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Von der Unfähigkeit zu bedauern

13. August 1961. Die Nachricht vom Bau der Berliner Mauer geht um die Welt: Die Staats- und Parteiführung der DDR betoniert sich und ihre Bürger ein und sie zerreißt Familien. 20 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, belegen Studien, wie wenig gerade Schüler über die deutsche Teilung wissen.

Von Jacqueline Boysen | 13.08.2008
    "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten ...

    Was auf der Hand liegt, ist, dass es sich bei den Abriegelungsmaßnahmen der Zonenmachthaber um eine eklatante Bankrotterklärung handelt."

    13. August 1961. Die Nachricht vom Bau der Berliner Mauer geht um die Welt: Die Staats- und Parteiführung der DDR betoniert sich und ihre Bürger ein, sie zerreißt Familien und verteidigt den so genannten "antifaschistischen Schutzwall" auch noch als Bollwerk gegen den vermeintlichen westlichen Imperialismus. Heute, fast zwanzig Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, belegen Studien, wie wenig gerade Schüler über die deutsche Teilung wissen.

    "Wir hatten erwartet, dass bei der jüngeren Generation das Geschichtsbild zusammenwächst. Und wir haben ja das herausragende Beispiel von Schulen in Berlin, wo Schüler unterschiedlicher Herkunft seit Jahren gemeinsam unterrichtet werden. Und trotzdem haben sie genauso ein unterschiedliches Geschichtsbild Ost West sonst auch. Das heißt, hier ist das kollektive Gedächtnis so unterschiedlich und hat sich nicht aufgelöst. "

    So Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin. Schroeder leitet aus seiner vielbeachteten Untersuchung des Schülerwissens in Ost und West ab, dass auch Lehrer, Eltern und Großeltern in beiden Teilen Deutschlands Desinteresse zeigen oder den totalitären Charakter des untergegangenen "zweiten deutschen Staates" leugnen

    "Hier sehen Sie, dass doch auseinanderfällt, was zusammenwachsen sollte. Denn der Graben ist ja in den letzten zehn Jahren tiefer geworden zwischen Ost und West. Wir wollten eigentlich mit dem Ergebnis kommen, bei den jüngeren Generationen müssen wir nicht mehr die Sorge haben, dass es auseinanderfällt. Das ist bei den Älteren, das wird sich auswachsen, aber es wächst sich nicht aus. "

    Im Gegenteil, so der Bundestagsabgeordnete Stefan Hilsberg:

    "Da ist was ganz Merkwürdiges passiert: Bei vielen Menschen ist die DDR zwanzig Jahre nach ihrem Ableben in einem viel rosaroteren Licht zu sehen, als sie es zu Zeiten der DDR, als sie noch existierte, gemacht hätten."

    Im Oktober 1989 zählte Hilsberg zu den Mitgründern der SDP, der Sozialdemokratischen Partei der DDR. Heute beklagt er, dass nicht der Stolz über die von den Bürgern erzwungene Abdankung der SED-Führung im kollektiven Gedächtnis verhaftet ist, sondern im Osten und in Teilen auch im Westen Verklärung und Nostalgie herrschen.

    "Die Erkenntnis, dass die DDR ist in die totalitäre Falle hineingetappt ist, die ist nicht Allgemeingut. Und dazu gehört auch, dass es beispielsweise nie Allgemeingut ist, dass die DDR an sich selbst zugrunde gegangen ist. Die wenigsten Schüler wissen, dass sie bankrott gegangen ist, dass nicht der Westen daran schuld war. Die wenigsten wissen, dass das Sozialsystem auf so niedrigem Niveau war, dass die Lebenserwartung 20 Jahre geringer war, das Gesundheitssystem lange nicht so gut war, dass das Bildungssystem lange nicht so gut war, wie das heutzutage den Anschein hat."

    Wie kommt es, dass die den Büchermarkt seit Jahren überschwemmenden, mehr als 8000 Publikationen zu den diversen Aspekten der Geschichte der DDR, populärwissenschaftliche Bände, Filme und Zeitzeugenveranstaltungen offenbar eine geringe Wirkung außerhalb der historischen Seminare entfalten - und die Verniedlichung der DDR kaum bremsen können?

    "Man kann natürlich mit Ausstellungen, Büchern die Erinnerung daran wach halten, aber es fehlen die großen Märtyrergeschichten. Die kann man nicht erzählen, weil die DDR anders war. Die DDR war da eine weichere Diktatur, gerade weil es eben diesen Notausgang in den Westen gegeben hat, der von beiden Seiten genutzt wurde, sowohl vom System, die Leute gelegentlich rausgeworfen haben, und zum anderen eben auch viele, die in der DDR gesagt haben irgendwann, sie haben keine Lust mehr, Arbeiter und Bauernparadies zu spielen."

    Glaubt Johannes Beleites. Er gibt die Zeitschrift Horch und Guck heraus und gehörte selbst einst zu jenen, die gegen die Allmacht der SED aufbegehrten und sich heute der Aufarbeitung verschrieben haben. Dass diese "weiche Diktatur" in der DDR geherrscht habe, meint Beleites, das erschwere Bekenntnisse der Täter von einst, die sich in den seltensten Fällen Schuld eingestehen oder gar ihr Bedauern über Verfehlungen äußern, wie Stefan Hilsberg beklagt.
    "Das ist auch etwas, worunter unser öffentlicher Diskurs leidet: Die ganze Frage der Stasi-Debatte, wie ist das zu bewerten. Wie sind die Stasi-Kontakte von Stolpe beispielsweise zu bewerten oder von jemand wie Gregor Gysi zu bewerten. Ich kann mich gut erinnern, dass Habermas bei einer Veranstaltung mal gesagt hat, man kann mit Vergangenheitsaufarbeitung Menschen auch totschlagen. Und immer dann, wenn es nicht präzise ist, wenn man nicht ein Grundverständnis für die Strukturen hat, ist man bereit, Menschen in Bausch und Bogen zu verdammen, die in die Fänge der Staatssicherheit geraten sind. Das ist der Sache nicht gerecht geworden und hat Gegenreaktionen hervorgerufen. Wobei man sich allerdings immer im Klaren sein muss, die eigentlichen Gegenreaktionen, die Ursache der Gegenreaktion derer, die sich gegen Vergangenheitsaufarbeitung wenden, ist eine große Identifikation letztlich mit dem System. Sie wollen nicht, dass diese DDR und ihre Staatssicherheit delegitimiert wird, sie wollen eigentlich, dass diese Politik auch in Zukunft wieder eine Chance bekommen kann."

    Großen Anteil an der Aufarbeitung haben Teile der einstigen Widerständler aus der DDR selbst. Zum einen, weil sie die Stasi-Zentralen erstürmten, bevor die hauptamtlichen Mitarbeiter des MfS die Beweise ihres schändlichen Tuns durch die Schornsteine und Reißwölfe jagen konnten und zum zweiten auch deshalb, weil sie sich für die Aktenöffnung einsetzten, die seit dem Urteil im Fall Helmut Kohl zwar eingeschränkt, aber grundsätzlich möglich ist. Drittens beteiligen sich in den Ländern, aber auch auf Bundesebene, auffällig viele ehemalige Bürgerrechtler an der Erforschung des repressiven Systems.

    "Man kann heute unwidersprochen eigentlich nicht mehr öffentlich die Diktatur, auch die kommunistische Diktatur verschönern - das werden die tun und die Nichtwissenden und die Leute, die die falschen Lehrer haben und die falschen Pastoren haben und die falschen Politiker gewählt haben, die werden so was versuchen, aber eigentlich ist es richtig gelaufen. "

    Findet Ehrhart Neubert, Theologe und früher Forschungsleiter in der Behörde der Bundesbeauftragten für die Unterlagen der Staatssicherheit, er hat selbst mehrere Bände zum Thema Opposition vorgelegt. Als Vorsitzender des Berliner Bürgerbüros vertritt Neubert die Interessen von Opfern der SED-Diktatur.

    "Wir müssen Fragen stellen: ist die Aufarbeitung zu ritualisiert durch viele Gedenkstätten, gibt es sogar einen Überdruss, sowohl der braunen wie der roten Vergangenheit? Ist sie zu papiernen? Das heißt die vielen hunderte, tausende von Büchern, die über Diktaturen geschrieben worden sind erreichen nur Minderheiten, Intellektuelle. Und ist die Frage der Geschädigten, der Opfer, ist sie für viele, für Mehrheiten vielleicht nicht sogar lästig geworden? "

    Beschämt die einstige Opposition in der DDR jene, die die Diktatur stumm ertragen haben, die sich eingerichtet hatten hinter Mauer und Stacheldraht - oder auch Westdeutsche, die sich nicht bekümmerten um Menschenrechtsverletzungen im anderen Teil Deutschlands? Siegfried Reiprich, einst Widerständler in Jena und in den achtziger Jahren in den Westen freigekauft, ist heute Stellvertretender Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Ihm fällt auf, dass der Anteil ostdeutscher Schüler, die das - an sich überlaufene - Museum im einstigen Gefängnis der Staatssicherheit besuchen, zurückgeht. Vor allem bemerkt Reiprich, wie wenig speziell junge Besucher über die Schicksale von Häftlingen, also von Widerständlern wissen, die als Staatsfeinde in die Fänge des MfS gerieten.

    Dazu kommen Ressentiments gegen die Opposition und zwar von Seiten der angepassten Mehrheit der DDR, der ehemaligen DDR und ihrer dann so erzogenen Kinder. Dann gibt es auch eine Phobie gegenüber Bürgerrechtlern oder von Seiten von Westdeutschen, die eben zu Zeiten der Spaltung mit dem Thema DDR abgeschlossen hatten und mit dem Rücken zur Mauer gelebt hatten.
    Der Historiker Christoph Kleßmann, vormaliger Leiter des Zentrums für Zeitgeschichtliche Forschung in Potsdam, stellt fest, dass anders als bei der Erforschung des Nationalsozialismus bei der Befassung mit der Weltanschauungsdiktatur der DDR ein stets mitschwingendes, von der Mehrheit getragenes Bekenntnis zum "nie wieder!" fehlt - trotz oder gerade wegen der Dominanz westdeutscher Wissenschaftler in den historischen Seminaren.

    "Es gibt da noch einen anderen Aspekt, nämlich das viele Ostdeutsche, nachdem die DDR verschwunden war, den Eindruck hatten, jetzt machen sich die Wessis über die Geschichte der DDR her und wollen uns sagen, wo es eigentlich lang geht. Das kann man schon bei der ersten Enquetekommission des Bundestages sehen, da tauchte ja auch häufig der Vorwurf auf, jetzt sitzen die Wessis gegenüber der Geschichte der DDR zu Gericht. Das habe ich immer für falsch gehalten. Und da hat es so etwas wie eine gewisse Trotzreaktion gegeben, die ist zum Teil sogar berechtigt gewesen, also das richtige Leben im falschen System hat es durchaus gegeben und das muss man dann auch so differenziert sich anschauen. "

    In der ersten Phase nach dem Fall der Mauer stand für Historiker die Erforschung des Herrschaftsapparates der SED im Vordergrund. Anhand der Akten aus den nun zugänglichen Archiven des Ministeriums für Staatssicherheit entstanden Studien, die zeigen, wie Schild und Schwert der Partei die DDR mit perfider Perfektion durchdrangen. Es wurde die Befürchtung laut, dass die Beschäftigung mit dem diktatorischen Arbeiter- und Bauernstaat die Verbrechen des Nationalsozialistischen Deutschlands schmälern könne. Der Historiker Wolfgang Benz warnte davor, dass die vielfach staatlich geförderte Auseinandersetzung mit dem Repressionsapparat der SED Rassismus und Genozid, Hegemonialstreben und Kriegstreiberei, Menschenverachtung und Nationalismus im Nationalsozialismus verharmlosen könne.

    "Das Schicksal von Verfolgten des SED-Regimes ist emotional und für die Betroffenen ein schreckliches Geschick, das öffentliche Reflektion und öffentliche Erinnerung verdient. Das muss aber nicht in eine wertende Beziehung zum Judenmord gesetzt werden. Und die mich eigentlich immer am meisten verstörende Entwicklung wäre die, dass es eine Hierarchie von Gedenkzeichen gibt, die jede von einer eigenen größeren, mittleren, kleineren Opfergruppe verehrt wird und gegenseitig nehmen diese Opfer dann keine Notiz mehr."

    Eingetreten ist etwas anderes: die zuvor auf die Täter fixierte Forschung, die so gut wie nie von einem öffentlichen Dialog zwischen Tätern und Opfern begleitet wurde, richtete den Blick nun auf den Alltag im Arbeiter- und Bauernstaat. Defizitär ist weiterhin die vergleichende Forschung, die kommunistische Systeme gegeneinander stellen und daraus neue Bewertungen ableiten könnte. Marianne Birthler vermisst darüber hinaus einen anderen Aspekt - einen, der weniger die Historikerzunft interessieren dürfte, aber wohl das breite Publikum in Ost und West ansprechen würde.

    "Was mir etwas fehlt, ist die Gesamtsicht auf das politische System, was war die SED, wie hat das Bildungswesen funktioniert, wie war es um die NVA bestellt und so, also eine Gesamtschau. In Leipzig gibt's die, im Zeitgeschichtlichen Forum, in Berlin fehlt sie und das finde ich bedauerlich, weil ich die Beobachtungen gemacht habe, dass dann alle Leute, die einfach mal in einer Stunde was über die DDR lernen wollen, in dieses kleine private Museum am Spreeufer gehen, mit dem ich vorsichtig gesagt, nicht so einverstanden bin. Deswegen finde ich, ist das auch eine Herausforderung, der sich vielleicht das Deutsche Historische Museum stellen müsste oder andere an Berlin. "

    Dort lockt an zentraler Stelle in der historischen Mitte eine Ausstellung Besucher an, in der die DDR zur bunten, harmlos-skurrilen kleinen Spießerwelt mit Minol-Pirol und Sandmännchen im sechziger Jahre Flair reduziert wird. Vor allem aber empört sich Marianne Birthler über eine Flut von autobiographischen Werken aus der Feder von Stasi-Offizieren - apologetische Schriften, die posthum die DDR legitimieren sollen und in denen Altkader ihre angeblichen Ruhmestaten feiern.

    "Es ist zum Teil haarsträubend, was man da liest und sieht und hört. Aber man kann das nicht einfach ad acta legen oder auf die biologische Lösung vertrauen. Diese Leute, insbesondere frühere Stasi-Offiziere oder frühere SED-Funktionäre, die haben immer noch ihr Publikum, die haben ihren Einfluss und das kann uns nicht egal sein. Aber dagegen hilft nicht polemisieren sondern Argumente. Argumente, Informationen, Informationen. "

    Wenn Altfunktionäre und Historiker die Idee des Sozialismus retten wollten, dann müsste ihnen eigentlich daran gelegen sein, die eklatanten Fehler der Partei- und Staatsführung der DDR aufzuzeigen, findet der Historiker Jörn Schütrumpf, früher Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR.

    "Viele dieser Leute fühlen sich heute natürlich betrogen um ihre Lebensleistung. Und in ihrer zunehmenden Verbitterung ist dort eine Abwehrhaltung entstanden, eine eigene Subkultur entstanden, eine eigene Literatur, eine eigene Zeitschriftenlandschaft, die nur um diese DDR kreist. Es sind die gleichen Leute, die mit den guten Renten nach Mallorca und sonst wo hinfahren und dann dem Rest erklären, wie toll es in der DDR war ... "
    Nach der Vereinigung arbeitete Schütrumpf im Deutschen Historischen Museum. Heute ist er Geschäftsführer des Karl Dietz Verlages, der als Hausverlag der linken Rosa-Luxemburg-Stiftung dient.

    "Das Problem für eine linke Geschichtsschreibung ist aus meiner Sicht, dass es sich um eine Diktatur gehandelt hat, dass es dort eine Reihe von systemimmanenten Verbrechen gegeben hat. Dass die Linke meines Erachtens die DDR, überhaupt diesen ganzen Sowjetkommunismus nur als eine Möglichkeit unendlicher Selbstkritik verstehen kann, wenn sie das denn mit einem ernsthaften linken Ansatz wirklich unternehmen will."

    Für Schütrumpf, der den Diktaturcharakter der DDR - anders als viele Altkader - keinesfalls leugnet, ist die Erforschung der Diktatur des Proletariats durchaus eine Erfolgsgeschichte:

    "Es ist natürlich derartig viel erforscht worden, die DDR droht nun langsam überforscht zu werden. Das Problem ist, dass die Leute einfach aus den Schützengräben nicht herauskommen und statt die DDR an ihren selbsterklärten Maßstäben zu messen, das täte viel mehr weh, ist so immer der Rückbezug auf die Bundesrepublik."

    Anknüpfungspunkt für eine positive Würdigung der fast zwanzig Jahre zurückliegenden Montagsdemonstrationen, Runden Tische und vielfältigen Bürgeraktivitäten wider den verknöcherten Realsozialismus könnte die Nacht der Maueröffnung sein - und damit ein Ereignis, das wie kaum ein anderes weltweit als Sensation gefeiert wurde:

    "An diesem 9. November 1989 stand ich mit meinem Freund ganz vorne am Schlagbaum am Grenzübergang Bornholmer Straße hier in Berlin. Damals drängten sich immer mehr Menschen hinter uns, die in den Fernsehnachrichten von der unmittelbar bevorstehenden Grenzöffnung gehört hatten. "

    Pfarrer Rainer Eppelmann, einst einer der Köpfe der kirchlichen Friedensbewegung in der DDR und Initiator der Bluesmessen versucht Schülern, die nach dem Fall der Mauer geboren wurden, seine Freude über das unblutige Ende der Diktatur zu vermitteln:

    "Die Uniformierten standen völlig verunsichert uns gegenüber und wussten nicht so recht, was sie machen sollten. Die stand nämlich das erste Mal ohne Kalaschnikow unbewaffneten Bürgern gegenüber und dann nach einiger Zeit des Wartens hoben wir den Schlagbaum einfach hoch und konnten die Grenze überqueren und stellen fest, dat war ja janz einfach! Wir beide blieben stehen und haben die schönste Nacht meines Lebens erlebt."

    Eppelmann, einst Vorsitzender der Enquetekommission des Deutschen Bundestages zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und heute Vorsitzender einer bundesunmittelbaren Stiftung mit dem gleichen Ziel, plädiert seit Jahren vehement dafür, das Ende der DDR als friedliche Revolution zu würdigen. Zu seinem Kummer gibt es nicht einmal einen klaren und konsensfähigen Begriff für den weltgeschichtlich bedeutenden Systemwechsel. Vielfach bevorzugt wird das Wort Wende, vom einstigen Hoffnungsträger der SED Egon Krenz in die Welt gesetzt - und von der vormaligen DDR-Opposition für untauglich befunden. Ebenso untauglich wie der Anspruch, Geschichte "bewältigen" zu wollen, befindet Marianne Birthler, die Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit:

    "Ich polemisiere ja immer gegen das Wort Bewältigung, weil es die Vergangenheit als so eine Art Feind darstellt, den man besiegen, möglichst kleinkriegen muss. Aber so ist ja Vergangenheit nicht. Sie begleitet uns ja, ist da, sie kann auch zum Freund werden. Zum aufarbeiten gehört ja auch das Trauern und das Jubeln und die Frage nach den Gedenktagen. Und Aufarbeitung ist ein sehr breiter Begriff, in dem emotionale und kognitive aber auch kulturelle Befassung mit dem Gegenstand Vergangenheit erfasst ist."

    Gerade die emotionale Befassung mit der Vergangenheit aber erscheint schwierig, vor allem, solange sie von weiten Teilen der Westdeutschen als ein ostdeutsches Phänomen begriffen werde, so Marianne Birthler.

    "Es ist nicht nur ostdeutsche Regionalgeschichte worüber wir hier sprechen, es ist gesamtdeutsche Geschichte. Nicht nur weil die Stasi im Osten und im Westen aktiv war, sondern weil es ganz enge Verbindungen gegeben hat, nicht zuletzt auch, weil sehr viele Menschen mit ostdeutschen Wurzeln mittlerweile im Westen leben, millionenfach. Also, man kann das gar nicht auf die ostdeutsche Geschichte beschränken."

    Was also tun - ein Jahr vor den Feierlichkeiten zum zwanzigsten Jahrestag der Maueröffnung? Der Historiker Christoph Klessmann warnt vor einem Übersättigungseffekt.

    "Ich kriege manchmal etwas kalte Füße, weil ich denke, es wird manchmal etwas übertrieben. Wenn man zuviel, wenn man also sozusagen so nen Overkill an Veranstaltungen macht, dann kann das zwar sehr ehrenwert in den Intentionen sein, aber der Effekt kann kontraproduktiv sein. Die Leute sind dann dermaßen überfüttert und wollen dann nichts mehr davon hören. Insofern wäre das auch ein Plädoyer für vorsichtige und differenzierte Zugänge, die allerdings sind nötig und die werden auch gemacht. "

    Siegfried Reiprich von der Gedenkstätte Hohenschönhausen zeigt sich optimistisch:

    "Hoffen wir mal, dass die Deutschen die Liebe zu ihrer eigenen demokratischen Tradition stärker entdecken."