"Ich bin ein politisch denkender Mensch und treffe daher die Entscheidung, diesen Parteien, diesem Angebot meine Stimme nicht zu geben. So - und wenn man das noch öffentlich artikuliert, finde ich, haben wir eine sehr vitale Demokratie."
Harald Welzer, Sozialpsychologe, Universität Flensburg.
"Positiv kann man natürlich sagen, dass er eine Debatte angezündet hat. Kritisch dabei sehe ich, dass er mit seinen Argumenten vielen Bürgerinnen und Bürgern, auch engagierten, quasi eine schicke Vorlage liefert, sich weiter ins Privatgebiet zurückzuziehen, sich weiter in die Zuschauerdemokratie einzureihen und nur über die da oben zu klagen, aber nicht selber anzupacken."
Thomas Leif, Journalist und Politikwissenschaftler, Universität Koblenz-Landau.
"Nicht wählen zu gehen, das bedient eine ganze Reihe von Stereotypen, von Ideen, die wir auch in der Bevölkerung verbreitet finden, nämlich die Vorstellung, dass Wählen keinen Unterschied macht, dass die Parteien sich nicht unterscheiden etc. Hier stellt sich die Frage, was ist die Alternative zum Nichtwählen, und diese Frage wird nicht richtig beantwortet."
Stefan Marschall, Politikwissenschaftler, Universität Düsseldorf.
"Das inhaltliche Argument stimmt nicht, alle würden das Gleiche vertreten. Wenn man an die Steuerpolitik denkt, wenn man an den Mindestlohn denkt, auch wenn man an Syrien denkt, wo die Linke sich beispielsweise anders positioniert als die anderen Parteien. Es gibt Unterschiede und darüber wird am 22. September abgestimmt, und das sollte man nicht schlecht reden."
Thorsten Faas, empirischer Wahlforscher, Universität Mainz.
Im Mai hatte Harald Welzer im Spiegel einen Essay geschrieben, dass er bei der anstehenden Bundestagswahl keine Stimme abgibt, da es nichts zu wählen und nichts zu entscheiden gebe. Denn die Parteien würden sich in ihrer Politik nicht mehr wesentlich voneinander unterscheiden, und die nationalen Parlamente seien von den globalisierten Märkten längst entmachtet. Welzer hat auch andere dazu aufgerufen, die Wahlurnen zu boykottieren. Diese Haltung hat er im August in einem Interview im Deutschlandradio Kultur noch einmal bekräftigt: Es handelt sich aber nicht um das Bekenntnis eines Unpolitischen, sondern um eine Provokation, eine Brandrede über Macht und Ohnmacht der Wähler, über den Zustand der Demokratie. Welzer hat damit eine Diskussion entfacht - zumal sich seine rationale Entscheidung mit einer diffusen Stimmung im Lande trifft, wo Wahlmüdigkeit spürbar ist, und man deshalb befürchten muss, dass die Zahl der Nicht-Wähler weiter ansteigt. Thorsten Faas:
"Zunächst einmal ist es erfreulich, dass bei dieser Bundestagswahl wieder mehr über Fragen der Wahlbeteiligung gesprochen wird, als das bei früheren Wahlen der Fall war. Es mag damit zu tun haben, dass wir beim letzten Mal eine Beteiligung von nur 70 Prozent bei der Bundestagswahl hatten, und dass damit einfach deutlich geworden ist: Wir können nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass 80, 90 Prozent der Bürger von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen. Also das Thema ist da und es ist auch wichtig."
In der Öffentlichkeit heißt es, die Gruppe der Nicht-Wähler stelle inzwischen die stärkste Partei. Aber diese Charakterisierung verkennt, dass das Spektrum der Nicht-Wähler äußerst heterogen ist. Zu dieser Menge gehören Leute, die mit dem politischen Kurs einverstanden sind, die glauben, sie könnten zu Hause bleiben, weil alles auch ohne sie gut weiterlaufen wird. Den Gegenpol bilden andere, die sich mit keiner der Parteien und ihren angebotenen Positionen anfreunden können, nachdem sie sich gründlich informiert haben. Doch beides sind kleine Minderheiten unter den Nicht-Wählern, wie die empirische Wahlforschung herausgefunden hat:
"Die große Gruppe der Nichtwähler kommt tatsächlich aus Segmenten der Gesellschaft, die man typischerweise als bildungsfern, oft auch als prekär bezeichnet, was ein wirklich problematischer Befund ist, denn das sind typischerweise auch Gruppen, deren Alltag stark durch politische Entscheidungen betroffen und berührt wird, beispielsweise durch Festsetzung von Hartz IV-Sätzen, einfach staatliche Transferzahlungen, d. h. eigentlich wäre das eine Gruppe, die im hohen Maße von Politik betroffen ist, von der man sich daher auch wünschen würde, dass sie darauf reagiert durch entsprechende Stimmabgaben, was aber nicht funktioniert."
Eine paradoxe Situation. Warum haben sich gerade solche Bevölkerungsgruppen, deren Lage von Armut und Arbeitslosigkeit bestimmt ist, die stärker auf Politik angewiesen ist, von eben dieser Politik abgewandt? Ist es Resignation, die im Wesentlichen selbst verschuldet ist? Oder haben auch die Parteien versagt, wenn sie die Menschen nicht mehr erreichen? Dazu der Politikwissenschaftler Stefan Marschall:
"Das ist ein problematischer Trend, insofern er in der Tat dazu führt, dass Teile der Bevölkerung sich im repräsentativen System, das sie vertreten soll, so nicht mehr wiederfinden. Das führt nicht dazu, dass bestimmte Parteien gewählt werden, die diesen Protest aufgreifen, sondern eher dazu, dass man nicht zur Wahl geht, also dazu, Apathie statt einer Protesthaltung einzunehmen. Das ist problematisch für eine Demokratie, die repräsentativ ist und deshalb auf das Vertrauen baut zwischen denen, die Politik machen, und denen, die vertreten werden."
Verfestigt sich hier eine Apathie der Modernisierungsverlierer, - von Menschen mit Minijobs, im Niedriglohnsektor, Langzeitarbeitslosen, dem sogenannten Prekariat, das seiner miserablen Lage nicht mehr entkommt und darüber resigniert? Oder verhält es sich noch weit schlimmer? Entspricht die subjektive Apathie der Modernisierungsverlierer vielleicht sogar einem objektiven Befund, nämlich dem Sachverhalt, dass ihre Interessen von den großen Parteien gar nicht mehr vertreten, ja dass sie selbst von den Parteien aufgegeben seien. Thomas Leif vertritt diese brisante These.
"Ich glaube, dass es auch eine Entscheidung ist, zumindest der Regierung, diese Zielgruppe, dieses Wahlelektorat nicht mehr zu betreuen, und es ist durchaus eine rationale Haltung dieser Gruppen, die sagen, dass ihre Interessen nicht substanziell vertreten werden. Also es ist im Grunde eine grassierende Hoffnungslosigkeit, dass sich an ihrem Schicksal etwas ändern kann, deshalb der Rückzug aus dem öffentlichen Leben, es ist auch belegt, dass diese Gruppen in bestimmten Wohnquartieren überhaupt keine Medien mehr konsumieren außer dem Anzeigenblatt und ein bisschen privatem Rundfunk, dass sie im Grunde vom öffentlichen Geschehen abgekoppelt werden und dann, wenn es etwa bei Volksabstimmungen um ihre Interessen geht, wie bei der Schulwahl in Hamburg, dass sie nicht mehr wählen und die Privilegierten, die dieses Recht wahrnehmen, am Ende des Tages bei diesen Entscheidungen reüssieren, und sie unten wieder durchs Rost fallen."
Die Wahlforschung registriert eine zunehmende Entfremdung zwischen deklassierten Gruppen und den Parteien und Parlamenten, d. h. zwischen dem Volk und seinen Volksvertretern, jedenfalls was das Gros der Nichtwähler angeht. Das ist bedenklich, weil dann zur ökonomischen und sozialen Marginalisierung noch eine politische hinzukäme. Was kann man dagegen tun? Manche Parteien setzen im Wahlkampf, so Thorsten Faas, auf das neue Mittel der Hausbesuche. Das mag forciert wirken, stellt immerhin den Versuch dar, sich wieder anzunähern, sich vor Ort die Nöte, aber auch die Erwartungen der Menschen anzuhören.
Dann jedoch Lösungen anzubieten und zu versprechen - das wird zunehmend schwieriger, weil die Politik komplexer geworden ist, und die Entscheidungsmacht der einzelnen Parlamente abgenommen hat. Politikwissenschaftler sprechen von einer Mehrebenendemokratie:
"Wir leben in einer Mehrebenendemokratie - das auf jeden Fall, ganz viel von dem, was uns betrifft, wird in Brüssel entschieden, anderes wird auf Länderebene, wieder anderes auf kommunaler Ebene entschieden, da erkennen Bürgerinnen und Bürger nicht immer, was jetzt genau auf welcher Ebene entschieden wird und das ist nicht unproblematisch, denn man sollte jetzt am 22. September letztlich Kriterien anlegen, über die dann die Bundeskanzlerin oder ein Bundeskanzler tatsächlich entscheiden kann, Gegenstände, die dann tatsächlich auch bundespolitische Bezüge haben."
Ein Mehrebenensystem bedeutet aber nicht nur, dass Entscheidungen lediglich auf verschiedene Parlamente verteilt werden, es ist in der Praxis auch ein Machtverlust gegenüber außerparlamentarischen Kräften, eine Schwächung der vom Volk direkt gewählten Vertretungen.
"Mehrebenensysteme bedeuten, dass Entscheidungen nicht nur einfach im nationalen Kontext bestimmt werden, sie werden anderswo gefällt, sie müssen aber im nationalen Kontext umgesetzt werden, das betrifft vor allem die Rechtssetzung der Europäischen Union, die im nationalen Bereich umgesetzt werden muss, aber dort nicht verantwortet wird. Die Parlamente gelten als die Verlierer in diesem Mehrebenenspiel, weil die Exekutiven in der Lage sind, die Regierungen über die Ebenen hinweg zu koordinieren und zu kooperieren und damit eventuell sogar die Parlamente ausspielen zu können."
In Krisensituationen, etwa der Eurokrise, wird besonders deutlich, dass die führenden Regierungschefs der EU weitgehende Entscheidungen untereinander und mit der Europäischen Zentralbank treffen, und anschließend zu Hause die Parlamente nötigen, - mit dem Argument, es gebe keine Alternative - ihrem Kurs zu folgen und die beschlossenen Rettungspakete abzusegnen.
Thomas Leif kritisiert, dass hier eine Aushöhlung der Demokratie stattfinde, in Richtung so genannter postdemokratischer Zustände, also einer Scheindemokratie, in der die Institutionen wie das Parlament fortbestehen, aber inhaltlich entmachtet sind.
"Es gibt zwar Wahlen und parlamentarische Verfahren, aber die wichtigen Entscheidungen in diesem parlamentarischen Prozessen werden klammheimlich vom Wirtschaftsakteuren und deren Hilfstruppen entschieden, das ist eine Situation, die sicherlich der Tendenz nach steigt, die relevant ist und die man ernst nehmen muss. Der frühere Umweltminister Norbert Röttgen hat selbst gesagt, die Parteien müssen aufpassen, dass sie nicht ihre Legitimationsgrundlagen verlieren, und Legitimationsgrundlagen sind vor allen Dingen: autonomes Handeln, demokratischer Streit um bessere Lösungen und insbesondere faire, offene, parlamentarische Verfahren und die Pflege von Institutionen, all diese Faktoren sind derzeit Not leidend."
Während die Macht der Parlamente abnimmt, und vielleicht auch als Ausgleich, fordern Bürger seit einiger Zeit stärkere Mitwirkungs- und Entscheidungskompetenzen bei Großprojekten aller Art. Immer mehr Bürger sind unzufrieden mit den üblichen Entscheidungsverfahren. Und sie mischen sich erfolgreich ein, am längsten und heftigsten im Streit um die Atomenergie, seit den 90er-Jahren auch in vielen anderen Bereichen, wo es um Fluglärm, Autobahnen, Müllverbrennungsanlagen und andere Bauvorhaben geht. Stuttgart 21 war das spektakulärste Beispiel der jüngsten Vergangenheit. Und im Raum München schwelt seit Jahren der Streit um den Bau einer dritten Start- und Landebahn.
"Wo etwas passiert in der Bürgerschaft, das ist, wenn es direkte Betroffenheit gibt, also vor Ort, ganz besonders interessant ist das Engagement von Fluglärmbetroffenen, also da wo möglicherweise auch die Immobilien in Mitleidenschaft gezogen werden, da wo Lebensqualität massiv sinkt usw., da passiert viel, das ist auch sehr beachtlich, also man kann sagen, wenn es individuelle Betroffenheit gibt, dann fokussiert sich Protest und Engagement. Aber ansonsten halte ich die ganze Protestlandschaft und Engagementlandschaft in Deutschland für äußerst unterentwickelt gemessen an den Problemen. Das Sinnfälligste ist wieder die Finanzkrise. Die wenigen Demonstrationen, die es in den letzten Jahren dazu gegeben hat, waren sehr überschaubar, gemessen an einem Risikopotenzial, was mit der Euro-Krise zusammenhängt, gemessen an den Spätfolgen, der Arbeitslosigkeit in den Südländern, da könnte man davon ausgehen, dass es auch einmal eine gewaltige Demonstration in Brüssel geben könnte, aber das gibt es nicht."
Aber auch wenn es in Deutschland bislang noch keine großen Proteste, z. B. gegen die Europolitik gab, so ist doch der Ruf der Bürger nach stärkerer politischer Teilhabe unüberhörbar. Den Menschen reicht es nicht, dass ihre Bedürfnisse und Wünsche in Meinungsumfragen zur Kenntnis genommen werden, sie wollen vielmehr bei wichtigen, sie betreffenden Projekten an Planungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt sein. Anders als in der Schweiz gibt es in Deutschland Volksabstimmungen und Bürgerentscheide nur auf Länderebene und im kommunalen Bereich, nicht aber auf Bundesebene.
Die Väter des Grundgesetzes hatten nach dem Scheitern der Weimarer Republik dem Volk außerhalb von Parlamentswahlen kaum direkte Entscheidungsmacht zugestanden. Nach 65 Jahren erfolgreicher Demokratie könnte, so meinen viele, die Bundesrepublik ihren Bürgern mehr zutrauen und das bewährte repräsentative System durch Elemente direkter Demokratie ergänzen.
Politikwissenschaftler wie Thorsten Faas loben diese Bestrebungen zu mehr direkter Demokratie, dämpfen allerdings dabei die Euphorie, indem sie den Blick auf problematische Seiten und Risiken einer solchen Entwicklung lenken.
"Ein bisschen aufpassen muss man, dass der Grundsatz demokratischer Gleichheit dadurch nicht zu arg in Bedrängnis gerät, insofern man durchaus auch aus Ländern wie der Schweiz beispielsweise oder auch aus Beispielen, die es in Deutschland in Bereichen direkter Demokratie gibt, weiß, dass die Beteiligungsmuster bei solchen Verfahren direkter Demokratie eher noch ungleicher verteilt sind in der Bevölkerung, also das Niveau der Beteiligung ist in der Regel niedriger, in Hamburg bei dem berühmten Volksentscheid über die Schulpolitik konnte man auch dort sehen, dass gerade die Gruppen oder in den Stadtteilen, wo man gesagt hat, dort ist längeres gemeinsames Lernen wichtig, gerade dort ist es kaum gelungen oder in deutlich geringerem Maße nur, die Menschen zu mobilisieren, für diesen Entscheid zu gewinnen, gar nicht so sehr dafür oder dagegen, sondern sie überhaupt zur Beteiligung zu animieren."
Bei neuen Beteiligungsformen, die beim Bürger Bildung und Vorwissen voraussetzen, die ihm eine hohe Investition von Zeit und Energie abverlangen, um sich in komplexe Sachlagen einzuarbeiten, gerade bei solchen neuen Beteiligungsformen besteht die Gefahr, dass die Schere zwischen einer Informationselite und den ohnehin schon Abgehängten noch weiter auseinandergeht.
"Alle Verfahren, die zurzeit im Online-Bereich diskutiert werden, im Internetbereich, also die Frage der Online-Petitionen beispielsweise oder Bürgerhaushalte, die onlinebasiert sind, setzen voraus, dass man bestimmte kommunikative Kompetenzen hat und sich dort entsprechend sowohl online auskennt, aber auch dort kommunizieren kann. Und diese kommunikativen Potenziale und Kompetenzen sind nun einmal nicht gleich verteilt in der Gesellschaft. … insofern würde eine Ausweitung dieser Verfahren, nicht zwangsläufig dazu führen, dass welche von denen, die vorher sich nicht beteiligt haben, sich nun beteiligen, sondern dass diejenigen, die sich vorher beteiligt haben, noch stärker und intensiver beteiligen können."
Politikwissenschaftler wie Thorsten Faas und Stefan Marschall gelangen, wenn sie klassische Wahlverfahren und moderne Formen der politischen Partizipation vergleichen, zu einer überraschenden Empfehlung – zu einer neuen Wertschätzung des guten alten Stimmzettels.
"Die Verfahren, die man für die Stärkung der Demokratie braucht, sollten möglichst niedrigschwellig sein, d. h., die Einstiegshürden sollten möglichst gering sein, man sollte mit möglichst wenig Vorkenntnissen, mit möglichst wenig Kompetenzen diese Verfahren nutzen können. Es gibt Verfahren, die durchaus genau dieses Niedrigschwellige zulassen. Das Interessante und vielleicht auch Witzige ist eigentlich, dass das Wahlverfahren genau ein solches ist, ein relativ einfaches simples Verfahren, das unaufwendig ist, das ohne größeres zeitliches oder sonstiges Engagement genutzt werden kann."
Harald Welzer, Sozialpsychologe, Universität Flensburg.
"Positiv kann man natürlich sagen, dass er eine Debatte angezündet hat. Kritisch dabei sehe ich, dass er mit seinen Argumenten vielen Bürgerinnen und Bürgern, auch engagierten, quasi eine schicke Vorlage liefert, sich weiter ins Privatgebiet zurückzuziehen, sich weiter in die Zuschauerdemokratie einzureihen und nur über die da oben zu klagen, aber nicht selber anzupacken."
Thomas Leif, Journalist und Politikwissenschaftler, Universität Koblenz-Landau.
"Nicht wählen zu gehen, das bedient eine ganze Reihe von Stereotypen, von Ideen, die wir auch in der Bevölkerung verbreitet finden, nämlich die Vorstellung, dass Wählen keinen Unterschied macht, dass die Parteien sich nicht unterscheiden etc. Hier stellt sich die Frage, was ist die Alternative zum Nichtwählen, und diese Frage wird nicht richtig beantwortet."
Stefan Marschall, Politikwissenschaftler, Universität Düsseldorf.
"Das inhaltliche Argument stimmt nicht, alle würden das Gleiche vertreten. Wenn man an die Steuerpolitik denkt, wenn man an den Mindestlohn denkt, auch wenn man an Syrien denkt, wo die Linke sich beispielsweise anders positioniert als die anderen Parteien. Es gibt Unterschiede und darüber wird am 22. September abgestimmt, und das sollte man nicht schlecht reden."
Thorsten Faas, empirischer Wahlforscher, Universität Mainz.
Im Mai hatte Harald Welzer im Spiegel einen Essay geschrieben, dass er bei der anstehenden Bundestagswahl keine Stimme abgibt, da es nichts zu wählen und nichts zu entscheiden gebe. Denn die Parteien würden sich in ihrer Politik nicht mehr wesentlich voneinander unterscheiden, und die nationalen Parlamente seien von den globalisierten Märkten längst entmachtet. Welzer hat auch andere dazu aufgerufen, die Wahlurnen zu boykottieren. Diese Haltung hat er im August in einem Interview im Deutschlandradio Kultur noch einmal bekräftigt: Es handelt sich aber nicht um das Bekenntnis eines Unpolitischen, sondern um eine Provokation, eine Brandrede über Macht und Ohnmacht der Wähler, über den Zustand der Demokratie. Welzer hat damit eine Diskussion entfacht - zumal sich seine rationale Entscheidung mit einer diffusen Stimmung im Lande trifft, wo Wahlmüdigkeit spürbar ist, und man deshalb befürchten muss, dass die Zahl der Nicht-Wähler weiter ansteigt. Thorsten Faas:
"Zunächst einmal ist es erfreulich, dass bei dieser Bundestagswahl wieder mehr über Fragen der Wahlbeteiligung gesprochen wird, als das bei früheren Wahlen der Fall war. Es mag damit zu tun haben, dass wir beim letzten Mal eine Beteiligung von nur 70 Prozent bei der Bundestagswahl hatten, und dass damit einfach deutlich geworden ist: Wir können nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass 80, 90 Prozent der Bürger von ihrem Stimmrecht Gebrauch machen. Also das Thema ist da und es ist auch wichtig."
In der Öffentlichkeit heißt es, die Gruppe der Nicht-Wähler stelle inzwischen die stärkste Partei. Aber diese Charakterisierung verkennt, dass das Spektrum der Nicht-Wähler äußerst heterogen ist. Zu dieser Menge gehören Leute, die mit dem politischen Kurs einverstanden sind, die glauben, sie könnten zu Hause bleiben, weil alles auch ohne sie gut weiterlaufen wird. Den Gegenpol bilden andere, die sich mit keiner der Parteien und ihren angebotenen Positionen anfreunden können, nachdem sie sich gründlich informiert haben. Doch beides sind kleine Minderheiten unter den Nicht-Wählern, wie die empirische Wahlforschung herausgefunden hat:
"Die große Gruppe der Nichtwähler kommt tatsächlich aus Segmenten der Gesellschaft, die man typischerweise als bildungsfern, oft auch als prekär bezeichnet, was ein wirklich problematischer Befund ist, denn das sind typischerweise auch Gruppen, deren Alltag stark durch politische Entscheidungen betroffen und berührt wird, beispielsweise durch Festsetzung von Hartz IV-Sätzen, einfach staatliche Transferzahlungen, d. h. eigentlich wäre das eine Gruppe, die im hohen Maße von Politik betroffen ist, von der man sich daher auch wünschen würde, dass sie darauf reagiert durch entsprechende Stimmabgaben, was aber nicht funktioniert."
Eine paradoxe Situation. Warum haben sich gerade solche Bevölkerungsgruppen, deren Lage von Armut und Arbeitslosigkeit bestimmt ist, die stärker auf Politik angewiesen ist, von eben dieser Politik abgewandt? Ist es Resignation, die im Wesentlichen selbst verschuldet ist? Oder haben auch die Parteien versagt, wenn sie die Menschen nicht mehr erreichen? Dazu der Politikwissenschaftler Stefan Marschall:
"Das ist ein problematischer Trend, insofern er in der Tat dazu führt, dass Teile der Bevölkerung sich im repräsentativen System, das sie vertreten soll, so nicht mehr wiederfinden. Das führt nicht dazu, dass bestimmte Parteien gewählt werden, die diesen Protest aufgreifen, sondern eher dazu, dass man nicht zur Wahl geht, also dazu, Apathie statt einer Protesthaltung einzunehmen. Das ist problematisch für eine Demokratie, die repräsentativ ist und deshalb auf das Vertrauen baut zwischen denen, die Politik machen, und denen, die vertreten werden."
Verfestigt sich hier eine Apathie der Modernisierungsverlierer, - von Menschen mit Minijobs, im Niedriglohnsektor, Langzeitarbeitslosen, dem sogenannten Prekariat, das seiner miserablen Lage nicht mehr entkommt und darüber resigniert? Oder verhält es sich noch weit schlimmer? Entspricht die subjektive Apathie der Modernisierungsverlierer vielleicht sogar einem objektiven Befund, nämlich dem Sachverhalt, dass ihre Interessen von den großen Parteien gar nicht mehr vertreten, ja dass sie selbst von den Parteien aufgegeben seien. Thomas Leif vertritt diese brisante These.
"Ich glaube, dass es auch eine Entscheidung ist, zumindest der Regierung, diese Zielgruppe, dieses Wahlelektorat nicht mehr zu betreuen, und es ist durchaus eine rationale Haltung dieser Gruppen, die sagen, dass ihre Interessen nicht substanziell vertreten werden. Also es ist im Grunde eine grassierende Hoffnungslosigkeit, dass sich an ihrem Schicksal etwas ändern kann, deshalb der Rückzug aus dem öffentlichen Leben, es ist auch belegt, dass diese Gruppen in bestimmten Wohnquartieren überhaupt keine Medien mehr konsumieren außer dem Anzeigenblatt und ein bisschen privatem Rundfunk, dass sie im Grunde vom öffentlichen Geschehen abgekoppelt werden und dann, wenn es etwa bei Volksabstimmungen um ihre Interessen geht, wie bei der Schulwahl in Hamburg, dass sie nicht mehr wählen und die Privilegierten, die dieses Recht wahrnehmen, am Ende des Tages bei diesen Entscheidungen reüssieren, und sie unten wieder durchs Rost fallen."
Die Wahlforschung registriert eine zunehmende Entfremdung zwischen deklassierten Gruppen und den Parteien und Parlamenten, d. h. zwischen dem Volk und seinen Volksvertretern, jedenfalls was das Gros der Nichtwähler angeht. Das ist bedenklich, weil dann zur ökonomischen und sozialen Marginalisierung noch eine politische hinzukäme. Was kann man dagegen tun? Manche Parteien setzen im Wahlkampf, so Thorsten Faas, auf das neue Mittel der Hausbesuche. Das mag forciert wirken, stellt immerhin den Versuch dar, sich wieder anzunähern, sich vor Ort die Nöte, aber auch die Erwartungen der Menschen anzuhören.
Dann jedoch Lösungen anzubieten und zu versprechen - das wird zunehmend schwieriger, weil die Politik komplexer geworden ist, und die Entscheidungsmacht der einzelnen Parlamente abgenommen hat. Politikwissenschaftler sprechen von einer Mehrebenendemokratie:
"Wir leben in einer Mehrebenendemokratie - das auf jeden Fall, ganz viel von dem, was uns betrifft, wird in Brüssel entschieden, anderes wird auf Länderebene, wieder anderes auf kommunaler Ebene entschieden, da erkennen Bürgerinnen und Bürger nicht immer, was jetzt genau auf welcher Ebene entschieden wird und das ist nicht unproblematisch, denn man sollte jetzt am 22. September letztlich Kriterien anlegen, über die dann die Bundeskanzlerin oder ein Bundeskanzler tatsächlich entscheiden kann, Gegenstände, die dann tatsächlich auch bundespolitische Bezüge haben."
Ein Mehrebenensystem bedeutet aber nicht nur, dass Entscheidungen lediglich auf verschiedene Parlamente verteilt werden, es ist in der Praxis auch ein Machtverlust gegenüber außerparlamentarischen Kräften, eine Schwächung der vom Volk direkt gewählten Vertretungen.
"Mehrebenensysteme bedeuten, dass Entscheidungen nicht nur einfach im nationalen Kontext bestimmt werden, sie werden anderswo gefällt, sie müssen aber im nationalen Kontext umgesetzt werden, das betrifft vor allem die Rechtssetzung der Europäischen Union, die im nationalen Bereich umgesetzt werden muss, aber dort nicht verantwortet wird. Die Parlamente gelten als die Verlierer in diesem Mehrebenenspiel, weil die Exekutiven in der Lage sind, die Regierungen über die Ebenen hinweg zu koordinieren und zu kooperieren und damit eventuell sogar die Parlamente ausspielen zu können."
In Krisensituationen, etwa der Eurokrise, wird besonders deutlich, dass die führenden Regierungschefs der EU weitgehende Entscheidungen untereinander und mit der Europäischen Zentralbank treffen, und anschließend zu Hause die Parlamente nötigen, - mit dem Argument, es gebe keine Alternative - ihrem Kurs zu folgen und die beschlossenen Rettungspakete abzusegnen.
Thomas Leif kritisiert, dass hier eine Aushöhlung der Demokratie stattfinde, in Richtung so genannter postdemokratischer Zustände, also einer Scheindemokratie, in der die Institutionen wie das Parlament fortbestehen, aber inhaltlich entmachtet sind.
"Es gibt zwar Wahlen und parlamentarische Verfahren, aber die wichtigen Entscheidungen in diesem parlamentarischen Prozessen werden klammheimlich vom Wirtschaftsakteuren und deren Hilfstruppen entschieden, das ist eine Situation, die sicherlich der Tendenz nach steigt, die relevant ist und die man ernst nehmen muss. Der frühere Umweltminister Norbert Röttgen hat selbst gesagt, die Parteien müssen aufpassen, dass sie nicht ihre Legitimationsgrundlagen verlieren, und Legitimationsgrundlagen sind vor allen Dingen: autonomes Handeln, demokratischer Streit um bessere Lösungen und insbesondere faire, offene, parlamentarische Verfahren und die Pflege von Institutionen, all diese Faktoren sind derzeit Not leidend."
Während die Macht der Parlamente abnimmt, und vielleicht auch als Ausgleich, fordern Bürger seit einiger Zeit stärkere Mitwirkungs- und Entscheidungskompetenzen bei Großprojekten aller Art. Immer mehr Bürger sind unzufrieden mit den üblichen Entscheidungsverfahren. Und sie mischen sich erfolgreich ein, am längsten und heftigsten im Streit um die Atomenergie, seit den 90er-Jahren auch in vielen anderen Bereichen, wo es um Fluglärm, Autobahnen, Müllverbrennungsanlagen und andere Bauvorhaben geht. Stuttgart 21 war das spektakulärste Beispiel der jüngsten Vergangenheit. Und im Raum München schwelt seit Jahren der Streit um den Bau einer dritten Start- und Landebahn.
"Wo etwas passiert in der Bürgerschaft, das ist, wenn es direkte Betroffenheit gibt, also vor Ort, ganz besonders interessant ist das Engagement von Fluglärmbetroffenen, also da wo möglicherweise auch die Immobilien in Mitleidenschaft gezogen werden, da wo Lebensqualität massiv sinkt usw., da passiert viel, das ist auch sehr beachtlich, also man kann sagen, wenn es individuelle Betroffenheit gibt, dann fokussiert sich Protest und Engagement. Aber ansonsten halte ich die ganze Protestlandschaft und Engagementlandschaft in Deutschland für äußerst unterentwickelt gemessen an den Problemen. Das Sinnfälligste ist wieder die Finanzkrise. Die wenigen Demonstrationen, die es in den letzten Jahren dazu gegeben hat, waren sehr überschaubar, gemessen an einem Risikopotenzial, was mit der Euro-Krise zusammenhängt, gemessen an den Spätfolgen, der Arbeitslosigkeit in den Südländern, da könnte man davon ausgehen, dass es auch einmal eine gewaltige Demonstration in Brüssel geben könnte, aber das gibt es nicht."
Aber auch wenn es in Deutschland bislang noch keine großen Proteste, z. B. gegen die Europolitik gab, so ist doch der Ruf der Bürger nach stärkerer politischer Teilhabe unüberhörbar. Den Menschen reicht es nicht, dass ihre Bedürfnisse und Wünsche in Meinungsumfragen zur Kenntnis genommen werden, sie wollen vielmehr bei wichtigen, sie betreffenden Projekten an Planungs- und Entscheidungsprozessen beteiligt sein. Anders als in der Schweiz gibt es in Deutschland Volksabstimmungen und Bürgerentscheide nur auf Länderebene und im kommunalen Bereich, nicht aber auf Bundesebene.
Die Väter des Grundgesetzes hatten nach dem Scheitern der Weimarer Republik dem Volk außerhalb von Parlamentswahlen kaum direkte Entscheidungsmacht zugestanden. Nach 65 Jahren erfolgreicher Demokratie könnte, so meinen viele, die Bundesrepublik ihren Bürgern mehr zutrauen und das bewährte repräsentative System durch Elemente direkter Demokratie ergänzen.
Politikwissenschaftler wie Thorsten Faas loben diese Bestrebungen zu mehr direkter Demokratie, dämpfen allerdings dabei die Euphorie, indem sie den Blick auf problematische Seiten und Risiken einer solchen Entwicklung lenken.
"Ein bisschen aufpassen muss man, dass der Grundsatz demokratischer Gleichheit dadurch nicht zu arg in Bedrängnis gerät, insofern man durchaus auch aus Ländern wie der Schweiz beispielsweise oder auch aus Beispielen, die es in Deutschland in Bereichen direkter Demokratie gibt, weiß, dass die Beteiligungsmuster bei solchen Verfahren direkter Demokratie eher noch ungleicher verteilt sind in der Bevölkerung, also das Niveau der Beteiligung ist in der Regel niedriger, in Hamburg bei dem berühmten Volksentscheid über die Schulpolitik konnte man auch dort sehen, dass gerade die Gruppen oder in den Stadtteilen, wo man gesagt hat, dort ist längeres gemeinsames Lernen wichtig, gerade dort ist es kaum gelungen oder in deutlich geringerem Maße nur, die Menschen zu mobilisieren, für diesen Entscheid zu gewinnen, gar nicht so sehr dafür oder dagegen, sondern sie überhaupt zur Beteiligung zu animieren."
Bei neuen Beteiligungsformen, die beim Bürger Bildung und Vorwissen voraussetzen, die ihm eine hohe Investition von Zeit und Energie abverlangen, um sich in komplexe Sachlagen einzuarbeiten, gerade bei solchen neuen Beteiligungsformen besteht die Gefahr, dass die Schere zwischen einer Informationselite und den ohnehin schon Abgehängten noch weiter auseinandergeht.
"Alle Verfahren, die zurzeit im Online-Bereich diskutiert werden, im Internetbereich, also die Frage der Online-Petitionen beispielsweise oder Bürgerhaushalte, die onlinebasiert sind, setzen voraus, dass man bestimmte kommunikative Kompetenzen hat und sich dort entsprechend sowohl online auskennt, aber auch dort kommunizieren kann. Und diese kommunikativen Potenziale und Kompetenzen sind nun einmal nicht gleich verteilt in der Gesellschaft. … insofern würde eine Ausweitung dieser Verfahren, nicht zwangsläufig dazu führen, dass welche von denen, die vorher sich nicht beteiligt haben, sich nun beteiligen, sondern dass diejenigen, die sich vorher beteiligt haben, noch stärker und intensiver beteiligen können."
Politikwissenschaftler wie Thorsten Faas und Stefan Marschall gelangen, wenn sie klassische Wahlverfahren und moderne Formen der politischen Partizipation vergleichen, zu einer überraschenden Empfehlung – zu einer neuen Wertschätzung des guten alten Stimmzettels.
"Die Verfahren, die man für die Stärkung der Demokratie braucht, sollten möglichst niedrigschwellig sein, d. h., die Einstiegshürden sollten möglichst gering sein, man sollte mit möglichst wenig Vorkenntnissen, mit möglichst wenig Kompetenzen diese Verfahren nutzen können. Es gibt Verfahren, die durchaus genau dieses Niedrigschwellige zulassen. Das Interessante und vielleicht auch Witzige ist eigentlich, dass das Wahlverfahren genau ein solches ist, ein relativ einfaches simples Verfahren, das unaufwendig ist, das ohne größeres zeitliches oder sonstiges Engagement genutzt werden kann."