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Von der Ghetto-Chronik bis zum Tagebuch

Historische Dokumente über den Nationalsozialismus gibt es viele - aber vermutlich keine sind so bedrückend und gleichzeitig aufschlussreich wie die Zeitzeugenberichte von Opfern und einfachen Bürgern. Eine Arbeitsstelle an der Uni Gießen sammelt diese Texte und ediert sie, um sie für Schulen, Universitäten und die Öffentlichkeit bereitzustellen.

Von Brigitte Baetz |
    Tagesbericht vom 8. Februar 1944
    Das Wetter: Früh 1 Grad über 0, es schneit. Mittag 6 Grad, Sonnenschein.
    Sterbefälle: 4. Geburten: 1.
    Festnahmen: Verschiedenes: 4, Widerstand: 1.
    Bevölkerungsstand: 79.777
    Tagesnachrichten: Schwere Tage im Getto. Schon in den gestrigen Abendstunden wusste man, dass wieder eine Aussiedlung angeordnet ist. 1500 Arbeiter müssen über Aufforderung des Arbeitsamtes Posen nach außerhalb des Gettos gesandt werden.


    Von Januar 1941 bis Ende Juli 1944 entstand ein einzigartiges Dokument vom Leben im Ghetto von Lodz. Mehrere Mitarbeiter des Archivs der jüdischen Ghetto-Verwaltung verfassten – ohne Wissen der Deutschen – eine tägliche Chronik. Eine Art Zeitung, die nie im Ghetto verteilt, sondern konsequent für die Nachwelt verfasst wurde.

    "Den deutschen Teil gestalten vor allen Dingen Dr. Oskar Singer aus Prag und Dr. Oskar Rosenfeld aus Wien, beide sehr, sehr erfahrene Journalisten, die diese Chronik noch mal journalistischer machen, sie auch feuilletonistischer machen und sie führen plötzlich Rubriken ein wie "Man hört - man spricht", das sind dann Gerüchte, die aufgezeichnet werden, dann den "Kleinen Ghetto-Spiegel", das sind eigentlich literarische Miniaturen, wo man versucht zu erklären, was es bedeutet, in diesem Ghetto zu sein","

    sagt Sascha Feuchert, Leiter der Arbeitsstelle Holocaust-Literatur.

    ""Und das Spannende ist, dass sie konsequent eine Zeitung machen, die es uns erlaubt, auch heute noch den Kenntnisstand der Chronisten zum jeweiligen Zeitpunkt nachzuvollziehen. Das bedeutet, wenn sie sich irren, wenn sie neue Informationen bekommen, dann wird nicht der alte Chronikeintrag überarbeitet, sondern in dem neuen wird geschrieben: Unsere gestrige Meldung bezüglich dieses oder jenes Sachverhaltes ist nicht richtig. Das heißt, Sie haben eine Dynamik in diesem Text, die wirklich, was solche Dokumente angeht, einmalig ist. Und wir haben wirklich das Gefühl, wir können diesen Menschen zuschauen."

    Fast erscheint es als ein Wunder, dass uns das heute möglich ist. Denn wir könnten diese Chronik nicht lesen, hätte nicht Nahmann Zonabend, ein ehemaliger Briefträger in Lodz, bei der Liquidierung des Gettos die Geistesgegenwart besessen, die Koffer mit den Akten in einen Brunnen zu werfen. Zonabend überlebte den Holocaust, kam zurück nach Lodz und rettete die Chronik, die zu 60 Prozent auf Deutsch geschrieben wurde.

    Sascha Feuchert, Leiter der Arbeitsstelle Holocaust-Literatur an der Universität Gießen hat sie ediert. Sie gibt einen einmaligen Blick in eines der düstersten Kapitel des 20. Jahrhunderts. Die interdisziplinäre Arbeitsstelle widmet sich authentischen Texten, aber auch Romanen und Erzählungen, die im Zusammenhang mit der Verfolgung der europäischen Juden entstanden sind. Viele davon sind Zufallsfunde.

    "Wir versuchen im Prinzip Literaturwissenschaft, Literaturdidaktik und Editionsphilologie für diesen Gegenstand zu verbinden. Editionsphilologie bedeutet: Wir machen Editionen, versuchen Texte zu edieren, die vielleicht andere nicht ediert haben, die vielleicht noch nicht so in der Wahrnehmung waren. Die Chronik von Lodz/Litzmannstadt ist ein solcher Text, aber auch die Tagebücher Friedrich Kellners, die 2012 erschienen sind, die noch einmal ganz neu gezeigt haben, wie eigentlich der Normalbürger zur Kenntnis genommen hat, was so in dem Dritten Reich läuft."
    Mit der Herausgabe der Tagebücher von Friedrich Kellner gelang der Arbeitsstelle sogar ein Auflagenerfolg. Der Laubacher Justizinspektor hatte von 1939 bis 1945 aufmerksam die Zeitungen ausgewertet und kommentiert – und sie mit eigenen Beobachtungen in Zusammenhang gesetzt. Seine Journale dokumentieren, wie viel der normale deutsche Bürger hätte wissen können, wenn er sich denn dafür interessieren wollte. Am 10. Juni 1941 schreibt Kellner:

    "In letzter Zeit mehren sich die Anzeigen über Todesfälle in der Heil- und Pflegeanstalt Hadamar. Es hat den Anschein, dass unheilbare Pflegebefohlene in diese Anstalt gebracht werden. Auch soll eine Anlage zur Einäscherung eingebaut worden sein."

    Und am 28. Oktober 1941 notiert Kellner:

    "Ein im Urlaub befindlicher Soldat berichtet als Augenzeuge fürchterliche Grausamkeiten in dem besetzten Gebiet in Polen. Er hat gesehen, wie nackte Juden und Jüdinnen, die vor einem langen, tiefen Graben aufgestellt wurden, auf Befehl der SS von Ukrainern in den Hinterkopf geschossen wurde."

    Solche Texte wie die von Friedrich Kellner zu finden und wissenschaftlich aufzubereiten, hat sich die Arbeitsstelle Holocaust-Literatur in Gießen zum Ziel gesetzt. Seit der Veröffentlichung von Kellners Tagebüchern bekommt das Institut auch andere Aufzeichnungen von "normalen Bürgern" zugeschickt:

    "Wir haben zum Beispiel das Tagebuch bekommen von einer Frau, die überzeugte Nationalsozialistin ist und nur 200 Kilometer von Kellner entfernt sitzt, fast dieselben Artikel ausschneidet und zu völlig anderen Ergebnissen kommt."

    Die Arbeitsstelle Holocaust-Literatur ediert aber nicht nur, sondern bereitet ihre Funde literaturdidaktisch auf, um sie für Schule, Universität und Öffentlichkeit zu erschließen. Das neueste Projekt der Arbeitsstelle ist eine Online-Datenbank für die Bibliografie deutscher und polnischer Holocaust- und Lagerliteratur bis 1949. Der Leiter Sascha Feuchert:

    "Die Phase 45-49 ist besonders spannend, weil dort das erste Mal in Deutschland Texte erscheinen von Opfern für die anderen Deutschen sozusagen und bislang ist immer wissenschaftlicher Konsens gewesen, dass da nicht sehr viele Opfer gesprochen hätten. Schon jetzt können wir sagen, dass das so nicht stimmt."

    Denn es gab Hunderte von Zeugnissen von KZ-Opfern, die nach dem Krieg, auch mithilfe der Alliierten, auf den Buchmarkt gebracht wurden. Zum großen Teil allerdings in derart drastischer Aufmachung, dass vielleicht schon die Einbände vom Kauf oder von der Lektüre abgehalten haben. Zum Beispiel Fotos von Leichenbergen in Dachau mit zusätzlich aufgedrucktem Blutfleck:

    "Das ist etwas, das wir heute als vollkommen unpassend ansehen würden. Das ist aber von Häftlingen gemacht, von Dachau und hier sehen Sie, das ist ein Blick regelrecht zeichnerisch in die Gaskammer. Auch das würde man heute sicherlich so nicht wollen, sondern man will da ja viel dezenter vorgehen."

    Die Ablehnung der Opfer-Literatur war im Nachkriegsdeutschland heftig und total, sagt Sascha Feuchert. Selbst Wolfgang Borchert, der seelisch und körperlich verwundet aus dem Krieg heimgekehrte Schriftsteller, kritisierte in einer Rezension die Flut, wie er es nannte, der KZ-Literatur. Feuchert:

    "Und da gibt es so eine wirklich harte Passage, in der er dann sagt, es sei so, als würde ein Fieberkranker auf die Fieberkurve eines anderen schauen müssen. Und damit vergleicht er sozusagen das Schicksal der Deutschen nach 45 mit dem der Häftlinge davor und er macht dann auch Vergleiche auf: Haben sich damals die Leichen vor den Krematorien gestapelt, wenn es so weiter geht, werden sie es bald wieder tun. Haben die Häftlinge Hunger gelitten, das tun wir auch. Also eine Parallelisierung, die wir uns heute so gar nicht vorstellen können. Aber es ist ein Beleg für dieses Rausdrängen eigentlich aus dem Bewusstsein."

    Die Arbeitsstelle Holocaust-Literatur macht diese Texte wieder zugänglich. Bald werden keine unmittelbaren Zeugen der NS-Verbrechen mehr leben – umso wichtiger ist es, dass die Texte zu einer möglichst großen Zahl von Menschen sprechen können.

    Mehr auf dradio.de:

    Die Zukunft des Holocaust-Gedenkens - Grenzen der kollektiven Erinnerung (1/4)
    Der Tod der Zeitzeugen - Gedenken an Opfer der NS-Zeit