähe befriedigen können. Die Erwartung, sich in diesen Bereichen den gängigen Rollen zu unterwerfen, führt dazu, dass kommunikative Räume gesucht werden, in denen jenseits dieser abstrakten Rollenerwartungen Personen als Person adressiert werden können und Menschen sich als ganze begegnen.
Die „Erfindung“ der romantischen Liebe in der modernen Gesellschaft kann eben genau mit der Notwendigkeit einer Sozialform erklärt werden, in der der Mensch sich als ganze Person angesprochen fühlen kann. Auch das Zusammenleben mit Kindern in einer glücklichen Kleinfamilie wird mitunter zum „höchsterstrebenswerten Gut“, zum „Hafen in einer herzlosen Welt“ verklärt. Und der Nutzen von Freundschaften kann schließlich, so die bekannte Formulierung des Journalisten und Soziologen Siegfried Kracauer, in der Möglichkeit gesehen werden, „sich gemeinsam zu entfalten, ohne sich aneinander zu verlieren“, „sich hinzugeben, um sich erweitert zu besitzen“, „zur Einheit zu verschmelzen und doch getrennt für sich bestehen zu bleiben“.
Persönliche Beziehungen leben, so die Beobachtung Niklas Luhmanns, einerseits „von der Erwartung, daß man hier für alles, was einen angeht, ein Recht auf Gehör“ findet, andererseits „aber auch eine Pflicht hat, Rede und Antwort zu stehen“. In persönlichen Beziehungen kann man erzählen, aber „man darf auch fragen.“ Irgendwie klingt das selbstverständlich, aber vor dem Hintergrund des Befundes jener Epidemie der Einsamkeit und der Diagnose der kalten Massengesellschaft ist das alles andere als selbstverständlich. Aufgrund der gesellschaftlich verankerten Erwartungen persönlicher Kommunikation bieten diese sozialen Gebilde der Liebe, Kleinfamilie und Freundeskreise dem Einzelnen jedoch die Möglichkeit, sich als ganze Person zu zeigen. Man findet hierin, so der Freundschaftsforscher Harry Blatterer, die „Anerkennung als authentisches Selbst“.
Der Nutzen von persönlichen Nahbeziehungen besteht zuerst einmal für die einzelne Person. Liebesbeziehungen, Kleinfamilien und Freundesgruppen bieten dem Einzelnen, so Niklas Luhmann, „Schutz und Halt gegenüber den dominanten Merkmalen der modernen Gesellschaft – gegenüber dem wirtschaftlichen Zwang zur Arbeit und Ausbeutung, gegenüber staatlichen Regulierungen, gegenüber der ins Technologische drängenden Forschung“.
Durch den Nutzen für den Einzelnen erfüllen diese Beziehungen aber natürlich auch eine wichtige gesellschaftliche Funktion. Weil in den meisten Bereichen der Gesellschaft erwartet wird, dass Personen auf die Selbstdarstellung als ganzer Mensch verzichten, um sich in Rollenzusammenhängen zu präsentieren, werden Bereiche umso nötiger, in denen genau diese Darstellung der Person ermöglicht wird. Schließlich möchte man beim Kauf von Sneakern nicht von der komplexen Lebensgeschichte des Verkaufspersonals belästigt werden, und wenn es unerwarteterweise so kommt, könnte dies wiederum der Beginn einer wundervollen Freundschaft sein, die nichts mehr mit dem Funktionszusammenhang des Sportgeschäfts zu tun hat.
In der Alltagswahrnehmung wird häufig davon ausgegangen, dass es Liebebeziehungen, Familien und Freundesgruppen immer schon gegeben hat. Schon die frühen Stammesgesellschaften in Europa, Afrika, Asien und Amerika scheinen auf familiären Gruppen als zentrales Ordnungsprinzip aufgebaut gewesen zu sein, in denen sich alle untereinander kannten und als Person einzuschätzen wussten. Auch zur Zeit der frühen Hochkulturen, welche die Stammesgesellschaften abgelöst haben, scheinen sich Elemente von Liebesbeziehungen, Kleinfamilien und Freundschaften beobachten zu lassen. Man denke nur an die Liebeskonzepte der „Philia“ im Griechischen und der „Amicitia“ im Lateinischen, die uns immer noch an heutige Begriffe von Freundschaft und Liebe erinnern.
Es wäre aber ein Fehler, hier vorschnell Strukturähnlichkeiten zwischen antiken Nahbeziehungsmodellen und unserem Verständnis von Liebesbeziehungen, Kleinfamilien und Freundschaften entdecken zu wollen. In der vormodernen Gesellschaft war etwa die „Semantik der leidenschaftlichen Liebe“ weitgehend für außereheliche Beziehungen reserviert, weil die Ehe und die damit verbundene Erwartung der Gründung einer Familie stark von ökonomischen, politischen und religiösen Überlegungen geprägt war. Freundschaften fanden sich häufig in Form von sakral abgesicherten Erwartungen in Blutsbruderschaften und Schwurfreundschaften, deren Verletzung zum Ausschluss aus dem Gemeinwesen führen konnte. Mit der modernen Vorstellung einer frei gewählten Beziehung zwischen Personen hatte dies bei Lichte betrachtet wenig zu tun.
Mit der Romantik bildete sich in Europa die ungewöhnliche Vorstellung, dass – wie Luhmann sagt – „nur die Liebe über die Ehe entscheiden sollte“. In dieser Zeit lud sich die Beziehung zwischen Eltern und Kind mit dem Konzept der Mutterliebe und – zeitversetzt – auch mit der Vaterliebe auf. Es entstanden freundschaftliche Beziehungen, die auf der anerkannten Freiheit basierten, seine Freunde selbst wählen zu können. Kurz – Die „Systeme persönlicher Beziehungen“ in Form von Paarbeziehungen, Kleinfamilien und Liebesbeziehungen erschienen, so der kürzlich verstorbene Soziologe Friedhelm Neidhardt, als ein „relativ spätes Evolutionsprodukt gesellschaftlicher Entwicklung“.
Die Ausbildung von Freundesgruppen, Kleinfamilien und Liebesbeziehungen hat dabei weitgehend parallel zur Entstehung von Organisationen stattgefunden. Freundesgruppen, Kleinfamilien und Liebesbeziehungen mit dem für sie typischen (modernen) Personenbezug setzen sich genau in dem Moment durch, in dem durch die Bildung von Organisationen in der Politik, dem Recht, der Wissenschaft und der Wirtschaft immer stärker unpersönliche Beziehungen dominant geworden sind. Die wahrgenommene Anonymität der auf Rollenträger reduzierten Menschen ging mit einem „zunehmenden Nahweltbedarf“ einher. Dass gewissermaßen die Bürokratie die romantische Liebe hervorgebracht hat, ist am Ende doch eine überraschende Einsicht.
In der modernen Gesellschaft existieren seither verschiedene Modelle, wie das unstillbare Bedürfnis nach Nähe des Menschen und die häufig konkurrierenden Anforderungen von Liebesbeziehungen, Kleinfamilien und Freundschaften miteinander in Einklang zu bringen sind. Oder sich wenigstens nicht in die Quere kommen. Wie dies geschehen kann, das führt die gelebte Beziehungspraxis uns alltäglich vor, oder die Vorstellungen und Idealisierungen, die wir uns machen. Am besten etwa wäre, wenn alle persönlichen Beziehungen in der Kleinfamilie stattfinden. Fast ist es, als sei sie dafür erfunden worden. Es ist ein Ort der Konzentration auf alles Wesentliche in diesem Funktionszusammenhang. Da das aber wohl eher schön gedacht als wirklich gelebt worden ist, gibt es ein anderes Modell, das der Koordination, in dem der Mensch die konkurrierenden Anforderungen aus der Kleinfamilie, der Liebesbeziehung und den Freundesgruppen möglichst reibungslos abzustimmen versucht. Dieses Modell ist zwar realitätsnäher, zugleich aber furchtbar anstrengend: Denn wie soll man zusätzlich zu allen unpersönlichen Rollen auch noch zugleich zärtlich liebender Ehemann und Vater, beziehungsweise Ehefrau und Mutter, feurige Liebhaberin oder Liebhaber und bester Freund oder Freundin sein. Bleibt schließlich das Modell der Kompensation, in dem der Wegfall einer persönlichen Beziehung, zum Beispiel einer Liebesbeziehung, durch eine andere Form beispielsweise die Intensivierung einer Freundschaft ersetzt wird. Anstrengend ist das dann wohl jeweils für das Gegenüber.
Konzentrieren sich alle Nahbeziehungsweisen auf die Kleinfamilie, fallen in einer fast schon romantisierten Vorstellung Liebesbeziehung, Freundesgruppe und Familie zusammen. Die liebevolle Paarbeziehung wird dabei zum Kern der Kleinfamilie, das gemeinsame Kind als „Liebesfrucht“ von Frau und Mann angesehen. Das Ideal hierfür ist, dass der Liebespartner oder die Liebespartnerin gleichzeitig auch der beste Freund oder die beste Freundin ist und die Beziehung zu den erwachsenen Kindern um den Charakter einer Freundschaft erweitert wird. Die Familie, in der das Verhältnis der Erwachsenen untereinander und die Beziehung der Kinder zueinander durch Liebe erfüllt ist, wird dabei als Ausdruck „persönlicher Erfüllung“ – ja „des Glücks“ schlechthin angesehen. Das kann wohl nur in Rosamunde Pilcher-Filmen „Wirklichkeit“ werden, für einen Augenblick dessen, was selbst eingefleischte Fans des Genres als Guilty Plessure erleben. Vielleicht ja deshalb, weil der Alltag in spätmodernen Beziehungsformen schlicht und einfach weit entfernt ist von der Romantik von „Stadt, Land, Kuss“. Mit zunehmender Individualisierung ist der Anspruch, dass sich alle Bedürfnisse in einem einzigen verdichteten Intimsystem namens Kleinfamilie verwirklichen lassen, in vielen Fällen kaum noch umsetzbar.
In der westlichen Gesellschaft ist deswegen das Modell der Koordination relevanter. Hier befriedigen Personen ihre Bedürfnisse nach persönlicher Ansprache über verschiedene Wege und stimmen sie miteinander ab. Wenn man sich die aktuelle Ratgeberliteratur anschaut, wird in einer Kumulation von unterschiedlichen Beziehungsformen das Erfolgsrezept für ein glückliches Leben gesehen. Personen können, so jedenfalls die Vorstellung, eine innige Liebesbeziehung zu ihrem Lebenspartner unterhalten, unabhängig davon ein enges Verhältnis zu ihren Kindern pflegen und sich gleichzeitig in verschiedenen Freundeskreisen bewegen. Der moderne Mensch erscheint dabei als eine Art Bricoleur, der sich nicht nur seinen ganzen Lebenslauf, sondern auch seine persönlichen Beziehungen ganz individuell zusammenbastelt. Dass dies nicht ganz einfach ist, kann man schon daran erkennen, dass es nicht nur Eifersucht zwischen Geliebten, Kindern oder Freunden geben kann, sondern auch Liebespartner eifersüchtig sein können, wenn ihr Partner zu viel Zeit mit einer besten Freundin oder allein mit den Kindern verbringt. Beste Freunde sind für Liebesbeziehungen in den meisten Fällen ziemlich gefährlich.
Im Modell der Kompensation wird davon ausgegangen, dass es eher die Ausnahme ist, dass Menschen gleichzeitig eine befriedigende Beziehung zu ihrem Liebespartner, zu ihren Kindern und zu ihren Freunden führen können. Üblicher ist, dass die fehlende Befriedigung persönlicher Kontaktbedürfnisse in einem Bereich durch eine Intensivierung in einem anderen ersetzt werden. Jeder und jede weiß ja, wie anstrengend es werden kann, wenn Personen sich von ihren Partnern oder Partnerinnen trennen und plötzlich ganz viel Zeit für ihre alten Freundinnen und Freunde haben.
Hinter der Diagnose einer zunehmenden Vereinsamung des Menschen steckt die Beobachtung, dass bei vielen Menschen eben keines dieser Modelle mehr zum Tragen kommt. Es existiert keine Kernfamilie, in der sich der Mensch mit all seinen Bedürfnissen wiederfinden muss. Es gibt keine Beziehungen zu Liebespartnern, Kindern oder Freunden, die koordiniert werden können. Es sind keine engen Freunde vorhanden, die das Ende von Liebesbeziehungen oder das Zerwürfnis mit Kindern ersetzen können.
Wenn Menschen ihre Bedürfnisse nach persönlicher Nähe nicht durch enge Freundschaften, erfüllende Liebesbeziehungen oder Kontakt zu Kindern befriedigen können, suchen sie nach anderen Möglichkeiten einer persönlichen Ansprache. In ihrer Einsamkeit entwickeln Menschen ein hohes Maß an Kreativität, um sich Räume zu schaffen, in denen sie sich einerseits als Person darstellen und sich andererseits als Person angesprochen fühlen können.
Ein erster bekannter Mechanismus ist es, sachliche Beziehungen für die Befriedigung persönlicher Bedürfnisse zu „gebrauchen“. Die Seniorin, die regelmäßig bei ihrer Hausärztin vorspricht, sucht häufig keinen medizinischen Rat, sondern die persönliche Ansprache durch einen Menschen. Der Versuch, den Bezahlakt im Supermarkt zum Ratschen oder Klatschen zu nutzen, wird durch die organisatorischen Vorgaben der Unternehmen unterlaufen, aber gerade ältere Käufer entwickeln erhebliche Fantasie, wie sie an der Kasse zumindest einige persönliche Worte wechseln können. Und es gibt schon Supermärkte, die solche Ratschkassen eingerichtet haben, so dass Reden Silber bleiben darf, das Kaufen aber Gold. Und das Trinkgeld im Stammcafé oder in der Stammkneipe dient nicht nur der Sicherstellung eines guten Service, sondern auch der Honorierung der persönlichen Ansprache durch das Service-Personal.
Eine weitere bekannte Möglichkeit zur Reduzierung von Einsamkeit ist die Anschaffung von Haustieren, mit denen gesprochen und der Alltag geteilt wird. Vermutlich ist es Ausdruck einer modernen Gesellschaft, dass ziemlich ähnlich aussehende Tiere in einem Fall als Nahrungsmittel dienen, im anderen Fall aber eine zentrale Funktion bei der Reduzierung von Einsamkeit spielen.
Ein drittes Mittel, das die persönliche Ansprache durch den Menschen ersetzen kann, sind technische Apparaturen. Man denke nur an virtuelle Haustiere, Bot-Kontakte, Sexpuppen oder Pflegeroboter, die zumindest in einigen Aspekten die guten Freunde, den Liebhaber oder die Kleinfamilie ersetzen sollen. Die hühnereigroßen Tamagotchis waren dabei sicherlich der Prototyp eines technischen Spielzeugs, bei dem man sich nicht nur um Grundbedürfnisse wie Essen und Trinken kümmern, sondern dem man auch regelmäßige Fürsorge zukommen lassen musste. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis mit Hilfe von künstlicher Intelligenz und einer verbesserten Robotik die ersten Apparate entstehen, mit denen auch das Wickeln von Babys, das Besäufnis mit dem besten Freund oder der Sexualakt mit einem Liebhaber realitätsnah simuliert werden können.
Im Idealfall haben all diese Mechanismen nicht nur eine Ausgleichsfunktion für persönliche Nähe, sondern dienen im besten Fall auch zur Anbahnung zwischenmenschlicher Beziehungen. Die Chancen dafür sind jedoch unterschiedlich gut. Der Besuch in einem Stammcafé oder einer Stammkneipe bringt die Chance mit sich, irgendwann nicht nur mit dem Personal, sondern auch mit anderen Gästen ins Gespräch zu kommen. Ein Hund bietet die Möglichkeit, mit anderen Hundebesitzern in Kontakt zu kommen und sei es auch nur, weil sich die Hunde gegenseitig ineinander verbeißen.
Trotz allem Streben nach sozialen Hilfsmechanismen bleibt es bei einem signifikanten Anstieg von Einsamkeitserfahrungen in den modernen Gesellschaften. Dass hier Handlungsbedarf besteht, ist bei der Politik angekommen. Die Herausforderung für sie besteht darin, dass sich das Eingehen und die Pflege personenbezogener Beziehungen von staatlicher Seite nicht verordnen lassen. In einer Demokratie würde es Irritationen auslösen, wenn der Staat das Eingehen von Freundschaften, Liebesbeziehungen oder die Zeugung einer Mindestzahl von Kindern gesetzlich vorschreiben würde. Die steuerliche Bevorzugung von Familien, Paarbeziehungen oder Freundschaften mag ein bewährtes staatliches Instrument sein, ist aber hinsichtlich der Steuerungswirkungen bezogen auf Einsamkeit begrenzt.
Hier zeichnet sich eine Besonderheit personenbezogener Beziehungen im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Bereichen ab. Im Bereich der Erziehung kann der Staat Schulen betreiben, in dem der Wissenschaft Universitäten, in dem der Gesundheit Krankenhäuser, in dem der Politik Verwaltungen, Armeen und Polizeien und in der Wirtschaft Unternehmen subventionieren. Dass der Staat aber eigene Familien betreibt, ist aufgrund der Zielsetzung zur Produktion persönlicher Nähe eher unwahrscheinlich und darf wohl in den Ideenbereich düsterer Orwellscher Dystopien abgeschoben werden. Persönliche Beziehungen lassen sich von der Politik immer nur indirekt fördern.
Eine erste Möglichkeit zur Intensivierung persönlicher Beziehungen besteht in Arbeitsorganisationen wie Unternehmen, Verwaltungen, Krankenhäusern und Schulen. Zwar wäre es eine unzureichende Beschreibung, wenn man die primäre Leistung von Arbeitsorganisationen darin sehen würde, die Anbahnung von Freundschaften oder Liebesbeziehungen zu ermöglichen, aber es kann nicht übersehen werden, dass das „Gesetz des Wiedersehens“ in Organisationen dazu beiträgt, ohne großes Risiko die Möglichkeit für persönliche Beziehungen zu initiieren. Das heißt: Man lernt das Gegenüber in der Rolle eines Organisationsmitglieds kennen, macht sich dabei ein Bild über dessen Person und kann so langsam eine persönliche Beziehung aufbauen.
Einen zweiten Ort zur Anbahnung von persönlichen Beziehungen bieten Interessenorganisationen wie Schachclubs, Sportvereine oder Elterninitiativen. In diesen sozialen Gebilden steht offiziell nicht die Verkupplung ihrer Mitglieder im Zentrum, sondern die gemeinsame Ausübung einer Aktivität. Man erkennt das mühsame Austarieren der widersprüchlichen Ansprüche daran, ob bei den Mitgliedern eher das Vermeiden anspruchsvoller Trainingseinheiten oder das Verweigern des regelmäßigen Biertrinkens nach dem Training negativ sanktioniert wird.
Ein dritter Weg zur Anbahnung persönlicher Beziehungen sind Bewegungen in Bereichen der Politik, der Religion oder des Sports. Diese können nur existieren, weil sich ihre Mitglieder in einer Vielzahl von kleineren Gruppierungen zusammenschließen, in denen man sich über gemeinsame Ziele verständigt, Aktivitäten plant und durchführt sowie Erfahrungen auswertet. Man denke nur an Gebetskreise innerhalb der evangelikalen Bewegung, die jugendlichen Schlägertrupps in rechtsextremen Bewegungen oder Fan-Initiativen, die sich um Profifußballvereine herum bilden. Diese Gruppierungen sind mitunter so klein, dass sich in ihnen persönliche Beziehungen zwischen allen Mitgliedern ausbilden können und sie damit einen stark einsamkeitsreduzierenden Effekt für ihre Mitglieder haben. Die Ideologien von Querdenkern, Reichsbürgern oder Klimaaktivisten mögen einem abstrus erscheinen, man droht aber zu übersehen, wie stark über diese das Gefühl persönlicher Nähe befriedigt wird.
Wenn man von staatlicher Seite Einsamkeit wirklich reduzieren möchte, kann man also eigentlich immer nur über Bande spielen. Man muss versuchen, Menschen in Arbeit zu bringen, damit sie die Möglichkeit haben, miteinander in Kontakt zu treten. Man muss Vereinsbildung erleichtern, nicht primär, weil dort Menschen kognitiv oder körperlich gefordert werden, sondern weil dort persönliche Kontakte entstehen können. Man muss als Politiker Anlässe für Protest geben, damit es dabei zu einer Verdichtung von persönlichen Beziehungen kommt. Es mag vielleicht nicht der Anliegen der Politik sein, Menschen massenhaft bei Demonstrationen zusammenzubringen, aber der Einsamkeitsentwicklung schadet sie. Insofern ist eine schlechte Politik insgesamt eine gute Politik gegen Einsamkeit.