Archiv

Von der Türkei in die EU
Immer mehr Flüchtlinge landen auf Zypern 

Kein anderes EU-Land nimmt pro Kopf so viele Flüchtlinge auf wie Zypern. Viele kommen aus Syrien, doch seit einigen Monaten gelangen auch immer mehr Menschen über die Türkei in den türkischen Norden der Insel. Ihr Ziel ist jedoch der Süden - die EU. Doch ihre Situation dort ist oftmals prekär.

Von Manfred Götzke |
Geflüchtete aus Nigeria und Kamerun bei der Caritas in Nicosia
Geflüchtete aus Nigeria und Kamerun - bei der Caritas in Nicosia bekommen sie etwas Hilfe (Deutschlandradio/ Manfred Götzke)
Ibrahim Bangoa stopft sich eine halbe Packung Toastbrot in den Rucksack. Belag, Obst, gar irgendwas Warmes gibt es nicht mehr an diesem Vormittag bei der Flüchtlingshilfe der Caritas in Nicosia. Ein paar Klamotten könne der Flüchtling aus Sierra Leone noch mitnehmen, sagt ihm die ehrenamtlichen Helferin Chandi. Sonst könne sie heute nichts für ihn tun.
Bangoa ist vor zwei Wochen aus dem Erstaufnahmelager in der Nähe von Nicosia entlassen worden, ohne Aufenthaltspapiere. Sie hätten ihm nur 50 Euro in die Hand gedrückt und die sind jetzt weg, erzählt er. Ohne Papiere kein Termin bei der Arbeitsbehörde für Geflüchtete, ohne den keine Einkaufsgutscheine. "Für meine Aufenthaltspapiere habe ich einen Termin am 23. April bekommen. Ohne die Papiere ist es schwer zu überleben hier."
Ibrahim Bangoa aus Sierra Leone
Ibrahim Bangoa ist aus Sierra Leone geflohen und über Umwege in den griechischen Teil Zyperns gelangt (Deutschlandradio/ Manfred Götzke)
Hilfe von der Caritas
Bangoa ist verzweifelt – er hat Hunger: "Ich habe vor zwei Wochen eine Tüte mit Lebensmitteln vom Roten Kreuz bekommen, das ist alles. Ich weiß nicht, wie ich überlebt habe - das ist ja fast ein Wunder."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Zypern unter Zugzwang - Eine Insel inmitten internationaler Konflikte.
Nun kommt er Tag für Tag zur Flüchtlingshilfe der Caritas: Hier, im ehemaligen Gemeinderaum der katholischen Kirche, sind jeden Tag bis zu 200 Migranten - vor allem aus Afrika. Sie trinken Kaffee, essen, lassen sich mit der komplizierten zyprischen Asylbürokratie helfen.
Beliebtes Modell: mit Studentenvisum nach Zypern
Der 25-jährige Bangoa ist aus politischen Gründen aus seiner Heimat geflohen, erzählt er – irgendwann ist er in der Türkei gelandet. Um nach Zypern zu kommen, hat er sich an einer der vielen privaten Unis im türkisch-zyprischen Teil der Insel eingeschrieben. Für ein Studentenvisum. Das ist seit ein paar Jahren ein beliebtes Modell, um nach Zypern zu gelangen. "Ich dachte, ich könnte da studieren und arbeiten", sagt er. "Aber das war nicht erlaubt. Deshalb konnte ich mir die Uni nicht mehr leisten."
Auf die südliche Seite hat ihn dann ein Schleuser gebracht. "Ich habe eine paar türkische Leute getroffen, zu denen Leute hinten in den Lieferwagen gestiegen sind, die wollten rüber. Ich habe gesagt, ich will auch mit. Weil ich kein Geld mehr hatte, habe ich dann mein Handy verkauft, damit die mich mitnehmen. Die haben mich dann hierher über die Grenze gebracht."
Jetzt wohnt Bangoa mit zehn anderen Geflüchteten in einem Zwei-Zimmer-Appartement. Die Miete zahlt die Regierung.
"Viele Flüchtlinge landen auf der Straße"
Elizabeth Kassinis sitzt nebenan im Büro. Sie leitet die Caritas Zypern. Was Ibrahim Bangoa erzählt, das bekommen sie hier fast jeden Tag zu hören. Die Regierung versuche ihr bestes, meint Kassinis. Doch mit den immer weiter steigenden Flüchtlingszahlen seien die Behörden schlicht überfordert.
"Zypern hat mehr Asylbewerber pro Kopf als jedes andere europäische Land. Und das ist schon seit mindestens 18 Monaten so. Das ist eine Bürde für das Asylsystem und für die Regierung. Das System ist damit völlig überfordert. Weil es nur ein Flüchtlingslager für 300 Menschen gibt, landen viele auf der Straße. Schauen Sie sich in der Stadt um: Die Flüchtlinge leben in Ruinen. Sie werden von Vermietern oder ihren Landsleuten ausgebeutet – oder sie leben einfach draußen. Ein staatlicher Sozialarbeiter muss sich um bis zu 1.000 Flüchtlinge kümmern. Da kann der Staat einfach nicht mithalten."
Die Türkei schickt Flüchtlinge, heißt es
Seit ein paar Wochen kommen nach Angaben der zyprischen Regierung noch mehr Flüchtlinge als sonst. Sie würden gezielt von der türkischen Regierung in den Norden geschickt, dann weiter nach Südzypern. Für die zyprische Regierung eine Provokation, die die Friedensverhandlungen unterminiert.
"Es wird jetzt viel darüber gesprochen, dass die Flüchtlinge von der Türkei ‘geschickt‘ werden und viele unterscheiden zwischen legitimen und illegitimen Migranten – was auch immer das bedeuten mag. Aber im Großen und Ganzen ist die zyprische Gesellschaft sehr empfänglich, offen, wenn es um die Situation vertriebener Menschen geht – viele haben es hier auf der Insel ja selbst erlebt."
Die Caritas-Chefin nimmt die zyprische Regierung immer wieder in Schutz: Jahrelang forderte die Regierung vergeblich Unterstützung von der EU. Die Bitte, 5.000 Asylbewerber in anderen Staaten zu verteilen, wurde erst kürzlich abgelehnt. Immerhin schickt die EU-Asylagentur nun ein paar Experten, die die Verfahren beschleunigen sollen. Denn manche Geflüchtete warten bis zu fünf Jahre auf eine Entscheidung.
Geflüchtete berichten
Auf einem Mäuerchen vor der Kirche hocken zwei Frauen Mitte 20, die eine aus Kamerun, die andere aus Nigeria. Ihre Namen wollen sie nicht nennen. Auch reden eigentlich nicht. Doch dann platzt es aus ihnen heraus: "Zypern gibt uns keine Dokumente. Sie interessieren sich einen Dreck für uns. Wir sind seit zwei Jahren hier – und haben keine Dokumente. Es ist sehr schwer hier zu überleben."
Sie habe in den letzten Wochen 20 Kilo abgenommen, sagt die junge Kamerunerin, sie habe kein Geld. Die Einkaufsgutscheine, die sie jeden Monat vom Staat bekommen, reichten nicht.
"Ich habe mein Land verlassen wegen des Konflikts in Kamerun, sie haben meinen Vater getötet und unser Haus niedergebrannt. Ich bin in eine Kirche geflohen und da war dieser Priester, der mir geholfen hat. Ich weiß letztlich nicht, wie ich hierhergekommen bin. Ich habe dann erfahren, es ist Südzypern – die EU. Und deshalb habe ich um Asyl gebeten – in der Hoffnung, dass hier auch für mich Gesetze gelten. Hier habe ich gehofft, kann ich die Vorfälle vergessen. Aber es wird jeden Tag schlimmer, ich kann nicht mehr schlafen, ich denke jeden Tag daran."
Auf Wartestellung
Die beiden Frauen haben sich zurecht gemacht, ein bisschen geschminkt, mit dem, was sie haben, jede ihre Handtasche auf dem Schoß. Ein wenig, als säßen sie beim Amt, hätten dort eine Nummer gezogen. Und würden schon seit Stunden nicht aufgerufen werden.
"Ich warte und warte. Das Leben hier ist voller Stress, zu viel Stress. Ich habe keinen Job – und wir leben mit 20 Leuten in einem Raum. Hätte ich gewusst, dass es hier so ist, wäre ich in meinem Land geblieben: Besser zu sterben und dann wäre ich weg – kein Schmerz mehr."